Montag, 23. Februar 2015

ŠEVČENKO



ŠEVČENKO

Aus Krankheitsgründen und technischer Unfähigkeit habe ich mich lange nicht mehr gemeldet. Daher sind die folgenden Anmerkungen zwei bis acht Monate alt.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juli 2014 bringt auf S. 2 einen Artikel von Reinhard Veser „Männer mit viel Erfahrung“ über einige Separatistenführer in der Ostukraine, u.a. über Wladimir Antjufejew, gegen den ein internationaler Haftbefehl vorliegt, da er nach Ansicht der Staatsanwaltschaft in Riga für die Tötung von Teilnehmern der lettischen Unabhängigkeitsbewegung 1991 verantwortlich ist. „Antjufejew leugnet das nicht, stellt es aber anders dar: Er habe ‚aktiv am Widerstand gegen den entstehenden Nationalfaschismus‘ teilgenommen,“ und über Igor Besler. „Der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti sagte ‚Bes‘ vergangene Woche: ‚Bei uns gilt das Gesetz: Nazis nehmen wir nicht als Gefangene.‘“ Einen Joker haben solche „Helden“ noch in der Hinterhand, die deutsche Willkürherrschaft über die Ukraine von 1941-1944 unter dem Gauleiter Erich Koch und seinem Stellvertreter Paul Dargel, was ihnen scheinbar die Erlaubnis gibt, den Holodomor zu verdrängen.

Man muss diesen Herren zugestehen, dass sie für die Gegner des russischen bzw. kürzlichen sowjetischen Schein-Internationalismus Bezeichnungen gebrauchen, die es uns schwer machen, für diese einzutreten. Eine gewisse Hilfe könnte es sein, wenn wir vielleicht gelegentlich den Gegnern eine patriotische und nicht sofort eine nationalistische (rechte, extremrechte usw.) Einstellung zuschreiben würden, ganz zu schweigen davon, dass wir seit längerem das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einem erhabenen Grundsatz erklärt haben, also ebenso gut, vielmehr sogar besser diese Bezeichnung zunächst zumindest selber gebrauchen könnten, bis wir uns davon haben überzeugen können, was für Gestalten dies tatsächlich sind. Es ist klar, dass es schwarze Schafe jeglicher Couleur gibt. Überdies gibt es aber auch eine behauptete Interpretationshoheit des Stärkeren. Gelegentlich sollte aber im Sinne Mao Zedongs der Stein, den sie werfen, ihnen auf die eigenen Füße fallen. Weißrussland und die Ukraine gehörten auf Drängen der UdSSR, die noch mehr wollte, zu den Gründungsmitgliedern der UNO am 27. April 1945, obwohl sie noch weniger autonom waren als es heutzutage die zumindest vorläufig nicht in die UNO aufgenommene palästinensische Autonomiebehörde ist.
Leider bin ich alles andere als ein Fachmann für die Ukraine und die ukrainischen Zustände, bin aber zumindest am Rande mit ihr aufgewachsen, ohne im späteren Leben die weitere Entwicklung verfolgt zu haben. Dennoch scheint mir selbst der im Folgenden zitierte inzwischen historische Text einiges vom ukrainischen Selbstverständnis und kulturellen Selbstbehauptungswillen zu erklären. Es ist ein „Flyer“, der wahrscheinlich mit der Teilveröffentlichung der ukrainischen Enzyklopädie verschickt wurde. Aus meiner Kindheit bzw. schon Jugend stammt der fraglos parteiische, aber zivilisierte und sympathische Band L’Ukraine dans le cadre de l’est européen mit Beiträgen von I. Mirtchouk, J. Leclerq, A. Choulguine, R. Yakemtchouk, P. de Visscher, I. Leskovytch, L. Dupriez, M. Wasyliw, F. Gregoire, A. Koultchytskyi. Louvain: Éditions Nauwelaerts – Paris: Béatrice-Nauwelaerts 1957 (Recueil de l’Université Ukrainienne Libre de Munich), geeignet als keineswegs unbegründet wohlwollende Einführung in die ukrainische Zivilisation.

ŠEVČENKO-Gesellschaft der Wissenschaften 1873 – 1948
Indem wir Ihnen unsere erste Publikation nach einer Pause von zehn Jahren übersenden, die durch den Krieg und die Nachkriegssituation in unserem Vaterlande hervorgerufen war, halten wir es für nötig, Ihnen vorher einige historische Tatsachen in Erinnerung zu bringen.
Die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften ist im Jahre 1873 in Lemberg (West-Ukraine) entstanden, das damals das Verwaltungszentrum der österreichischen Provinz Galizien war. Sie vereinte inihren Reihen die ukrainischen Gelehrten und erfüllte lange Zeit unter der bescheidenen Bezeichnung einer wissenschaftlöichen Gesellschaft die große Mission einer ukrainischen Akademie.
Diese Mission war schwerer und verantwortungsvoller als bei ähnlichen Institutionen anderer Völker. Die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften war auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Arbeit der Wortführer des damals in der ganzen weiten Welt unbekannten und nicht anerkannten ukrainischen Volkes, der Hüter seines Rechts und seines Strebens nach Freiheit und Selbständigkeit. Im ersten Weltkrieg hatte sich die Ukraine mit den Waffen ihres Geistes und ihres Heeres in der Welt einen Namen erstritten, aber nach einer kurzen Periode der Selbständigkeit geriet sie in die Knechtschaft der Sowjets. Der Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, die damals außerhalb des Bereichs des Sowjetregimes lag, fiel abermals die Rolle eines Wortführers der ukrainischen Wissenschaft zu, die unter diesem Regime unmöglich war.
Das Schicksal der Gesellschaft ist tragisch wie das des Volkes, dessen Wissenschaft sie repräsentiert. Niemals hat sie eine wohlwollende Unterstützuung eines Staates gehabt. Zuerst arbeitete sie unter dem gleichgültigen Österreich (bis zum Jahre 1918), dann in dem offen abgeneigten Polen. Während des zweiten Weltkrieges haben die Bolschewiken, die damals Lemberg eingenommen hatten, im Jahre 1940 die Tätigkeit der Gesellschaft einstellen lassen und sie in eine Filiale der sowjethörigen Kiewer Akademie der Wissenschaften umgewandelt. Die deutsche nationalsozialistische Besatzungsbehörde hat die Wiederaufnahme der Tätigkeit der Gesellschaft 1941 – 1944 nicht gestattet. Die neue bolschewistische Okkupation vertrieb die Mehrzahl der wirklichen Mitglieder der Gesellschaft aus ihrem Vatrelande. Sie befanden sich zum größten Teil in der Emigration, nahmen am 30.3.1947 die Tätigkeit der Gesellschaft der Wissenschaften wieder auf und dokumentieren hiermit die Wiederaufnahme der bisherigen Arbeiten und Publikationen.
In der Zeit ihres Bestehens hat die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften rund 600 Bände wissenschaftlicher Publikationen herausgegeben, die das Ergebnis der Arbeit in ihren Sektionen waren, in der Philologischen, der Historisch-philosophischen und der Mathematisch-naturwiisenschaftlich-medizinischen. In Lemberg, ihrem Heimatsitz, hatte die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften eine große wissenschaftliche Bibliothek von Büchern und Handschriften organisiert (207.923 Bücher und 1.485 Handschriften) drei kulturhistorische Museen geschaffen (73.000 Exponate, an die 100 archaeologischen Ausgrabungen), ein naturwissenschaftliches Museum und ein Museum kriegsgeschichtlicher Denkmäler. Diese Institutionen sind zu unvermeidlichen Arbeitsstätten der Ukrainekunde geworden.
Die Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften hat lebendige Verbindungen mit der ganzen Welt angeknüpft. Unter ihren wirklichen Mitgliedern waren viele Ausländer (55), darunter Wissenschaftler von Weltruf. Tauschverbindung durch seine Publikationen hat die Gesellschaft mit 224 Institutionen unterhalten (mit Akademien der Wissenschaften, Universitäten, wissenschaftlichen Verlagsanstalten) in 90 Städten und 28 Staaten Europas, Amerikas und Asiens.
Heute nimmt die wiederaufgelebte Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften – bei allen Schwierigkeiten und Beengungen des Lebens in der Emigration, aber unter Ausnutzung der Freiheit, die sie in der freien Welt besitzt, – ihre durch den Krieg und die Nachkriegszersetzung unterbrochene Arbeit wieder auf.
Sie gibt sich die Ehre, Ihnen die ersten Ergebnisse dieser Arbeit – d.h. die ersten Emigrationspublikationen,[1] zu übersenden, die aber gleichzeitig die Fortsetzung eines mehr als sechshundert Bände umfassenden Arbeitsertrages während ihres 75-jährigen tätigkeitsreichen Bestehens bilden. Gleichzeitig bittet sie Sie, den Publikationstausch wiederaufnehmen zu wollen und Ihre Publikationen an die untenstehende vorläufige Adresse der Gesellschaft abzusenden:
Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften
München
Versailler-Straße 4/I[2]

In der gestrigen FAZ (vom 15.12.2014) gab es einen Artikel von Timothy Snyder „Als Stalin Hitlers Verbündeter war“, in dem es u.a. heißt, dass von der russischen Propaganda der „dekadente“ Westen aufgefordert wird, „zur Kennntis zu nehmen, dass es keine ukrainische Nation gebe, dass aber alle Ukrainer Nationalisten seien; dass es keinen ukrainischen Staat gebe, aber seine Organe Unterdrückung betrieben; dass es keine ukrainische Sprache gebe, aber Russen gezwungen würden, sie zu sprechen“. Fraglos eine sehr pointierte Formulierung, aber darum nicht weniger zutreffend. In der gestrigen Sendung „Hart aber fair“ war es, glaube ich, Herr Stoiber, der vom Nachbarn Russland sprach, den man verstehen und berücksichtigen müsse. Auch wenn es nicht Herr Stoiber gewesen sein sollte, sondern ein anderer aus der Runde, so zeigt dies doch das unterentwickelte Interesse an den wirklichen Nachbarn Russlands. Um die Sprachverwirrung zu vervollkommnen, so wird sehr oft von dem immensen Leid gesprochen, das Deutschland Russland zugefügt habe. Das trifft gewiss zu, wenn man von der Sowjetunion spräche. Abgesehen von Leningrad waren die vom deutschen Überfall betroffenen Gebiete vor allem Weißrussland und die Ukraine (In dieser Hinsicht gab es einen aufmerksamen Leserbrief vor einigen Tagen in der FAZ.)
Heute, am 16.12. wird übrigens in der FAZ die „Kleine Geschichte der Ukraine“ von Andreas Kappeler – ich würde sagen – sehr gelobt. Versuchen sollte man sie auf jeden Fall.



[1] „Veröffentlichungen der Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften (ŠGW) im Exil“, in: Jahrbuch der Ukrainekunde 24.1987, 290-309
[2] Nur wenig später Sarcelle (Frankreich).

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