Mittwoch, 25. Februar 2015

Houellebecq



Houellebecq, Michel, Unterwerfung. Köln: Dumont 22015 (ISBN 978-3-8321-96795-7)

Vom 07.02. bis 17.02.2015 lag ich mit einer Lungenentzündung und ziemlichen Herzbeschwerden in Berlin-Steglitz im Charitè-Klinikum Benjamin Franklin. Auf etwa halber Strecke schaffte ich es, neben der täglichen Zeitung –Tagesspiegel vom Klinikum, FAZ von zu Hause – das oben genannte Buch aus dem Fundus meiner Tochter zu lesen. Schon hier sei es gesagt: Ich habe das Buch nicht verschlungen, bereue aber keineswegs es gelesen und zur Kenntnis genommen zu haben. Es war so aktuell, dass man ihm immer wieder zustimmen konnte, so clairvoyant, dass man sich wunderte, die gleichen Wege nicht schon selbst und früher eingeschlagen zu haben. Was den besonderen Chic des Buches ausmachte, bemerkte ich erst so etwa auf Seite 169, dass nämlich, obwohl eine deutsche Übersetzung, wörtliche Rede in französische Anführungsstriche («(…)») gesetzt wurde, nicht aber in deutsche („(...)“) oder angelsächsische ( (...)). Nicht vergessen werden sollte das nicht ganz reine „grün“ des Einbandes, ein leicht verfärbtes Prophetengrün, passend zum Thema.
Ein einerseits nur Nebenthema, das dann im Verlauf einer „Unterwerfung“ unter die Verführung durch die sich ergebenden polygamen Möglichkeiten an Zentralität gewinnt, sind die sexuellen Bedürfnisse des Helden François, der nur mit seinem Vornamen auftritt, doch wohl das „ego“ des Autors ist. Die Beschreibungen der Beziehungen zu Myriam (S. 31), einer Jüdin (S. 91), die mit ihrer Familie vorsichtshalber nach Israel auswandert, der Beziehungen zu den Escorts Nadiamaghrebina (S. 163), Babeth die Schlampe (S. 164), Rachida, einer 22-jährigen Marokkanerin und Luisa, einer 24-jährigen Spanierin (S. 173) haben doch einen sehr schematischen Charakter, als hätte der Autor professionelle pornographische Literatur oder das Lehrbuch „Wie pornographiere ich?“ konsultiert, keineswegs unmittelbare Erfahrungen verarbeitet. Damit passt er zu Henry Miller, von dem Ayn Rand wohl zu berichten wusste, dass er seine sexuellen Fähigkeiten maßlos überschätzte, und zu David Herbert Lawrence, dessen Frieda sich anderwärts befriedigen musste. Hierzu passt auch der Hinweis auf das Haus in der Rue des Arènes No. 5, das der erste Rektor der muslimischen Sorbonne, Robert Rediger, bewohnt, wo früher jedoch Dominique Aury die „Geschichte der O“ schrieb. Hierzu passt auch die scheinbar soziologisch fundierte Bemerkung, dass der französische Mann, wenn er den Samenerguss nicht mehr zurückhalten kann „o, verdammt! O, verdammt!“ fluche, während der Amerikaner „o, God! O, Jesus Christ“ flehe. Mich erinnert dies an meine Lektüre während einer Studentenzeit in Freiburg. Nicht nur befriedigte ich meinen Nachholbedarf Dostojewski und Stifter betreffend, sondern es gab im Bücherfundus meiner Studentenbude auch mehrere Jahrgänge der Ullstein-Hefte aus den zwanziger Jahren, woraus ich eine „Quatschglosse“ bis heute nicht vergessen habe (entfernte Ähnlichkeit mit dem Unterleib Houellebecqs?). „Was fragt die Frau den Partner nach der ersten Nacht? Die Französin: Hast Du Dich auch amüsiert? Die Engländerin: Fühlst Du Dich jetzt besser? Die Amerikanerin: Jetzt kann ich endlich meine Zigarette zu Ende rauchen. Die Russin: Aberr meine Sälle bekommst Du nicht! Die Deutsche: Kannst Du mich jetzt noch achten?“ Im Sommer 1961 ergänzte eine schnippische junge Griechin auf Paros diesen Kanon um die Reaktion der Griechin: Sie sagt gar nichts, wartet auf das zweite Mal.
Ich frage mich überdies, warum neben der „ich“-Person nur diese fünf Frauen und zwei weitere Frauen, Alice, nicht mehr ganz jung,Hochschullehrerin von der Universität Lyon III, Spezialistin für Nerval und asexuell und doch mit Anklängen an das Wunderland gewürdigt und Sylvia, die Lebensgefährtin des Vaters in seinem Rentnerdasein und spätere Witwe, die ihn vielleicht beunruhigt, aber doch wenig sympathisch ist, auf ihren Vornamen beschränkt werden, während die männlichen Protagonisten entweder tatsächlich oder aber zumindest scheinbar mit vollem Namen ergoogelt werden könnten. Ist auch das eine Unterwerfung der anderen? Verführerisch und doch außerhalb der schmerzhafteren Unterwerfung findet sich auf S. 131 der von Marie-Françoise Tanneur bereitete  Saubohnensalat mit Löwenzahn und Parmesanraspeln.
Natürlich ist die Unterwerfung zunächst ein politischer Roman, der durch die Anschläge am 9. 1. 2015 auf Charlie Hebdo und Hyper Cacher allerdings zusätzliche Aktualität bekam und wohl auch ein wenig in eine falsche Ecke gestellt wurde. Die keineswegs abwegige Überlegung, dass sich in naher Zukunft die klassischen europäischen Gegensätze von links versus rechts überlebt haben werden – was übrigens eh schon der Fall ist wie man aus dem Bündnis der SYRIZA mit der ANEL des Panios Kammenos in Griechenland unschwer ersehen kann – und durch neue Koalitionen ersetzt werden müssen. Das geschieht in Frankreich – ich glaube mich zu erinnern im Jahre 2022, um einen Sieg des Front National zu vereiteln – mit der Präsidentschaft des Muslims Mohammed Ben Abbes, der jedoch nach Houellebecq eher der Wiedererstehung des mediterranen römischen Reiches anhängt als einer Islamisierung Frankreichs oder Europas. Mit Tariq Ramadan als eventuellem Rivalen oder eventueller Alternative zu Ben Abbes taucht in diesem Zusammenhang eine der vielen realen Gestalten bei Houellebecq auf, der jedoch wegen seiner Kontakte zu den Trotzkisten (S. 132) für die Bürgerlichen und Liberalen Europas nicht koalitionsfähig sei. Das ist, weil kein zentrales Interesse meinerseits, etwas, was ich auch mit ein bisschen „Googeln“ nicht beurteilen kann. Allerdings scheint mir trotz der muslimischen Wahlerfolge und deren Okkupation des Erziehungsbereichs (in Anlehnung an Fethullah Gülen?) und trotz des für Kapitel V gewählten Mottos aus dem Munde des Ayatollah Chomeini («wenn der Islam nicht politisch ist, ist er nichts.») die Darstellung der französischen (europäischen) Gesellschaft sehr viel wichtiger, weil bereits greifbarer, die verschwimmenden Grenzen, die uneindeutige bzw. zweideutige Haltung zahlreicher „Identitärer“ – übrigens ein gut gewählter plastischer Begriff, der mit „PEGIDA“ und deren diffuser Anhängerschaft unbedingt konkurrieren kann. Auffällig auch der schließlich ausschließliche Gebrauch des des Konjunktivs (oder des Futurs?) in der Übersetzung zumindest von S. 267 bis zum Schluss, wo es um die angeblich vor allem aus polygamen Gründen erfolgende Unterwerfung des Helden François unter das neue (muslimische) Bildungssystem geht.
Gut bis sehr gut gelungen scheint mir das Leitmotiv, das von Joris-Karl Huysmans, über den François promoviert worden ist, bestimmt wird. Hierzu beigetragen hat ganz bestimmt die in der Danksagung auf der letzten unpaginierten Seite genannte Agathe Novak-Lechevalier, Hochschullehrerin der Université Paris X – Nanterre. Zwar  kenne ich nicht die fanzösischen akademischen Usancen, doch entsteht auf jeden Fall ein mögliches reales Bild universitären Daseins.
Nach meiner Überzeugung handelt es sich um eine hoffentlich nicht ganz so schlimm eintreffende Kritik an der europäischen Gesellschaft, die durch die Einbeziehung vieler realer Gestalten an Schärfe gewinnt, nicht am Islam.


Montag, 23. Februar 2015

Drei Autorinnen und zwei männliche solche



Helene von Nostitz, Aus dem alten Europa. Rororo Taschenbuch Ausgabe September 1964. 154 S.

Auf einigen Internetseiten wird sie als „Saloniere“ bezeichnet, nach Wikipedia Falschschreibung für Salonnière. Auch wenn dies eine gebräuchliche, wenn auch offensichtlich seltener gebrauchte Bezeichnung zu sein scheint, hört es sich doch an wie eine weitere Liegestatt neben der Requamière und Ottomane, sicher ist aber gewiss, dass Helene von Nostiz zumindest in Berlin, Weimar und Dresden einen literarischen und künstlerischen Salon führte. Dies scheint in ihren Erinnerungen zu einem ein wenig zu heftigen name-dropping zu führen, wobei ebenso gewiss wiederum Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin offensichtlich nicht zu den droppings gehören. Dies mag auch für andere gelten, erkennbar wird es in den Erinnerungsskizzen nicht. In das Musée Rodin schleppte mich 1952 meine Mutter stundenlang, während meine von ihr weniger verwöhnte Schwester sich im Garten ausruhen durfte, von Hofmannsthal las ich 1957/58 wegen meiner ersten ernsthaften Tanzstundenfreundschaft, Rilke mochte ich nie, traf aber sein Denkmal im Garten des Hotels La Reina Victoria in Ronda – bei Helene von Nostitz wird nur Toledo aufgegriffen, als ich 1963 eigentlich auf den Spuren der „Vier Gerechten“ von Edgar Wallace wanderte.
Mein Flunsch beim Lesen verwandelte sich allerdings auf den Seiten 82 bis 102 in fast physische Schwermut. Die „Wiener Notizen aus den Kriegs- und Revolutionsjahren“ fanden selbst noch 1960 in Wien ihre Fortsetzung. Deswegen lohnte die Lektüre (für mich).

ElizabethBowen [1899-1973], The house in Paris. Harmondsworth: Penguin Books 1946 (11935) (Penguin Books 535) und
Rose Macauley [1881-1958], The world my wilderness. Harmondsworth: Penguin Books 1958 (11950) (Penguin Books 1257)

Mein Vater bedauerte, dass die Deutschen in der Regel nicht so erzählen können wie die Briten. Das scheint mir auch für diese Sterne zweiter Größe zuzutreffen. Dies dürfte die wichtigste Gemeinsamkeit dieser beiden Romane sein, auch wenn beide eine franco-britische Szenerie ausbreiten.
Mein Hauptproblem bei Frau Bowen war, wie man wohl auf Englisch den Familiennamen „Michaelis“ ausspreche. Ihre Hauptpersonen abgesehen von den Kindern Henrietta und Leopold, sind Karen Michaelis, Max und Naomi Fisher, und vielleicht wird Leopold aus dem menschlichen Durcheinander gerettet.
Bei Frau Macaulay ist der involviertePersonenkreis recht groß, auch wenn gewiss Barbary, das Mädchen mit den trostlosen (Vergewaltigung) und verantwortungslosen Erfahrungen aus dem Maquis die wichtigste ist. Unterschiedliche Charaktere und Schicksale stoßen kaum immer glücklich aufeinander. Die Seelenqualen bzw. Bewältigungsmechanismen sind offensichtlicher und universeller als bei den Personen Frau Bowens, die kaum jemals aus ihrem eigenen Schatten heraustreten.
Beide Bücher scheinen den Lebenserfahrungen und –weisen ihrer Autorinnen zuordenbar, was man vielleicht nicht sollte, aber durch ihre Offensichtlichkeit wird man zu dieser Konjunktion fast gezwungen.

Ein drittes Penguin Bändchen ist
Lionel Trilling [1905-1975], The middel of the journey. Harmondsworth: Penguin Books  1963 (1USA 1947) (Penguin Books 1923), ein intellektueller (Schlüssel)roman, dessen handelnde Personen nicht wirklich leben, sondern von des Gedankens Blässe leicht mumifiziert erscheinen.

Auch Siegfried Sassoon, Memoirs of a fox-hunting man. London – Paris: The Albatross Ltd. 1947 (4975), eingeordnet sub Purple Volumes: Biographies and historical novels, besser vieleicht aber als biographical novel zu benennen, mit den diskreten und dennoch intensiven Hintergrungsgeräuschen des Ersten Weltkriegs, ist dem Zahn der Zeit erlegen, nachdem der Block mehrfach gebrochen ist. Ebensowenig wie der Hinweis, dass eine solche Ausgabe not to be introduced into the British Empire or the U.S.A. ist, vermögen die Schäden dieses Exemplars, das gedämpfte Vergnügen bei der Lektüre zu mindern.

Noch einmal David Garnett



Aus David Garnett, The golden echo. London: Chatto & Windus 1954, S. 185-199

Die Mitglieder des Bloomsbury-Kreises scheinen in der Regel von Deutschland und dem „Deutschen“ nicht übermäßig begeistert gewesen zu sein, so auch David Garnett.

[Seine Mutter] Constance war sich bewusst, dass er seine Zeit verschwendete und entschied, ihn nach Deutschland zu schicken. Entweder Juliet oder Ford[1] schrieben an eine Großtante, die in Boppard am Rhein lebte, die ihrerseits die Witwe eines Majors der Preußischen Armee fand, die bereit war, ihn als zahlenden Gast aufzunehmen.
Er fuhr allein von Tilbury nach Rotterdam, bestieg dort einen kleinen holländischen Raddampfer, der langsam Rheinaufwärts fuhr und in jeder Stadt und in jedem Dorf an seinen Ufern hielt. Die Reise war wunderbar: das Wetter, heiß und sonnig; zu den Malzeiten bestellte er eine Flasche Niersteiner, wurde nett umsorgt von einer Engländerin, die einen Sohn in Eton hatte und sah sich um, genau so wie Brown, Jones oder Robinson auf ihrer berühmten Tour.[2]
Boppard ist eine saubere kleine Stadt mit geweißen Häusern und Schieferdächern. Es gibt keine mittelalterliche Burg, die im romantischen Glanz über der Stadt wacht, aber es gibt eine sympathische kleine mit Linden bestandene Uferpromenade, hinter denen Restaurants und Hotels über den Strom schauen. Weiter rückwärtig wird die Stadt von der Eisenbahn durchschnitten. Dann kommen die Weinbergterrassen und dahinter wiederum die Wälder des Hunsrücks.
Die Heiders wohnten in einem schrecklich hässlichen Ziegel- und Schieferhaus zwischen der Haupstraße und der Eisenbahn am Rande der Stadt. Weißer Staub stieg auf und senkte sich wieder, wenn ein Motorfahrzeug vorbeifuhr. Aber das Haus hatte einen Garten, an dessen Ende ein Gartenhaus stand, von wo man über die Eisenbahn schauen konnte, hinter der sich in einem scharfen Winkel der erste Weinberg erhob. Die vorbeifahrenden Züge füllten den Garten mt Rauch und Schmutz.
Am Bahnhof holte ihn Ferdinand mit einem Gesicht wie eine kleine Blase voller Schweinefett ab. Seine Augen waren farblos graublau, seine Haare farblos graubraun.
(186) Die Heiderfamilie bestand aus einer alten Großmutter, ihrer Tochter, der Frau Major, und zwei Söhnen, Wilhelm [3]und Ferdinand. Wilhelm war Leutnant der Infanterie, Berufssoldat, stationiert in Koblenz, aber oft auf Urlaub. Ferdinand sollte ebenfalls Soldat werden und hatte gerade sein Kadettenjahr begonnen. Beide liefen normalerweise in Uniform herum.
Die Heiders hatten zwei Dienstmädchen unter zwanzig, die sich gegen Mitternacht nach getaner Arbeit in das Dachstübchen zurückzogen und um fünf Uhr morgens wieder aufstanden. Wenn Ferdinand oder Wilhelm im kleinen Sommerhaus am Ende des Gartens saßen, stand neben ihnen eine kleine Handglocke, mit der sie nach einer Weile läuteten. Dann erschien Luise auf der Treppe vom Untergeschoss und eilte zu ihren Diensten.
„Bring mir Streichhölzer,“ würde er ohne aufzusehen sagen.
Nach einer halben Stunde würde er an seiner Zigarre ziehend wieder läuten und Luise atemlos wieder erscheinen.
„Bring mir ein Glas Wasser,“ und vorsichtig, um nicht einen Tropfen zu verschütten würde sie ein einzelnen Glas Wasser bringen. Wenn er mehr wollte, würde er wieder läuten, weil das Wasser so kühler war als wenn sie einen Krug gebracht hätte.
Es dauerte nicht lange, bis er Schwierigkeiten mit den Heiders bekam. Eines der ersten Themen, das Frau Heider ansprach, war die Religion. Ob er wünsche, die Familie zur Messe zu begleiten? Oder er Protestant sei, dann könne er die Lutherische Kirche besuchen.
Statt einfach zu sagen, dass er der Church of England angehöre, so dass er keinen der beiden Gottesdienste besuchen könne, antwortete er, dass er keiner der beiden Denominationen angehöre. Das erschütterte die Heiders für vierundzwanzig Stunden, in denen sie ihn genau beobachteten und ihre Kräfte sammelten. Die ganze Familie beteiligte sich am folgenden Kreuzverhör, das immer wieder von heftigen Diskussionen untereinander unterbrochen wurde.
War er ein Katholik? War er ein Protestant? War er ein Jude? Leider erkannte er das Wort nicht und erwartete (187) nicht die Frage, so dass seine Rückfragte: „Was ist ein Jude?“ (Was ist denn ein Jude?) nicht überzeugte, vielmehr klang, als sei er eben dies. Es folgte eine „Schnellfeuer“-Diskussion, in der Ferdinand legalistisch behauptete, David sei ein jüdischer Name und Garnett (Granat) ein Halbedelstein.
Diese Argumente wurden ihm vorgetragen. Er gab zu, dass David Jüdisch sei und er nach seinem Großvater mütterlicherseits genannt worden war, aber er verneinte energisch das Garnett jüdisch sei oder sein Name dafür ein Beweis sei.
Aber sei er denn kein Jude, bellten alle im Chor. Wie könne er als Nicht-Jude Heine lesen? Fragte Leutnant Heider.
David Garnett hatte gar nicht gewusst, dass Heine Jude war – nach seiner Dichtung hätte er an eine katholische Erziehung gedacht – und daher konnte er die Bedeutung der Frage nicht verstehen. Er antwortete, dass Heine ein großer Dichter sei – aber dann endete schließlich seine Geduld. Er tat so als höre er keine Fragen mehr und verließ bald darauf den Tisch, während die Heiders wie eine Schar Eichelhäher krähten, die eine Eule in einer Stechpalme entdeckt hatten. Er war wütend auf sie, sie waren es auf ihn. Denn obwohl ich nicht wie ein Jude aussah, schien er auch kein Christ zu sein. Möglicherweise hätten sie ihn gebeten, ihr Haus zu verlassen, wenn sich nicht das Gerücht von der Ankunft Ford Maddox Fords verbreitet hätte. Der berühmte Dichter wollte seine vornehme Großtante besuchen, und David Garnett war dazu gebeten worden. Gleichgültig, welche Lügen Ford erzählt haben mochte über seine deutsche Verwandtschaft – später schrieb er ein Buch, um zu beweisen, dass er Russisch sei, ohne deutsches Blut – so stand doch seine Großtante sozial weit über den Heiders und hatte ihn zum Tee eingeladen. Daher wurde meine Judenverfolgung abgeblasen.
Frau Goessen lebte in einer Stuckvilla mit einem Schieferdach und einen italienisierenden Turm auf einer Seite, aber es gab einen angenehmen Garten nach hinnten mit einer den Rasen beschattenden Zeder und einem hübschen Blick auf den Rhein. Eine alte Dame lag in einem Badestuhl und Ford stand neben ihr. Nach Violet Hunt,[4] hatten sie und Ford London wegen seiner Schulden verlassen, zweifellos wegen seiner Hauptschulden bei seinem Schneider, denn er war hervorragend (188) in einen sommerlichen Tweedanzug gekleidet mit einem Trauerflor am Arm, gleichzeitig wohl gekämmt und barbiert, mt grauem Kragenund parfümierten Tüchlein; unendlich eleganter als irgendein Deutscher in Boppard. Gleichzeitig machte er mit einer Teetasse in der Hand angenehme Konversation und zeigte seine Hasenzähne in seinem Haifischmaul.
Wie immer war er freundlich und herzlich zu David Garnett, und später, als sie sich von der alten Dame verabschiedeten, begleitete er den berühmten Dichter nach vorn, wo sie Violet Hunt trafen. Wir saßen und lauschtem dem Orchester, tranken eine Flasche Niersteiner, und Ford rauchte eine Zigarre und fächelte sich mit seinem Dufttüchelchen Luft zu. Dann sah man, wie sich der Dampfer flussaufwärts vorankämpfte, Ford und Violet gingen an Bord nach Assmannshausen-am-Rhein, nachdem sie ihn eingeladen hatten, sie dort eine Woche später zu besuchen.
Als ich nach Hauae kam, platzten die Heiders fast vor Neugier. Wie lang kenne er Ford? Kannten seine Eltern ihn ebenfalls? Wer war die Dame in seiner Begleitung? Nach Fords eigenem Axiom, dass „Wahrheit relativ sei“, gab ich befriedigende Antworten.
Ein eher verwirrender Bericht über diese Periode in Fords Leben erscheint in Violets Buch The Flurried Years.[5] Auch die Wahrheiten in diesem Buch sind relativ und der neugierige Leser wird daraus erfahren, dass Violet immer in Begleitung einer Gräfin war und Ford die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb, um den vakanten Familientitel annehmen und den unter gerichtlicher Aufsicht stehenden Besitz übernehmen zu können.
Die Wahrheiten Violet Hunts sind doppet verdreht, da sie die Erfindungen Fords noch einmal umformte, so dass sie zu dem Bild passten, dass sie von sich vermitteln wollte.
Aber Fords Großtante stand hoch genug in der Bopparder Hierarchie und es imponierte den Heiders, dass er bei ihr zum Tee eingeladen war. Kurz bevor jedoch mein Monat bei den Heiders zu Ende war, kamen wir wieder über Kreuz. Es kam plötzlich ein Brief von Maitland [Radford],[6] in dem er mitteilte, dass er ein Mädchen begleite, das sich Freunden in Mainz anschließen wolle, und er schlug vor, in Boppard Station zu machen (S. 189) und eine zwei- oder dreitägige Wanderung zu unternehmen, bevor er sich ihr wieder anschlösse.
David Garnett fing an, Erfahrungen zu sammeln und sagte nichts von Maitlands Begleitung, nur, dass sein Freund Maitland Radford kommen werde und vorgeschlagen habe, mit ihm eine drei- oder viertägige Wanderung zu unternehmen. Zuerst waren die Heiders beeindruckt, dann allerdings wie das Vieh auf einer Weide, auf die sich ein Hund oder eine Katze verirrt hatten, kamen sie, um herauszuschnüffeln, was für eine merkwürdige Figur das sein könne, und die Gespräche verliefen folgendermaßen: War der Freund ein Adliger? Nein! Aber nur der Adel – und dies vor allem in England – hatte doch Doppelnamen. Nein! Jeder in England konnte einen Doppelnamen haben, und außerdem sei Maitland nicht sein Familienname, sondern sein Vorname, er sei nach seiner Mutter, einem Fräulein Maitland benannt. Wie wir behauptet haben, ist es ein Familienname, und diese sind adliger Geburt. Nein! Was ist Herrn Maitland Radfords Vorname? Maitland. Nach welchem Heiligen ist er benannt? Sein Vorname ist Maitland. Er hat keinen anderen (was vielleicht nicht stimmte).
Es entstand eine schreckliche Stille, eine Welle des Schreckens strömte durch alle Anwesenden, während David Garnett sich wunderte, was er falsch gemacht habe. Zuletzt fragte die Frau Major streng. Gibt es denn keinen Christus?
Der Schrecken der Heiders darüber, dass Maitland einen Namen trug, der nicht auf der offiziellen [christlichen] Namensliste aufgeführt war, war so groß, dass Frau Major versuchte, die geplante Wanderung zu verbieten oder Boppard zu verlassen, worauf David Garnett erwiderte, dass er in jedem Fale Boppard verlassen werde.
Es war ein Sonnabend. Am morgen kam ein Laster mit Kohlen, aber statt die Kohlensäcke in den Keller zu tragen, kippten sie zwei t kleiner Kohlenstücke auf den Bürgersteig und in den Abtritt vor der Haustür. Es sah so aus als erwarteten sie ein Trinkgeld, um die Säcke in den Kohenkeller zu tragen, (S. 190) aber die Frau Majorin hatte zwei Dienstmädchen zur Verfügung und ließ sich von den Kohlenträgern nicht bestechen.
Anna, die Köchin, etwa neunzehn, und Luise, etwa sechzehn, fingen dann an, zu zweit Kohlen um das Haus herum in den Kohlenkeller zu tragen. Es war ein heißer Nachmittag, ziemlich feucht und windstill, wie so oft im Rheinland. Die beiden Mädchen schaufelten die Kohle in einen Korb und trugen ihn gemeinsam. Sie arbeiteten von Mittag bis spät in die Dunkelheit, und bevor sie zu Bett gingen fegten und schrubbten sie den Bürgersteig mit Wasser, damit es am Sonntagmorgen keinen Kohlenstaub auf der Straße geben sollte.
Ferdinand und Wilhelm saßen im Sommerhaus am Ende des Gartens und rauchten. Bei einer Gelegenheit benutzte Wilhelm die Glocke, und die Mädchen, die mit dem Kohlenkorb kamen, zögerten wie zu oft geschlagene Pferde und setzten ihn nieder.
Aber Frau Major, die sie genau beobachtete, gab einen scharfen Befehl und watschelte nach einem kurzen Augebblick hinaus zum Sommerhaus. David Garnett hörte nicht, was gesagt wurde, aber er konnte sich vorstellen, dass die Söhne ihre Entschuldigung akzeptierten, da sie ins Haus zurückschlurfte und mit zwei Gläsern Wasser auf einem Tablett zurückkam. Wilhelm und Ferdinand – daran muss man denken – waren in Uniform. Es hätte sich nicht geschickt, sich selber zu bedienen. [Stranger it seems that David Garnett without uniform did not move a finger for anybody.]
Am nächsten morgen kam Maitland und wir hatten in einem reizenden Restaurant zusammen ein Abendessen. Nachdem wir unseren Kaffee nach einem Abendessen, das eine wohltuende Abwechslung von der täglichen Pflaumensuppe mit Essig, gekochter Wurst, Sauerkraut und Klößen bei Heiders war, schlenderten Maitland und David Garnett durch die Stadt. Ein Orchester spielte.
Maitland erkannte die Walzertakte: „Es wird auf der Straße getanzt.“ Er hatte recht und als sie sich dem Tanz anschlossen, sahen sie fast sofort Anna und Luise. Die schwitzenden Kohlenträgerinnen des vorigen Abends waren jetzt frische und angenehme Bauernmädchen in ihren besten Röcken. Und wenig später tanzten sie mit ihnen.
Als David Garnett am nächsten morgen die Sachen packte, die er (S.191) nach Heidelberg voraus schicken wollte, schlich sich Luise unter dem Vorwand, sein Bett mmachen zu wollen, in sein Zimmer. Der Vorwand war aber ein sehr dünner, denn bald hielt er sie in seinen Armen, hatte sie bis zur Taille entkleidet und küsste ihre Brüste. Dann aber läutete die Glocke aus dem Sommerhaus. Luise entglitt panisch seinen Armen, machte sich zurecht und glitt aus sem Zimmer. Nie sah er sie wieder.


[1] Ford Madox Ford (Ford Hermann Hueffer). From Wikipedia, the free encyclopedia (aufgerufen 2.Oktober 2013).

[2] Doyle, Richard ,The foreign tour of Messrs. Brown, Jones, and Robinson : being the history of what they saw, and did, in Belgium, Germany, Switzerland & Italy. London : Bradbury & Evans 1854

[3] Heider, Wilhelm, Militär *14.12.1884 Köln †27.3.1966 Wiesbaden. 1904 Militärdienst, 1905 Leutnant 1913 Oberleutnant, 1914 Hauptmann, 1918–1919 brit. Kriegsgefangenschaft, 1920 Abschied, 1935 Major, 1939 Oberstleutnant, 1942 Oberst, 1944 Generalmajor, 1945–1948 brit. Kriegsgefangenschaft. (www.bundesarchiv.de/.../1919...1/para2_305.html) (aufgerufen 6. Oktober 2013) Ist das der?

SOME OF THE PRISONERS HELD AT SPECIAL CAMP 11: NAME: Generalmajor Wilhelm Heider. PW NO: 560276, RANK: Generalmajor, CAPTURED: Luebeck, DATE: 3rd May 1945, PERSONAL: DATE OF BIRTH: 14th December 1884, PLACE OF BIRTH: Koeln / Rhein, DATE OF DEATH:  27 March 1966, PLACE OF DEATH: Wiesbaden, NATIONALITY: German, RELIGION: Roman Catholic, OCCUPATION: Regular Soldier, HEIGHT: 6'1", WEIGHT: 150lbs, HAIR COLOUR: Dark Brown, EYE COLOUR: Blue, NEXT OF KIN: Elisabeth Heider, (British Zone). Promotions: One-Year Volunteer: 1 April 1904, Fahnenjunker: 28 August 1904, Fähnrich: 15 November 1904, Leutnant: 1 August 1905 (Patent 17 February 1904), Oberleutnant: 21 February 1913, Hauptmann: 24 December 1914, Major (E): 1 November 1935 (RDA 1 February 1934), Oberstleutnant: 1 August 1939, Oberst: 1 February 1942, Generalmajor: 1 March 1944. Commands & Assignments: 1 April 1904: Entered Army service as a One-Year Volunteer in the Garde-Füsilier-Regiment. 28 August 1904: Named a Fahnenjunker in the 6. Rheinisches Infanterie-Regiment Nr. 68. 1 August 1908-31 July 1912: Adjutant of the I. Battalion of Infantry Regiment 68. 1 October 1912-21 July 1914: Detached to the War Academy. 13 August 1914: Court Officer in Infantry Regiment 68. 4 September 1914: Regimental Adjutant of Infantry Regiment 68. 19 December 1914: Adjutant of the 30th Infantry Brigade. 1 April 1916: Ordnance Officer on the staff of the 15th Infantry Division. 9 May 1916: Transferred to a General Staff position in Army High Command 7. 7 September 1916: While retaining his previous position, transferred into the General Staff of the Army. 4 October 1916: Deputy Operations Officer (Ia) on the staff of the 15th Infantry Division. 1 November 1916: Transferred to the General Staff of Army High Command 7. 16 December 1916: Operations Officer (Ia) on the staff of the 17th Infantry Division. 19 February 1918: Operations Officer (Ia) on the staff of the 46th Reserve Division. 1 July 1918: Transferred to the General Command of XII Army Corps. 4 July 1918: Commander of the II. Battalion of Reserve Infantry Regiment 51. 2 September 1918: Prisoner of war in British captivity. 29 December 1919: Released from captivity and transferred to the Processing Establishment of Infantry Regiment 68. 31 March 1920: Separated from the Army. 1 November 1935: Returned to Army service as a Supplemental Officer with the rank of Major and assigned as a Group Leader to the Regional Recruitment Inspectorate Dortmund. 17 November 1936: Detached to the General Staff of the General Command of VI Army Corps, Münster. 1 April 1937: Assigned as Group Leader (Ib) in the General Staff of the VI Army Corps, Münster. 26 August 1939: Group Leader (Ib) in the General Staff of the Deputy General Command of VI Army Corps, Münster. 31 October 1939: Detached to the General Staff of the Army. 20 April 1940: Transferred into the General Staff of the Army. 25 October 1940: Chief of the General Staff of the Deputy VI Army Corps (Wehrkreis VI), Münster. 1 April 1941: Reactivated. 15 December 1943: Führer Reserve. 20 December 1943: Chief of the General Staff of the Military Commander of Belgium and Northern France (General der Infanterie z.V. Alexander von Falkenhausen). 18 July 1944: Chief of the General Staff of the Armed Forces Commander Belgium-Northern France. 25 August 1944: Führer Reserve. 1 September 1944-5 May 1945: Chief of the General Staff of Fortress Area East / C-D-Linie to Generaloberst Adolf Strauß. 5 May 1945-17 May 1948: Prisoner of war in British captivity. 9th January 1946 transferred to Island Farm Special Camp 11 from Camp 1. 12th May 1948 transferred to Camp 186 for repatriation. Decorations & Awards (included): Prussian Royal Hohenzollern House Order, Knight’s Cross with Swords Prussian Iron Cross, 1st Class (1914), Prussian Iron Cross, 2nd Class (1914), War Merit Cross, 1st Class with Swords, War Merit Cross, 2nd Class with Swords, Mecklenburg-Schwerin Military Merit Cross, 1st Class, Mecklenburg-Schwerin Military Merit Cross, 2nd Class, Cross of Honor for Combatants 1914-1918, Armed Forces Long Service Awards


[4] en.wikipedia.org/wiki/Violet_Hunt (aufgerufen 11. Oktober 2013).
[5] London: Hurst & Blackett 1926, das Jahr 1910, S. 116-145, u.a. mit einer Abb. der Villa in Boppard.
[6] Poems by Maitland Radford, with a memoir by some of his friends. London: G. Allen and Unwin ltd, 1945.