ŠEVČENKO
Aus
Krankheitsgründen und technischer Unfähigkeit habe ich mich lange nicht mehr
gemeldet. Daher sind die folgenden Anmerkungen zwei bis acht Monate alt.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.
Juli 2014 bringt auf S. 2 einen Artikel von Reinhard Veser „Männer mit viel Erfahrung“ über einige
Separatistenführer in der Ostukraine, u.a. über Wladimir Antjufejew, gegen den
ein internationaler Haftbefehl vorliegt, da er nach Ansicht der
Staatsanwaltschaft in Riga für die Tötung von Teilnehmern der lettischen
Unabhängigkeitsbewegung 1991 verantwortlich ist. „Antjufejew leugnet das nicht,
stellt es aber anders dar: Er habe ‚aktiv am Widerstand gegen den entstehenden
Nationalfaschismus‘ teilgenommen,“ und über Igor Besler. „Der staatlichen
russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti sagte ‚Bes‘ vergangene Woche: ‚Bei
uns gilt das Gesetz: Nazis nehmen wir nicht als Gefangene.‘“ Einen Joker haben
solche „Helden“ noch in der Hinterhand, die deutsche Willkürherrschaft über die
Ukraine von 1941-1944 unter dem Gauleiter Erich Koch
und seinem Stellvertreter Paul Dargel,
was ihnen scheinbar die Erlaubnis gibt, den Holodomor zu verdrängen.
Man muss
diesen Herren zugestehen, dass sie für die Gegner des russischen bzw.
kürzlichen sowjetischen Schein-Internationalismus Bezeichnungen gebrauchen, die
es uns schwer machen, für diese einzutreten. Eine gewisse Hilfe könnte es sein,
wenn wir vielleicht gelegentlich den Gegnern eine patriotische und nicht sofort
eine nationalistische (rechte, extremrechte usw.) Einstellung zuschreiben
würden, ganz zu schweigen davon, dass wir seit längerem das
Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einem erhabenen Grundsatz erklärt haben,
also ebenso gut, vielmehr sogar besser diese Bezeichnung zunächst zumindest
selber gebrauchen könnten, bis wir uns davon haben überzeugen können, was für
Gestalten dies tatsächlich sind. Es ist klar, dass es schwarze Schafe jeglicher
Couleur gibt. Überdies gibt es aber auch eine behauptete Interpretationshoheit
des Stärkeren. Gelegentlich sollte aber im Sinne Mao Zedongs der Stein, den sie
werfen, ihnen auf die eigenen Füße fallen. Weißrussland und die Ukraine
gehörten auf Drängen der UdSSR, die noch mehr wollte, zu den
Gründungsmitgliedern der UNO am 27. April 1945, obwohl sie noch weniger autonom
waren als es heutzutage die zumindest vorläufig nicht in die UNO aufgenommene
palästinensische Autonomiebehörde ist.
Leider bin ich alles andere als ein
Fachmann für die Ukraine und die ukrainischen Zustände, bin aber zumindest am
Rande mit ihr aufgewachsen, ohne im späteren Leben die weitere Entwicklung
verfolgt zu haben. Dennoch scheint mir selbst der im Folgenden zitierte
inzwischen historische Text einiges vom ukrainischen Selbstverständnis und
kulturellen Selbstbehauptungswillen zu erklären. Es ist ein „Flyer“, der
wahrscheinlich mit der Teilveröffentlichung der ukrainischen Enzyklopädie
verschickt wurde. Aus meiner Kindheit bzw. schon Jugend stammt der fraglos
parteiische, aber zivilisierte und sympathische Band L’Ukraine dans le cadre de l’est européen mit Beiträgen von I. Mirtchouk, J. Leclerq, A. Choulguine,
R. Yakemtchouk, P. de Visscher, I. Leskovytch, L. Dupriez,
M. Wasyliw, F. Gregoire, A. Koultchytskyi. Louvain: Éditions Nauwelaerts – Paris:
Béatrice-Nauwelaerts 1957 (Recueil de l’Université Ukrainienne Libre de Munich),
geeignet als keineswegs unbegründet wohlwollende Einführung in die ukrainische
Zivilisation.
ŠEVČENKO-Gesellschaft
der Wissenschaften 1873 – 1948
Indem wir
Ihnen unsere erste Publikation nach einer Pause von zehn Jahren übersenden, die
durch den Krieg und die Nachkriegssituation in unserem Vaterlande hervorgerufen
war, halten wir es für nötig, Ihnen vorher einige historische Tatsachen in Erinnerung
zu bringen.
Die Ševčenko-Gesellschaft
der Wissenschaften ist im Jahre 1873 in Lemberg (West-Ukraine) entstanden, das
damals das Verwaltungszentrum der österreichischen Provinz Galizien war. Sie
vereinte inihren Reihen die ukrainischen Gelehrten und erfüllte lange Zeit
unter der bescheidenen Bezeichnung einer wissenschaftlöichen Gesellschaft die
große Mission einer ukrainischen Akademie.
Diese
Mission war schwerer und verantwortungsvoller als bei ähnlichen Institutionen
anderer Völker. Die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften war auf dem Gebiet
der wissenschaftlichen Arbeit der Wortführer des damals in der ganzen weiten
Welt unbekannten und nicht anerkannten ukrainischen Volkes, der Hüter seines
Rechts und seines Strebens nach Freiheit und Selbständigkeit. Im ersten
Weltkrieg hatte sich die Ukraine mit den Waffen ihres Geistes und ihres Heeres
in der Welt einen Namen erstritten, aber nach einer kurzen Periode der
Selbständigkeit geriet sie in die Knechtschaft der Sowjets. Der
Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, die damals außerhalb des
Bereichs des Sowjetregimes lag, fiel abermals die Rolle eines Wortführers der
ukrainischen Wissenschaft zu, die unter diesem Regime unmöglich war.
Das
Schicksal der Gesellschaft ist tragisch wie das des Volkes, dessen Wissenschaft
sie repräsentiert. Niemals hat sie eine wohlwollende Unterstützuung eines Staates
gehabt. Zuerst arbeitete sie unter dem gleichgültigen Österreich (bis zum Jahre
1918), dann in dem offen abgeneigten Polen. Während des zweiten Weltkrieges
haben die Bolschewiken, die damals Lemberg eingenommen hatten, im Jahre 1940
die Tätigkeit der Gesellschaft einstellen lassen und sie in eine Filiale der
sowjethörigen Kiewer Akademie der Wissenschaften umgewandelt. Die deutsche
nationalsozialistische Besatzungsbehörde hat die Wiederaufnahme der Tätigkeit
der Gesellschaft 1941 – 1944 nicht gestattet. Die neue bolschewistische
Okkupation vertrieb die Mehrzahl der wirklichen Mitglieder der Gesellschaft aus
ihrem Vatrelande. Sie befanden sich zum größten Teil in der Emigration, nahmen
am 30.3.1947 die Tätigkeit der Gesellschaft der Wissenschaften wieder auf und
dokumentieren hiermit die Wiederaufnahme der bisherigen Arbeiten und
Publikationen.
In der Zeit
ihres Bestehens hat die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften rund 600 Bände
wissenschaftlicher Publikationen herausgegeben, die das Ergebnis der Arbeit in
ihren Sektionen waren, in der Philologischen, der Historisch-philosophischen
und der Mathematisch-naturwiisenschaftlich-medizinischen. In Lemberg, ihrem
Heimatsitz, hatte die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften eine große
wissenschaftliche Bibliothek von Büchern und Handschriften organisiert (207.923
Bücher und 1.485 Handschriften) drei kulturhistorische Museen geschaffen
(73.000 Exponate, an die 100 archaeologischen Ausgrabungen), ein
naturwissenschaftliches Museum und ein Museum kriegsgeschichtlicher Denkmäler.
Diese Institutionen sind zu unvermeidlichen Arbeitsstätten der Ukrainekunde
geworden.
Die
Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften hat lebendige Verbindungen mit der
ganzen Welt angeknüpft. Unter ihren wirklichen Mitgliedern waren viele Ausländer
(55), darunter Wissenschaftler von Weltruf. Tauschverbindung durch seine
Publikationen hat die Gesellschaft mit 224 Institutionen unterhalten (mit
Akademien der Wissenschaften, Universitäten, wissenschaftlichen
Verlagsanstalten) in 90 Städten und 28 Staaten Europas, Amerikas und Asiens.
Heute nimmt
die wiederaufgelebte Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften – bei allen
Schwierigkeiten und Beengungen des Lebens in der Emigration, aber unter
Ausnutzung der Freiheit, die sie in der freien Welt besitzt, – ihre durch den
Krieg und die Nachkriegszersetzung unterbrochene Arbeit wieder auf.
Sie gibt
sich die Ehre, Ihnen die ersten Ergebnisse dieser Arbeit – d.h. die ersten
Emigrationspublikationen,[1]
zu übersenden, die aber gleichzeitig die Fortsetzung eines mehr als
sechshundert Bände umfassenden Arbeitsertrages während ihres 75-jährigen
tätigkeitsreichen Bestehens bilden. Gleichzeitig bittet sie Sie, den
Publikationstausch wiederaufnehmen zu wollen und Ihre Publikationen an die
untenstehende vorläufige Adresse der Gesellschaft abzusenden:
Ševčenko-Gesellschaft
der Wissenschaften
München
Versailler-Straße 4/I[2]
In der gestrigen FAZ (vom
15.12.2014) gab es einen Artikel von Timothy Snyder „Als Stalin Hitlers
Verbündeter war“, in dem es u.a. heißt, dass von der russischen Propaganda der
„dekadente“ Westen aufgefordert wird, „zur Kennntis zu nehmen, dass es keine
ukrainische Nation gebe, dass aber alle Ukrainer Nationalisten seien; dass es
keinen ukrainischen Staat gebe, aber seine Organe Unterdrückung betrieben; dass
es keine ukrainische Sprache gebe, aber Russen gezwungen würden, sie zu
sprechen“. Fraglos eine sehr pointierte Formulierung, aber darum nicht weniger
zutreffend. In der gestrigen Sendung „Hart aber fair“ war es, glaube ich, Herr
Stoiber, der vom Nachbarn Russland sprach, den man verstehen und
berücksichtigen müsse. Auch wenn es nicht Herr Stoiber gewesen sein sollte,
sondern ein anderer aus der Runde, so zeigt dies doch das unterentwickelte
Interesse an den wirklichen Nachbarn Russlands. Um die Sprachverwirrung zu
vervollkommnen, so wird sehr oft von dem immensen Leid gesprochen, das
Deutschland Russland zugefügt habe. Das trifft gewiss zu, wenn man von der
Sowjetunion spräche. Abgesehen von Leningrad waren die vom deutschen Überfall
betroffenen Gebiete vor allem Weißrussland und die Ukraine (In dieser Hinsicht
gab es einen aufmerksamen Leserbrief vor einigen Tagen in der FAZ.)
Heute, am 16.12. wird übrigens
in der FAZ die „Kleine Geschichte der Ukraine“ von Andreas Kappeler – ich würde
sagen – sehr gelobt. Versuchen sollte man sie auf jeden Fall.
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