Gestern wäre
ich fast an Selbstbewunderung und Zufriedenheit mit mir selbst gestorben.
Unsere Tochter kam vorbei und erzählte
anekd[eutscher]o[rientalisten]t[ag]isches und fragte mich bezüglich eines
Vortrags über Lemnisch, was das wohl sei. Vor dem Googlen meinte ich, es müsse
mit Lemnos zusammenhängen, vielleicht wäre es ein mir unbekanntes griechisch-türkisches
Creolisch, oder Griechisch mit einem semitischen Substrat. Der geographische
Volltreffer, d.h. die zu 10% richtige Antwort, entwickelte sich innerhalb
kürzester Zeit in meiner Vorstellung zu einem Hauptgewinn. Und wenn ich mich in
griechischen Dialekten auskennen würde, dann könnte ich darüber raisonieren, ob
die Grafitti der makedonischen Soldaten Alexanders des Großen in den Höhlen von
Antiparos den parischen Dialekt bis zu welchem Grade beeinflusst haben. Und ich
geriet ins Grübeln, wie der Dialekt der Insel Kos vor Bodrum genannt werden
würde, nach den sonstigen Bildungsregeln wohl „k-isch“, aber – dann doch
karisch?
Tatsächlich befand ich mich gestern ganz überwiegend in der Horizontale
und meine Einfälle purzelten vom Bett und hüpften wie Hartgummikugeln
unkontrollierbar durchs Zimmer. Und das Ganze begann vor einigen Tagen mit T.E.
Lawrence und meinen Bücherentsorgungsmaßnahmen, T.E. Lawrence, Selbstbildnis in Briefen. Herausgegeben
von David Garnett, Deutsch von Hans Rothe, München / Leipzig: Paul List Verlag
1948, welches ich mit großem Interesse bis etwa zur Hälfte, so um Seite 250
herum, las, um es dann meinem Schwiegersohn mit einer dicken Empfehlung in die
Hand zu drücken, obwohl ich T.E. Lawrence nicht einmal in seiner Rolle als
Peter O’Toole mag. Es waren die syrischen Burgen. Aber viel mehr noch war es,
dass ich nicht ergooglen konnte, warum E.M. Forster den Auftrag zur Herausgabe
dieses Bandes zurückgegeben hatte. Auch mein einer gewissen Anglophilie zu
verdankender Fundus an Gedrucktem noch nicht Entsorgtem – merkwürdig bei diesem
Wort fallen mir dann nicht so ganz passend Herrn Luckes Entartungen des
Parlamentarismus ein, was dann um einige Ecken vielleicht doch mit der
Entsorgung des Entarteten zu tun hat – half mir nicht weiter, und ich begann in
der Autobiographie David Garnetts zu blättern, deren erste zwei Bände ich vor
mehr als fünfzig Jahren erworben haben muss. Ein Datum ante quem ist das
Erscheinungsjahr des dritten Bandes 1962, den ich eben nicht besitze. Zuerst
hatte ich den Eindruck, David Garnett, dessen eleganten gemäßigt skurrilen
Kurzromane „Lady into fox/Meine Frau die Füchsin“ und „A man in the zoo/ Der
Mann im Zoo“ 1922 im Rororo-Bändchen Nummer 51 in der Übersetzung von Hans
Reisiger bzw. Maria von Schweinitz vereint und veröffentlicht worden waren,
fröhne in den beiden Bänden „The golden echo“ London: Chatto & Windus 1954
und „The flowers of the forest“ London: Chatto & Windus 1955 dem
literarischen Genre der Liste mit allzu vielen Namen vor allem aus der
Bloomsbury-côterie und wollte ihn schon bald, u.a. weil ich nur die Hälfte der
Namen wiedererkannte, gelangweilt beiseite legen, doch bin ich froh, nicht nur
wegen der Labour-Intellektuellen, sondern auch wegen der russischen Bezüge
wieder hineingesehen zu haben, am meisten vielleicht, weil ich bereits auf S. IX
des ersten Bandes „Intimations of Mortality by Way of Preface“ einem der
subtilsten agnostischen Zitate begegnete: „Yet meet we shall, and part, and
meet again / Where dead men meet, on lips of living men.“
(Samuel Butler, The Note-Books of Samuel Butler cf. ftp://pandemonium.tiscali.de/pub/gutenberg/etext04/nbsb10h.htm
(per exemple) Überdies fand ich auch einiges über die spezielle Beziehung von
T.E. Lawrence zu E.M. Forster.
Die Hartgummikugeln sprangen immer eifriger über den
Zimmerboden. Meine Mutter war gewiss gottgläubig, aber in der Tradition ihrer
Mutter wiederum eine energische Hasserin kirchlicher Organisiertheit. Und
dennoch war viele Jahre ihr wichtigstes mystisches Erlebnis die Karwoche im
Straßburger Münster, die sie offensichtlich 1926 als junge Frau Anfang zwanzig
durchlebt hatte, vielleicht mit Abstechern in die Thomaskirche zum Grabmal des
Maréchal du Saxe. Dieses Erlebnis wirkte bis zum Ende der fünfziger Jahre nach,
als sie Gelegenheit bekam, den Vormittag kniend in der Altarnische des
Hauptturmes von Ronchamp zu verbringen, in der man einen Zipfel der unendlichen
Wölbung des Himmels ergreifen kann. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie dies
etwa die nächsten zwei bis drei Jahrzehnte alle fünf Jahre für ihr Seelenheil
wiederholte, und es ihr genügte. Ich bin sicher die Formulierung Butlers hätte
sie gefesselt, und, was Ronchamp anbelangt, bin ich ihr in noch größeren Abständen
gefolgt, zuletzt vor vier Jahren.
Und natürlich hatte sie in ihrem unerschöpflichen Bündel von
Gedichten und Gedichtfetzen hinreichend Belege einmal für die vanitas unseres
Lebens. Wo aber steht bei Benjamin Disraeli, wenn auch offensichtlich von ihm:
„What is it, Life? – a little strife, where victories are vain, where those who
conquer do not win nor those receive who gain.“?
Den entsprechenden Trost fand sie bei Heinrich Heine im 20.
Kapitel des Romanzero:
(...)
„Boabdil el
Chico,“sprach sie,
„Tröste dich, mein Heißgeliebter,
Aus dem Abgrund deines Elends
Blüht hervor ein schöner Lorbeer.
„Tröste dich, mein Heißgeliebter,
Aus dem Abgrund deines Elends
Blüht hervor ein schöner Lorbeer.
„Nicht
allein der Triumphator,
Nicht allein der sieggekrönte
Günstling jener blinden Göttin,
Auch der blutge Sohn des Unglücks,
Nicht allein der sieggekrönte
Günstling jener blinden Göttin,
Auch der blutge Sohn des Unglücks,
„Auch der
heldenmütge Kämpfer,
Der dem ungeheuren Schicksal
Unterlag, wird ewig leben
In der Menschen Angedenken.“
Der dem ungeheuren Schicksal
Unterlag, wird ewig leben
In der Menschen Angedenken.“
(...)
Nimmer wird sein Ruhm verhallen,
Ehe nicht die letzte Saite
Schnarrend losspringt von der letzten
Andalusischen Gitarre.
Ehe nicht die letzte Saite
Schnarrend losspringt von der letzten
Andalusischen Gitarre.
Und dann gabe es noch die Verse 76 und 77 aus dem Håvamål:
76.
Døyr fe;
døyr frendar;
døyr sjølv det same.
Men ordet om deg
aldri døyr
vinn du eit gjetord gjævt.
77.
Døyr fe;
døyr frendar;
døyr sjølv det same.
Eg veit eitt
som aldri døyr,
dom om daudan kvar,
Døyr fe;
døyr frendar;
døyr sjølv det same.
Men ordet om deg
aldri døyr
vinn du eit gjetord gjævt.
77.
Døyr fe;
døyr frendar;
døyr sjølv det same.
Eg veit eitt
som aldri døyr,
dom om daudan kvar,
während sie den deutschen Stabreim in Vers 76 über „der
Toten Tatenruhm“ als anmaßendes und verlogenes Pathos empfand und viel zu eng
fand.
Ein weiteres waren die trostreichen dänischen Worte, als
1710 in der Bucht von Køge das Schiff Huitfeldts „fløy dit hvorfra flagget kom.“
(Jacob Breda Bull) oder eben , was ich nur noch vague erinnere: „da kan jeg kun
svare, det har ingen fare, de kommer jo hyllet i Dannebrog“, wenn man eigentlich
über ihren Tod weinen wollte.
Dann ließ ich mich wieder ablenken und kehrte lose zu David
Garnett zurück, weil ich mich zu erinnern meinte, ich könne „The sailor’s return“
von 1925 mit der Zigarettenmarke Player’s Navy Cut in Verbindung bringen.