Sonntag, 23. Januar 2011

Lesender Weise 16

Die Professur für außereuropäische Kunst
Nach Jahrzehnten der Verwechslung der außereuropäischen Kunst mit der Ethnologie, sollte mit dieser Professur deutlich gemacht werden, dass es sich hierbei nicht um eine durch den westlichen Blick erst geschaffene Kunst handele, sondern um den autonomen aus sich heraus geschaffenen Ausdruck eigener ästhetischer Wahrnehmung der Verbindung des Etwas mit dem Nichts – wie bei Turner. Endlich sollte die außereuropäische Kunst aus dem völkerkundlichen Getto herausgeholt werden, gleichberechtigt neben die europäische gestellt werden, in ihrer Bedeutung und methodischen Wahrnehmung kompatibel werden. Ein ungemein verdienstvolles und längst überfälliges Vorhaben, vor allen Dingen, weil in den sogenannten einschlägigen und natürlich renommierten Publikationsorganen wie Artibus Asiae, Oriental Art oder Ars Orientalis dies von den Autoren bereits geleistet wurde. National und international ausgeschrieben, sollte eine der großen Persönlichkeiten gewonnen werden, die nicht nur auf die Renaissance in Italien, englische Landschaftsgärten oder französische Schloßarchitektur spezialisiert war, sondern in der Lage war, Welten zu vermitteln – und dies kompetent und mit dem fachmännischen komparativen Blick auf die europäische Kunst. Nichts leichter als das, falls man sich Frau Siborskas oder eines Kulturwissenschaftlers aus der Schule der Humboldtuniversität versichern könnte. Wann war besser die Evolution des Weibes zu widows and wiles in der Kunst erforscht und präsentiert worden? Hiergegen gab es jedoch den Einwand, dass die Einbeziehung der Kunst der Eskimo, Maori und Patagonier dann doch zu sehr die Gefahr der Ethnologisierung und des Eurozentrismus beinhalte. Und das, obwohl fraglos der gescheiterte Maskenankauf des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln ein wichtiges Bindeglied zur Moderne gewesen wäre und eine weitere Erforschung der Felsbilder auf den Drakensbergen sich immer auch wieder zur Seite der Kunst hinneige. Man müsse sich überdies klar darüber sein, dass mehr als ein Kontinent mit gekonnten Blicken darüber hinaus kaum von einer solchen Professur zu vertreten sei. Und schon vergaß man, was man soeben gesagt hatte und postulierte diese Professur als nucleus einer Überseewissenschaft. Keineswegs vergessen dürfe man, dass Kunst subkutan wirke, unter die Haut gehe und mit dieser Professur erreicht werden solle, die Wirtschaft zum Kultur- und Kunstmanagement zu bewegen, in einem Maße das deutlich mache, wie und in welcher Weise die Wirtschaft mit der kulturellen Entwicklung Schritt halte. Nicht nur sollten die soft skills des Kulturbetriebes nutzbar gemacht werden, auch umgekehrt sollten deutsche Theater und Orchester von Managementfähigkeiten profitieren und durch geeignete Personalplanung den Anteil an Sponsorengeldern auf 50% oder mehr steigern. Hier sollte sich die Inhaberin, der Inhaber der Professur als Agent und Agentin der Kulturschaffenden und Mentor der Wirtschaft beweisen. Und schließlich einigte man sich auf einen eurasiatischen Schwerpunkt, entweder unter Berücksichtigung der hellenistisch-iranischen Übergangszone, den βασιλευς mit seinen Paraphernalia, das griechische und jüdische Gesetz in den Wörtern nomun und doron bis nach Nordostasien zu verfolgen oder schwächer, aber ähnlich nach Indien oder aber wohl doch eher den umgekehrten Weg zu gehen und die Fülle der ostasiatischen Eigenschöpfungen als tertium comparationis und Instrument zur Bekämpfung des grassierenden Anikonismus in die Universität einzuführen. Nicht diskutiert wurde die Schaffung einer Professur buchstäblich auf der Grünen Wiese ohne materielle Anschauung in den Museen Güterslohs oder der näheren Umgebung, da die entsprechenden Bildarchive im Internet einschließlich des Schamhaar-Muellers Bilder jederzeit abrufbar seien.
Doch wurde die Professur schließlich, um einmal mehr alle Hintergedanken im Vorfeld schweigend zu berücksichtigen, allgemein mit der Forderung nach einem asiatischen Schwerpunkt vorzugsweise in der bildenden Kunst, jedoch nicht unter Ausschluß der Musik, ausgeschrieben, die Spiritualität in die bildende Kunst zurückzubringen, wenn nicht gar den Heiligen Geist. An die Musik dachten diejenigen, die ihre Wurzeln entweder in der Vergleichenden Musikwissenschaft hatten, über indische und afrikanische rhythmische Fertigkeiten, über japanische oder türkische klassische Musik, über Frauen – die Gefährdung ihrer persönlichen Identität durch den Feminismus – und Musiker gearbeitet hatten oder aber aus der Theorie sich mit Fragen wie der Korrelation von Technik und Komposition oder aber mit der dramatischen Exaktheit und dem Paradigma des Serialismus auseinandergesetzt hatten. Man wußte, wen man haben wollte. Und alle Fachleute und solche, die sich dafür hielten, machten sich anheischig, geeignete Bewerber anzusprechen. Otto sollte sowieso zu einer Konferenz nach Yale fahren. Er würde seine Beziehungen ansprechen. Sluggan war gerade dabei, die UNESCO in Paris zu beraten, wie sie zeitgemäß moderne Kunst – nicht mehr Picasso, Arp oder oder – wirklich vielsagend in ihrem Palast einsetzen könnte. Dabei ergab sich gewiß die Gelegenheit, Namen zu ventilieren.
Das Ergebnis war in diesem Falle eine glückliche Mischung von Weltläufigkeit und regionaler Bindung. Einer der ernstgenommenen Bewerber war der Museumsmann J.J.A. Worsaae, der sich mit einer kunsthistorischen Arbeit über das italienische Morra-Spiel habilitiert hatte und später Forschungen über die Verbreitung des Tuffsteins aus dem Neuwieder Becken als Baumaterial für europäische Kirchen durchgeführt hatte, aber unter den Bewerbern wurde sehr bald Frau Dr. Kim-Sebestyn favorisiert, mit koreanischen Wurzeln und deutschem Examen mit einer Arbeit über die Frage, welche virtuellen Kommunitäten durch das virtuelle Museum befriedigt werden, so dass alle Einwände, wie denn ein Ausländer, geschweige denn eine Ausländerin sich im deutschen universitären Dschungel behaupten könne, hinfällig wurden. Der unmittelbar betroffene Kreis kannte ihre Netzwerkfähigkeiten, ihre Zugehörigkeit zu einer fouragierenden Gesellschaftsformation, die anderen Mitglieder der Findungskommission rochen sehr bald den Braten. Es wurde eifrig Güterabwägung betrieben und jeder für sich, mehrere zusammen und schließlich die ganze Kommission mit einer Ausnahme beschlossen, dem Senat Frau Kim-Sebestyn für die Professur vorzuschlagen, nachdem auch der letzte die Eindrücke von kavernösen Gebilden, spannungsgeladenen Traversalen und der Andersartigkeit ostasiatischer Kunstbetrachtung im Vorstellungsvortrag der Kandidatin verdrängt hatte, weil sie gegen Ende ihres Vortrages grundsätzlicher wurde und nach den Voraussetzungen fragte, unter denen Deutschland und als Motor Gütersloh etwas Neues erschaffen könnten, d.h. innovativ wirken könnten. Und so wurde in ihrer Laudatio hervorgehoben, dass sie in so aufregenden Städten wie Florenz, Italien, Mönchen-Gladbach, Deutschland und Fort Myers, Florida tätig gewesen sei, neben ihrer unmittelbar wissenschaftlichen Arbeit als Kunstkritikerin für den Kölner Stadtanzeiger und das Gulf and Main Magazine tätig gewesen sei und Kunstsensationen für das europäische Magazin Bunte besprochen habe. Doch sie erwarb auch Verdienste über den Kreis ihrer Eingeweihten hinaus, weil sie sich gegen die amerikanische Unfehlbarkeitserklärung wandte und der europäischen Kunst seit dem 2. Weltkrieg den ihr gebührenden befruchtenden Platz einräumte. Darüber hinaus war sie bekannt und wurde weiter bekannt für ihre einfühlsamen Ausstellungstexte, so, als sie z.B. für ihren damaligen westnorwegischen Freund Jostein Galtung-Smør anläßlich seiner ersten Einzelausstellung in Gütersloh auf deutschem Boden sprach und schrieb: „Jostein Galtung-Smør (geboren 1972) ist in Drontheim aufgewachsen und hat die staatliche Kunst- und Handwerksschule in Oslo besucht. Jostein Galtung-Smør hat zum ersten Mal 1999 ernsthafte Marken im norwegischen Kunstleben gesetzt. In Deutschland, aber auch sonst in Europa hatten sich viele jüngere Künstler um einen heftigen malerischen Ausdruck auf expressionistischer Grundlage gesammelt. Sie wurden als Neo-Expressionisten oder die heftigen jungen Maler im Gegensatz zu den zynischen Realisten bezeichnet. Galtung-Smør steht also mitten in einer Generation, die die expressiven und malerischen Qualitäten den Ausdruck bestimmen läßt. Gefühle sollen nicht zensiert werden.
In seiner gegenwärtigen Ausstellung lädt er den Beschauer zu einer Entdeckungsreise in rauem malerischen Gelände ein, in dem sich die Ausdrucksformen dauernd verändern. Klare Assoziationen zu wunderschönen westnorwegischen Landschaftsmotiven schlagen plötzlich um in Abstraktion und schaffen Spannungen innerhalb der Komposition. Wir müssen an mehr denken als nur daran, welche Landschaft dargestellt wird, denn die Komposition fängt vor allem den sich verändernden inneren Zustand ein.
Wenn es leicht ist, die westnorwegischen Wurzeln Galtung-Smørs in seinen Gemälden zu finden, dann, weil die Landschaft unlösbar mit seiner Identität verbunden ist. Gleichwohl hört trotz des Beitrags der Kindheitslandschaft zu seiner künstlerischen Entwicklung die daraus gespeiste Inspiration nicht bei einer romantisierenden Wiedergabe der Natur auf. Selbstverständlich ist die Landschaft ein wichtiger Teil des Ganzen, aber ihr Einsatz durch Galtung-Smør in einem größeren Zusammenhang gibt seinen Bildern erst Stärke. Er vermittelt, was die Landschaft repräsentiert, nämlich einen wesentlichen Teil des Daseins auf einer Ebene mit den Lebenserfahrungen, die jede einzelne Person formen. Wenn die blau- und weißgemalten Bergmotive unmittelbar Assoziationen zu der betörenden westnorwegischen Natur wecken, so sind sie doch eher visueller Ausdruck für eine innere Welt, die stärker von wechselnden Stimmungen beherrscht wird, als Ausdruck des Lichteinfalls auf steile Felswände. Als Widerstand gegen die Kommerzialisierung sind auch seine Seestücke zu verstehen, auf denen er glitschigen klebrigen Schlamm aus dem Bild erotisierter Wolken über den schweren Goldrahmen quellen läßt.
Die Bilder geben einen kleinen Einblick in das, was Galtung-Smør durchleben mußte, um dort hinzugelangen, wo er heute, psychisch, physisch und auch geographisch – nämlich bei uns in Gütersloh – ist. Vielleicht um die enge Verbindung zwischen den gemalten Motiven und der dargestellten physischen Welt zu bekräftigen, sind Elemente der Umgebung physisch in die Bilder eingeführt. Tritt man nah heran, treten die Details hervor, ganz kleine Landschaften, kleinere und größere Bildfelder, die am meisten der Erde im Garten, dem farbfleckigen Boden des Ateliers oder einer wahren Felswand gleichen. Materialien wie Sand, Haare, Abfall werden zusammen mit den Farben gebraucht und schaffen eine rauhe Wirkung.
Mit einer soweit starken, maskulinen Ausdrucksweise und seinem intimen Verhältnis zur Leinwand war es keine Selbstverständlichkeit, dass Galtung-Smør auch die mit Seidensatin als Leinwand verbundenen Möglichkeiten ausforschte. Er verwandte viel Zeit darauf, verschiedene Techniken und Fixiermittel zu versuchen, damit alles klappte. Und so werden gerne Akryl, Aquarell und Öl in einem Bild gebraucht, was noch die starken Gegensätze und Spannungen in den Motiven unterstreicht. Die Überraschung ist, wie es Galtung-Smør geschafft hat, die glatten, fast gleißenden Stoffe in etwas subtiles und essentielles zu verwandeln, indem er die Stoffe völlig in die Ausdrucksformen integriert. Die Stoffe repräsentieren sehr viel mehr als nur die Grundlage für Farben, sie verschmelzen zu einem ganz wesentlichen Teil der Komposition.
Verglichen mit seinen früheren Gemälden wird auch die „Seidenserie“ von starken Gegensätzen geprägt, von reiner Abstraktion bis zu spielerischer Figurierung, von einer dekorativen Batik-Technik bis zu seinen charakteristischen gewaltsamen Ausdrucksformen. Es finden sich also ungleiche Zonen in den Bildern, die in der Ganzheit Spannung schaffen. Die ganze Serie wird von überraschenden Farbkombinationen geprägt, die gegeneinander antreten und ganz ohne Obszönität zusätzlich Spannung verursachen, zitrusgrün, hellblau, senfgelb und alle möglichen Nuancen von rosa und lila würzen die Ausdrucksform. Gemeinsam für diese Motive entdecken wir Figuren, die kommen und gehen, die sich auf merkwürdige Weise gleichzeitig sowohl verbergen als auch darbieten. Als Betrachter wissen wir nie ganz genau, was dargestellt ist, aber das ist wohl auch kaum beabsichtigt.
In einer Weiterentwicklung dieser „Seidenserie“ geht Galtung-Smør noch einen Schritt weiter und reißt das Ganze in seinen Nähten auseinander. Riesige blinde Rahmen werden zu zerbrechlichen Skeletten, werden als Fixpunkte für beliebig genagelte Seidenbahnen eingesetzt. Die unordentlichen Nähte tragen dazu bei, eine rauere und provozierendere Oberfläche im Einklang mit Galtung-Smørs frühen Arbeiten zu schaffen. Die letzten Bilder in der „Seidenserie“ sind lebendiger als die frühen. Er distanziert die Bilder von dem Glatten und Glamourösen, indem die Stoffe willkürlich aus den Blindrahmen heraushängen. Die Motive erkennen wir wieder, aber die Ausdrucksform ist ursprünglicher. Hier bekommt der unbehandelte Seidenstoff eine sichtbarere Vermittlerrolle, eine gewisse Nacktheit und Verletzlichkeit. Im Gegensatz zu den ersten Bildern, in denen der Seidenstoff praktisch in den Kompositionen verborgen liegt, wagt es Galtung-Smør jetzt, die Stoffe alleine stehen und für sich selbst sprechen zu lassen. Aber auch wenn diese neuen Bilder eine ganz neue Richtung für Galtung-Smør repräsentieren, passen sie ganz natürlich in seine bekannte Ausdrucksform. Das Ganze handelt nämlich davon, Elemente der Umgebung mit den gemalten Motiven zu vereinen. Ob Sand oder Seide in die Bilder eingehen, die Wirkungen sind gleich groß.
Und schließlich noch einige Worte zum Verhältnis des Beschauers zum Beschauten: Es ist ein Faktum, dass die Menschen miteinander reden, wenn sie sich eine Malereiausstellung ansehen. Und damit wir mehr sehen können und über mehr sprechen können, ist es wichtig, dass die Beschauer eines Bildes so viele gemeinsame Referenzen entwickeln wie möglich. Diese gibt es in reichem Umfang in der internationalen Kunst, in der Kunstgeschichte und in der globalen Bilderwelt, die wir fertig zubereitet konsumieren. Setzen Sie all dieses ein, um den Bildern zu begegnen. Gibt es etwas, an das Sie ein Bild erinnert, an ein altes Photoalbum, an den Entwurf auf einer Platten- oder CD-Hülle, an eine Einkaufstüte, einen Kleiderstoff, eine Tapete, einen alten amerikanischen Spielfilm, der vor kurzem im Fernsehen lief, ein Puzzle, ein Wochenblatt, ein Reklameplakat, ein Altarbild, ein Tierprogramm auf Arte, dann assoziieren Sie einfach darauf los. Dass die Kritiker sich besser den Künstlern anpassen und dass die Kritiker so viele gemeinsame Referenzen mit Künstler und Publikum haben wie möglich, das sind gute Voraussetzungen dafür, dass die neue Kunst ein wichtiger Teil unserer globalen Gegenwartskultur wird. Aber zuerst müssen wir uns von den verbalen, kunstkritischen Gewohnheiten befreien, die keine Entsprechung mehr in der neuen künstlerischen Praxis haben. Also folgen Sie nicht mehr dem traditionellen modernistischen Gedankengang, dass ein Bild etwas anderes sei, als Futter für das medial verführte Auge.“
Frau Kim-Sebestyn gab während ihrer Einführung die Hand ihrer Entdeckung nicht preis und verärgerte damit den ältesten Sohn des Lampenschirmerzeugers Wilhelm Dalkeau, der gar als Einheimischer nur wenig vorher Frau Kim-Sebestyn und damit die Gütersloher kunstleidenschaftliche Szene mit spinnenartigen Gebil¬den aus zahllosen Sektflaschen-Agraffen beglückt hatte. Galtung-Smør bezeichnete sie, und sagte und meinte es auch, als ihre vorläufig letzte Akquisition, etwas, was ihm nicht besonders gut gefiel, weil er jedes Mal im Interesse seiner Kunst seinen Stolz herunterschlucken mußte, obwohl er sich doch für mehr hielt als nur eine Akquisition. Als Mitvierzigerin mit ihrer ersten Lesebrille, mit regelmäßigen Zügen, die durch ein überaus geschicktes make-up – in diskreter Übernahme von blauer Mascara und rosa feuchter lipgloss aus dem Osten Londons die intellektuelle Gesellschaft erobernd – betont wurden, allerdings auch ihr ganzes persönliches Leid auf dem Weg zu einer imaginären gesellschaftlichen Spitze, das in den leicht unzufriedenen Zügen um den Mund zum Vorschein kam, der zu viele angeblich ungewollte Aufgaben hatte lösen, formulieren und konkretisieren müssen, war sie in jeder positiven Beschreibung ihrer Person ein konservativer Freigeist. Wir anderen bildeten das Publikum während der ersten Ausfahrt des Kaisers in seinen neuen Kleidern. Nicht immer konnte sie allerdings den Künstler an die Hand nehmen, als sie so wenig später die Ausstellung eines späten Modernen aus dem Kunstmuseum Basel übernehmen durfte. In der kaum zu widerlegenden Annahme, dass die Welt vergeßlich oder nie in Basel gewesen sei, paraphrasierte sie dortige Bildanalysen, sprach von einem offenen Energieprinzip ohne Anfang und Ende, von einem Entstehen- und Gewährenlassen in Analogie zur Natur. Nicht Soutine war gemeint – und hätte es doch sein können, als sie die Beschreibungen eines weiblichen Körpers ebenfalls übernahm, weil sie es schöner auch selbst nicht hätte formulieren können: „Es geht nicht so sehr um die Kurven des weiblichen Körpers als vielmehr um jene Kurven, zu denen die Hand beim Malen gleichsam von Natur aus neigt. So ausgelassen genießt die Hand ihre Lust, dass der hingeschmierte Mund der Frau, die bündigen Augenschlitze und der maßlos übertriebene, amorphe Körper fast mehr als alles andere eine lyrische und humorvolle Verkörperung ihrer eigenen Entstehung umfassen.“
Da Frau Professor Kim-Sebestyn sich allerdings auch ihrer Verpflichtung gegenüber der lokalen Kunstszene bewußt war – allzu leicht hätte man kommende Berühmtheiten wie z.B. aus Brühl sonst übersehen können, die schöpferische aus provinzieller Freiheit gespeiste Kraft –, war sie zunächst eine aufmerksame Beobachterin der Gütersloher Szene, beteiligte sich an Retrospektiven wie der des Malers Peter August Böckstiegel, war auf Talentsuche in den Schulen des Kreises. Später delegierte sie ihre Assistenten oder fortgeschrittenen Studenten, aber immer blieb sie am Ball, weil sie wußte, dass sie mit diesem gezeigten Interesse an Gelder der Stadt Stiftung Gütersloh gelangen konnte. Noch später hatte sie eine Größe erreicht, die es ihr gestattete, die Provinz wieder in ihre eigenen dilettantischen Aktivitäten zurückgleiten zu lassen.
Viel schwermütiger waren die eigenen Beiträge Galtung-Smørs, als er zwei Jahre später als Gastprofessor seine Eindrücke von Kunst mit dem leicht singenden Ton¬fall des Norwegers auf Deutsch vortrug: „Die Pisanello Ausstellung in der Natio¬nal Gallery war, wie eine englische Zeitung schrieb, ein Wunder, da sie etwas aus fast nichts machte, faszinierend war fürwahr der eine Raum mit der ‚Rekonstruktion‘ des Altars in Pisa von Masaccio. In Tate Britain ersparte ich mir die Victorian Nudes, doch nicht in Tate Modern die Surrealisten. Seitdem sehe ich in jedem Kreuz einen insurregierten Phallus, einen errigierten Schwanz mit den Eiern als Flügel des Kreuzes. Es war eine beeindruckende Ausstellung, die in ihrem Realismus meinen Phantasien von Dir entspricht. Und ich verwundere mich einmal mehr, wie Simone de Beauvoir in Les Mandarins widerwillig – aber schließlich gehört es dazu – versuchte, mit dem Fingerspiel den Schwanz von Camus hochzukriegen. Da war der Surrealismus vielleicht schon vorbei als Gesellschaftsspiel.“ Und weiter: „Nächte, nach denen ich von Träumen weiß, mich aber nicht an das Mörderische in der Kunst mit dem Künstler als Täter wie Benvenuto Cellini oder als Opfer wie Charles-Valentin Alkan erinnern kann, sind inzwischen verlorene Nächte. Im Erwachen waren es noch Mondrian‘sche rechtwinklige Strukturen, doch in Beuys‘schen Erdfarben. Im Wachsein jagt die Farbe über das Papier, die nächste Zeichnung, das nächste Schriftbild und hinüber auf eine Leinwand. Das ist nicht genug und überdies zu überhöht, denn einmal mehr waren die Träume mit Anstrengungen verbunden, die mich auch jetzt noch gut drei Stunden später nach Atem ringen lassen.“

Karls Dossiers hatten weitere Informationen über Frau Prof. Dr. Kim-Sebestyn parat. Sie hatte über Jahre versucht, einen selbstverfaßten Abenteuerroman zur Veröffentlichung fertig zu bekommen. Turfan war eine Kunstschmuggelaffaire, die während der Großen Chinesischen Proletarischen Kulturrevolution spielte mit allen Versatzstücken, die angeblich für einen Bestseller erforderlich sind, einschließlich des Sieges der guten Räuber, die als deutsche Chemiker mit Acrylat und Elektronen den ursprünglichen Zustand der Funde bewahrten und den Schatz für das Museum für Ostasiatische Kunst in Berlin retteten – und mit ein bißchen nebensächlichem Sex zwischen einem beschnittenen Liebhaber und einer fast noch jungen deutschen Archäologin, die unter Einsatz ihres Lebens in prüder und ausgehungerter Zeit zusammenfanden. Karl kannte einen Ablehnungsbrief, dass „das Klischee zu oft sein häßliches Haupt“ erhebe. War dies nur eine Glosse in einem erfüllten Leben, schließlich hatte nicht nur in Drôle de Drame ein ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft anonyme Literatur geschaffen, hatte nicht nur ein großer Kölner Wirtschaftswissenschaftler in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vor Schreck seinen eigenen Trivialroman aufgekauft und stammte von einem anderen Aufruhr um Domdalla – und an Anonymität war Frau Kim-Sebestyn nicht gelegen, so war die Erkenntnis gewichtiger, dass dieselbe Dame andere Götter neben sich nicht duldete, wobei sie entweder auf die Methode des Hinausekelns zurückgriff oder schlimmer noch, Kollegen und Mitarbeiter in die Resignation und zur Aufgabe trieb, weil zu viele Gespenster sichtbar wurden. In ihren jungen Jahren hatte sie kurz nach der Reichseinigung von Inez Jentner gelernt, wie man sich als gefährlich vermutete wissenschaftliche Konkurrenz vom Halse hält, rechtzeitig nämlich die Definitionshohheit an sich zu reißen und selbst alt gewordene Gelehrte zwar zu loben, jedoch zur Gefahr für ein nur unter Anstrengungen erarbeitetes Profil der eigenen Ausrichtung zu erklären. Rechtzeitig mobilisierte man die Zwiebelfischclique, rechtzeitig instruierte man den Präsidenten der Universität, aus dem fernen Java, wo dieser behufs weiterer wissenschaftlicher Partnerschaften weilte, ein Veto gegen die Einstellung solcher Gefahren einzulegen. Auf diese Weise erlebte auch die Johannes-Universität bald nach der schöpferischen Aufbruchstimmung ähnliches, bzw. erfuhr sie nie, was ihr eventuell an guten Leuten entgangen war, wenn nicht nur, aber in der Regel und am häufigsten einmal mehr die heilig unheilige Allianz zwischen Frau Kim-Sebestyn und Frau Grebenstein wirksam geworden war. So entgingen der Universität die Interkulturalisten Pothorst, Pining und Cortemünde, mit denen man Erfahrungen von New Foundland bis Tranquebar hätte austauschen können. Nur in einem privaten Kreis entgleiste Professor Otto mit der Bemerkung: „Für eine Dame hat sie es ziemlich weit gebracht, allerdings auch verstanden, sich in Szene zu setzen.“
Zu einem späteren Zeitpunkt wanderte sie während der vorlesungsfreien Zeit mit dem Hausmeister durch den für die Institutsräume umgebauten Hangar „F“ und ließ sich in dieser personellen Einsamkeit wie in unheilvollen Märchen, doch ohne dieselben Folgen alle Türen aufschließen. Ihr Blick entschied, dieser Raum werde nicht genutzt, und zu Semesterbeginn hatte Frau Kim-Sebestyn die Zimmerflucht eines ganzen Flurs in Besitz genommen.
Doch, wichtiger noch war die Bereitschaft Frau Kim-Sebestyns, ihre private Kunstsammlung in ihren universitären Räumen öffentlich zugänglich zu machen, eine Serie chajarischer Prinzenportraits, kaum schlechter als die Gemälde von Grandma Moses und sicherlich dem Geschmack der meisten amerikanischen Präsidenten und ihrer Frauen bei der jeweiligen Neueinrichtung des Weißen Hauses gewachsen, eine „Ansicht Konstantinopels“ von Alexander Dorogov (1819-1850), eine weitere in mondheller Nacht von I.K. Aivazovsky (1827-1900), ein Portrait Murtaza Kuli Khans von V.I. Borovikovsky (1737-1825), weitere Bilder von Surikov und Vereshchagin und schließlich Bilder von Konstantin Makovskij, dessen „Junge Spanierin“ und „Junger Angler“ aus dem späten 19. Jahrhundert, eine wahrhafte Konkurrenz zu den russischen Bildern in der Ludwig-Sammlung waren, auch wenn sich ihre Provenienz nicht allzu selten hätte über Sorrent nach Astrachan zurückverfolgen lassen. Und dazu, einmalig in Europa, die erotisch beunruhigenden Bilder des jungen indischen Malers Mohan Singh (geb. 1972), auf denen die Herausforderung des Tempeltänzerinnengestus in T-shirts und Jeans fast ins Unerträgliche gesteigert wurde und sich die Tänzerinnen selbst durch leises Touchieren elektrisierten mit wissendem Ausdruck auf den Gesichtern und eindeutigen Hinweisen in der Hand. Zum über die akademische Welt hinausreichenden Ereignis wurde jedoch die Entscheidung Frau Kim-Sebestyns, den Flur ihres jetzt stattlichen Instituts mit vier Tafelbildern – 300 mal 110 Zentimeter groß – von Rosa Loy aus ihrer eigenen Sammlung zu behängen. Von den in blauen hautengen Überzügen verpuppten Zwillingsauftritten blonder langhaariger Mädchen im Friseursalon, Gewächshaus, auf der Sonnenbank oder an der Hotelrezeption wurden die männlichen Besucher beunruhigt, obwohl der erste Blick nur einen sanften Weiblichkeitswahn insinuieren sollte. Dieses Arrangement lockte die Gütersloher Bevölkerung und die Kunstbeflissenen einer internationalen Szene in die Johannes -Universität, auch wenn es gelegentlich geschehen konnte, dass man von Leuten in der Warteschlange vor einem gefragt wurde: „Weshalb stehen wir eigentlich an?“ So wurde das Leid der späten Geburt dieser Institution, nicht Manet’sche Lilien, Pollock’sche Klecksereien und Turner’sche und Dahl’sche Wolken zu besitzen und ausstellen zu können, auf Frau Kim-Sebestyns Ehrgeiz wenigstens teilweise befriedigende Art aufgelöst. Es war die Inszenierung des Hofstaats, der ausgewählte Besucher in den Raum der Professorin geleiten sollte. Was fehlte, waren die Strichstreiche der Genies. Manchmal bereiteten Ausstellungsentscheidungen der Dame allerdings auch schieres Vergnügen, so z.B., als sie den „Beweis des Abenteuers“ nach Gütersloh holte, den Witz und die Illustrationskunst der New Yorkerin Jen Ray aus Berlin, weil sie sich so gern mit der hübschen Tara in spärlicher Bedeckung, mit Locken, Herzchenstrümpfen und Ballerinas identifiziert hätte.
Das Minderheitenvotum seinerzeit gegen Frau Kim-Sebestyn kam schwach und ununterstützt allein von dem auswärtigen Kommissionsmitglied, Prof. Segensreich Küfer, der wegen des an der Johannes-Universität noch nicht ganz ausgebildeten Sachverstandes für die Besetzung der entsprechenden Professur mit vielen Versprechungen kooptiert worden war. Professor Küfer, ein ausgewiesener, international anerkannter Kenner großer Teile der indischen Kunst, fiel der eigenen Bedeutung und Selbstüberschätzung zum Opfer, als er glaubte, wie der Knabe in dem allzu oft zu zitierenden Märchen von des Kaisers neuen Kleidern den Schleier der Machenschaften heben zu müssen und dabei auf gerüchteweise verbreitete Wahrheiten Bezug nahm, die nur versteckt unter den jeweiligen Betten hätten verifiziert werden können. Sein Schicksal für die nächsten zwei Jahre war, sich entschuldigen zu müssen und Schadensersatzansprüche der Inkulpierten abzuwehren. So verlor er die Lust, sich um neue Sitten zu bemühen.
Und tatsächlich immer weiter stieg Gütersloh in die Liga von Greenwich und ita¬lienischen Hospizen auf, als unsere Professorin mit Unterstützung durch von Voyčechovskij zur Verfügung gestellten Sondermitteln dem Geschmack des Oligarchen entsprechend große Teile der Sammlung Mira Jacobs ersteigern konnte, darunter auch „L’Offrande“ von Paul Delvaux. Unter diesem Aquarell pflegte Voyčechovskij, als es schließlich seinen richtigen Platz gefunden hatte, der Gütersloher Lokalpresse Interviews zu geben und über die Tableaux Vivants der Brigitte-Maria Mayer zu raisonnieren. Obwohl ein ebenso solider Familienvater wie die meisten Mafiabosse, fühlte er sich jedes Mal beglückt, wenn er es anschaute. Oder er wechselte den Platz und setzte sich zu einer „Nude“, einem Aquarell des selben Malers, das er für 110.000 € ebenfalls nur wenig später erworben hatte. Er hatte auch den Ankauf sehr viel repräsentativerer Werke wie „Le Mirage“ und „Les Vestales“ ermöglicht, weil leider die Auftragsarbeiten Halil Beys längst in Museen verankert waren, ohne die vor hundertundfünfzig Jahren üblichen Vorhänge, die für Freunde zur Seite gezogen wurden. Und dennoch wurden auch die Hauptwerke Delvauxs zentraler und musealer gehängt. Doch war ein Grund für die Schönheit des Universitätscampus die Begehbarkeit der Kunst, die nie begehbarer war als mit dem Ankauf der „Pharmacy“ Damian Hirsts für 11,1 Millionen ₤, die zum Séparée für VIPs wurde, die die Universität besuchten und unter dem Hintern noch eben denselben von Madonna oder Nicole Kidman zu spüren meinten, die Martini-Gläser mit der sich um den Stiel windenden Apothekerschlange benutzen durften, die mit den Getränken aus „The fragile truth“ und „The sleep of reason“ gefüllt worden waren. Die most important persons, die MIPs, saßen an dem Tisch, um den diese Damen zu sitzen pflegten, und auf dem Tisch prangte der Widerstand der Universitätsverantwortlichen gegen die Ausschließlichkeit der modernen Kunst, ein prachtvoll vergoldetes Dejeuner mit Amor als Hauptperson, bekränzt, mit Pfeil und Bogen und mattgoldenen Liebesfackeln aus dem Jahre 1803, ein Frühstücksservice für die Flitterwochen, auf dem zu besonders wichtigen Anlässen gelegentlich Faisans de Bohème à la broche serviert wurden. An normalen Tagen pflegte man die letzte oder vorletzte Diätwelle von Atkins oder South Beach. Wie im alten Berliner Haus Vaterland konnte man zwischen „The Pharmacy“ oder dem aus der Düsseldorfer Altstadt ebenfalls übernommenen Restaurant Spörris wählen, das neben dessen eigenen Tafelbildern durch Flohfallen aus Bein, vor allem aber durch eine ganze Palette von Glasaugen für Menschen und Tierpräparationen und schließlich einem überaus seltenen Retable Lumière ergänzt wurde, das die Besucher in sentimentalische, unkontrollierte Stimmungen zu versetzen mochte. Leider gelang es der Johannes-Universität nicht, aus Talloires Père Bise nach Gütersloh zu locken, da er, dem das Wasser langsam aus den Beinen in die Lunge hinaufstieg, in seiner Wahlheimat sterben und nicht die Nähe eines Klosters mit der eines anderen Ordens in der Nähe tauschen wollte, doch gelang es, seinen quasi-astronomischen, sehr viel jüngeren Zwilling im Geiste aus Corcelles-près-Payerne zu gewinnen, noch immer voll von überschäumender Phantasie, der mit seinen Speisen, zu denen er wie eine der alten Hexen im Teutoburger Wald eigenhändig die Kräuter sammelte, bei weitem die moderne Kunst um sich herum übertraf. Das gleiche galt auch, als man zu einem anderen Zeitpunkt die berühmte Babette aus dem Pariser Café Anglais als Küchenchefin gewann, die mit Sondererlaubnis aller Tierschutzvereine ihre unvergeßliche Schildkrötensuppe und die mit Gänsestopfleber und Trüffeln gefüllten Wachteln weiterhin servieren durfte. Nur für drei Monate als Gastkoch kam Li Wenjing, der Prominentenkoch aus Shanghai, der für eine Stargage nach Almaty gelockt worden war und von dort nach Gütersloh Auch so gewann die Universität an Ruf und Ruhm, da sie überdies durch Subventionen die Küche auch erschwinglich machte für Skribenten, die nicht von der Redaktion des Michelin entsandt worden waren. Um diese Juwele kulinarischen Genusses wurde das universitäre Refektorium mit den wohlgefälligen kritischen Performances der Vanessa Beecroft errichtet, in dem Dozenten und Studenten, Ehepartner dieser beiden Gruppen, die sonstigen Angestellten und die Kinder dieser drei Gruppen demokratisch vereint speisen durften – demokratischer als in unserem Jahrhundert in Anlehnung an gute alte Zeiten, als Stuben-, Haus-und Kammermädchen, Pagen und einfache Soldaten mit ihrem Herrn an einem Tische aßen –, auch wenn die Studenten sich oft und gern zum Kinderhüten mißbrauchen ließen und die Kinder ihrerseits so früh den Anschluß an die mit Internationalität durchsetzte deutsche Intellektualität fanden. Unter dem guten Geist aus Corcelles-près-Payerne dienten, um der französisierten Küche gerecht zu werden die pannetiers, die valets tranchants, die sommeliers, porte-chapes, écuyers de cuisines, clercs de cuisine, valet d’écuelle, valets de chaudière, fruitiers, clercs de fruiterie, poissonniers und fureteurs. Zum Essen ertönte Buxtehude auf einer Shrider-Orgel, auf der schon Purcell gespielt hatte, vielleicht sogar Händel, die die Universität aus der aufgelassenen Kirche von Kilkhampton auf Rat von MacAllister erworben hatte. Und so war der Hof der Johannes-Universität in doppelter Hinsicht dem der großen Feudalherren des Mittelalters nicht gar so unähnlich und konnte sogar mit den Orgelkonzerten in der Kirche des Klosters mit ihrer Barockorgel von Johann Patroclus Möller wetteifern.
Um ein wenig den Geruch russischen neuen Reichtums zu vertreiben, identifizierte Frau Kim-Sebestyn mehrmals bei passender Gelegenheit die Sammelaktivitäten der Universität mit der des Herzogs von Hamilton im 17. Jahrhundert.
Vorher ergab sich daraus ein Kommissionsbericht, der die Leitfunktion der Professur und ihrer Inhaberin in einem weiteren nucleus mehr als deutlich machte.
Hieran sollte, da nicht nur ein Bild als Text, sondern Texte als Bilder gesehen wer¬den sollten, zunächst eine weitere, diesmal germanistisch orientierte Professur an¬geschlossen werden. Mit ihr könnte die Kunst Friedrich Spielhagens und Adolf Ritter von Tschabuschniggs oder das Unsagbare in zwei oder drei Sprachen ebenso entschlüsselt und ihre performative Qualität zurückgewonnen werden wie die Geschichte des literarischen Ohnehosenthums unserer Zeit, Ganghofers liberales Kunstverständnis in den Prozessen gegen die dreiste russische Literatur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, besonders im Prozeß gegen Alexander Amfiteatrow und seinen Roman Der gelbe Paß. Marja Lusjewas Schicksale im dunkelsten Petersburg oder Kraussens Wider die Unzuchtschnüffler der deutschen Justiz. Es war ein merkwürdig verschwommenes inhaltliches Gebiet, das diese Professur abdecken sollte. Ein anderes Thema war der lokale Kriminalroman aus Detmold, Münster oder Trier, die Rolle des unsympathischen Professors als Opfer, das gestörte Privatleben der Polizei, die eigene Qualität dieser vom Lokalkolorit lebenden Literatur, in der man zuerst aus Unkenntnis das Schema bemerkte. Eine wichtige Frage waren auch die Ethiken der Erinnerung und der sie tragende narrative Diskurs.
Es hatte ein wenig Ähnlichkeit mit der ebenfalls vorgesehenen Marginalistik, war aber doch hinreichend historisch angelegt, um als eigener Schwerpunkt anerkannt zu werden. Allerdings war eine solche Professur trotz Frau Siborska nur schwer zu besetzen. Ein weiteres Mal war es Karl, der hinter dieser Idee stand und auch glaubte, sie materialisieren zu können, nämlich mit einem weiteren Fast-Freund, mit Heinrich van Groningen, dem noch jugendlich wirkenden Direktor einer Uni¬versitätsbibliothek mit einer stupenden Kennntnis des Gesamtwerkes von Karl May, der seine längst vergessenen niederländischen Wurzeln allein durch den Na¬men kaum verleugnen konnte und seine Briefe mit dem geklauten Bonmot „Wie gehts? Wie stets?“ einzuleiten oder per Sanctum Vultum de Lucca zu schwören pflegte. Er war ein sedulous ape, gleichzeitig auch ein Glückskind wie der Sohn eines Kaminkehrers aus München. Eines seiner wichtigsten Forschungsprojekte, das weit über die Kulturgeschichte hinaus in die Mentalitäts- und Sozialgeschichte und bis in die Naturwissenschaften hineinreichte, war eine Geschichte des Tintenfasses, um damit einen vergleichenden Beitrag zur Geschichte der Schreibtätigkeit zu leisten. Der private Werkzeugcharakter des Tintenfasses und die benutzte Tinte selbst sagen so vieles über Ort und Gelegenheit des Schreibens aus, und es war van Groningen und seiner Arbeitsgruppe an Hand eines riesigen Fundus an Fässern seit dem Mittelalter bereits gelungen, eine Klassifizierung nach zwölf Hauptkriterien vorzunehmen. Mit der Suche nach dem Tintenfaß initiierte van Groningen weitere Suchaktionen. Berühmt wurde ein späteres Projekt auf der Suche nach der Innentoilette. So wie Thomas Francis Carter die Entwicklung des Drucks von China über Arabien bis nach Oslo im Jahre 1644 verfolgt hatte, ging van Groningen den umgekehrten Weg. Er begann mit der norwegischen Bauerntoilette mit den Löchern verschiedener Größe, auf der der kleine Olaf Gulbrandson gehockt und gegrübelt hatte, wann er wohl das größte Loch erreichen werde. Er besuchte das Haus Mårten Skinnares in Vadstena und schließlich die Innentoilette Dürers, verfolgte sie zu den berühmen Akademieensembles in Ephesos, um schließlich komparatistisch den antiken chinesischen Luxus einschließlich der auf dem Abort benutzten Federwedel, begangenen Morde und dort geführten Diskussionen einzubeziehen.
Ein anderes Projekt war die historische Hundeforschung, ein weiteres Kunstprojekt, von Trump, dem Mops, den Hogarth geliebt hatte, in China in Porzellan hatte portraitieren lassen – der überdies fast vierhundert Jahre später für 24.200 € bei Bukowskis – wie war er nur über unmögliche Provenienzen dorthin gelangt? – versteigert wurde –, der selber aber wiederum mit einem ältlichen Geschöpf seiner Gattung, wenn auch nicht seines Geschlechts, zu konferieren pflegte, über die Ärmelhunde – wie Pochette-Violinen – im großen chinesischen Reich am großen chinesischen Hof bis hin zu dem Welsh Corgi Cardigan der Gegenwart mit Namen Hugo, insgesamt vor allem die vielfältigen anthropokynologischen Bezüge. Aber nicht nur das: daraus entwickelte sich ein internationales interdisziplinäres Projekt. Das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie untersuchte erfolgreich die Kognitionsfähigkeit und die Gedächtnisleistungen von Hunden, vor allem für sprachliche Benennungen von Spielzeug, die Eötvös-Lorant-Universität Bedeutungsserien von Hundegebell, vor allem als Verständigungsmöglichkeit zwischen Herr und Hund. Aber auch über das Kommunikationsproblem zwischen Hunden verschiedener gesellschaftlicher Systeme wurde geforscht, und eine der Sternstunden dieses internationalen, transnationalen, transdisziplinären und inter- und intradisziplinären Unterfangens war ein Vortrag von Herrmann Bohlen über das zentrale Verständigungsproblem mit chinesischen Hunden und deren Grundaussage wangwang. „Der Anlaut, das chinesische „w“, gibt den langsamen Geräuscheinsatz wider. Wenn das Bellen des chinesischen Hundes einen plötzlichen Anfang nehmen würde, würde er, der chinesische Hund, mit einem stimmlosen Verschlußlaut, mit „p“, „t“, „k“ etwa, beginnen. Aber, die Hunde in China bellen anders. Sie setzen langsam ein. Der nach dem Anfangslaut „w“ folgende Hauptvokal „a“ zeigt, dass das Geräusch, das Bellen des chinesischen Hundes, von mittlerer Klangfarbe und hohen Tones oder von dunkler Klangfarbe und tiefen Tones oder auch möglicherweise auch von einiger Farblosigkeit ist. Der Auslaut „ng“ von wang, ein Nasalkonsonant, der velar artikuliert wird, ist, nach Wissemann, Ausdruck des Klingens. Das Geräusch, das Bellen des chinesischen Hundes, klingt, und klingt langsam aus, es endet nicht so abrupt, wie man es von hiesigen Hunden kennt. Insgesamt setzt sich das Geräusch, das Bellen des chinesischen Hundes, aus vielen einzelnen Teilbellern zusammen.“ (So auf den Seiten 19 und 20 seines überaus erfolgreichen Vortrags.) Und daraus wiederum ergaben sich als weiterer Anstoß Neuregelungen für das Tierbestattungsgesetz, was Beratungstätigkeit von Seiten der Johannes-Universität erforderte. Zu einem weiteren Teilprojekt wurde die zufällig während der universitären Gründungsfeier gehörte, aber nicht beantwortete Frage nach der Lektüre des Buches von Professor Baltrusch: warum heißen Pferde oft Pompey/Pompeius und Hunde – vorzüglich Schoßhunde einschließlich ihrer Dosennahrung – Caesar?
So griff van Groningen immer wieder erregende Themen auf, als Beispiel nur seine letzte Publikation über die Erfindung des Garde-Madame – nicht zu verwechseln mit einem Decenz-Wächter – zur Verhinderung der unfreiwilligen Übernahme indischer Sitten und seine vorletzte über den Einfluß des Stuhls auf die europäische Ideengeschichte und den Einfluß der Philosophie auf seinen Gebrauch und seine drittletzte über den Vaginismus und die Ehen perverser Männer. Van Groningens Anregungen und leichtfüßige Anstrengungen nahmen kein Ende und glitten gelegentlich sogar in sympathische Ernsthaftigkeit ab, als er ein Langzeitprojekt durchsetzte, die Entwicklung der deutschen Sprache zur Wissenschaftssprache von den unbeholfenen, lateinisch durchwirkten Elaboraten zu Beginn der althochdeutschen Schriftsprache, über die ersten deutschen Wissenschaftstexte aus der Barockzeit bis hin zu den erneut durchwirkten modernen Beiträgen. Als Vertreter handwerklichen Könnens, darin vergleichbar mit dem Corvus moneduloides, war van Groningen ein gesunder Gegenpol zu Frau Kim-Sebestyn. Er war jemand, der uns die Augen für die Schönheit serieller Fertigung öffnete, ob bei Texten oder Bildern, durch die Erschließung der technischen Prozesse bei der Produktion der chinesischen Tonsoldaten, unterfränkischer Holzskulpturen oder amerikanischer Siebdrucke.
Wichtiger vielleicht noch abgesehen von der stupenden eruditio, einem annotierenden bibliographischen Gedächtnis war die Chance, van Groningen zu überreden, seine Sammlungen außereuropäischer Literatur, von Indica, Tibetica, Manjurica, Turcica bis hin zu Aztekica, seine Sammlung von Handzeichnungen alter Meister bis hin zur Moderne, darunter ein Schatz von fast unbekannten Barlachzeichnungen, die er kurz nach der Reichseinigung in Quedlinburg aufgetan hatte, anläßlich seiner Suche nach personalhistorischen Informationen in ganz anderem Zusammenhang, in eine künftige Stiftung für die Johannes-Universität einzubringen, dies um so leichter als er ohne direkte Erben war und im weiteren Umfeld der Familie kaum Interesse – allenfalls materielles – an seinen antiquarischen und marginalistischen Neigungen bestand, dies um so schwerer, weil van Groningen seine gewinnende Art selbst immer wieder eingesetzt hatte, um die Nachlässe von Wissenschaftlern von Berkeley bis Eschenlohe zur Würdigung der Verblichenen überlassen zu bekommen. Und doch war seine Stellung in der Skala der Bibliofolie der Bibliophilie um vieles näher als der Bibliomanie. Manchmal war er ein Boulard, nie aber sank er in die Tiefen des Pastors Tinius zu Heinrichs in Thüringen und später Poserna bei Weißenfels hinab. Zu früh in seinem Leben hatte er den Bogeng erworben und gelesen. Hinzu kam, dass er in hunderten von bibliographischen Beiträgen – zum Teil im Selbstverlag – seine Schätze ohne Standortangabe, d.h. diskret, vermittelte. Als Dr. von Anders widmete er sich den Beständen der enfers verschiedener Bibliotheken ebenso wie den Gerüchten über die Unersättlichkeit des Mönches Ikkyû. Er war ein stiller Teilhaber im Geiste an jenem berühmten Antiquariat Ars amandi so wie andere Gelehrte regelmäßige und produktive Mitglieder der olfactorischen Gesellschaft waren. Und er trieb die amüsante Mystifikation noch weiter, indem er sich selbst besprach und in seinen Rezensionen Vermutungen darüber anstellte, worauf sich der Autor wohl beriefe, wie der Herausgeber möglicherweise zur Wahl eines bestimmten Mottos gekommen sei, weil, ein wenig wie Anthony Hopkins als Hannibal, er seine Ingeniösität nicht ganz für sich behalten konnte. Wenn dies zu offensichtlich wurde, hatte er u.a. gelegentlich auch Karl gebeten, solche selbstverfaßten Buchbesprechungen unter seinem Namen zu übernehmen. Vielleicht ähnelte er eher doch Seume. Auf diese Weise würde die Johannes-Universität in wenigen Jahren einen Schatz deutscher Populärnovelistik, orientalischer Randgebiete hüten, zu einem zweiten Zentrum neben der Kinsey-Bibliothek for Sex-Research in Bloomington aufsteigen und einen kunsthistorischen Fundus der Forschung zur Verfügung stellen, der die Sammlung der Portheim-Stiftung übertraf. Mit seiner Bibliothek würde in absehbarer Zeit die Universität in den Besitz so schöner Werke wie Guillaume Postels Abhandlungen über die orientalischen Sprachen, Feyerabends Reyßbuch des heyligen Landes und den Oriental Memoirs von James Forbes und vor allem Michael Boyms Rarum Flora Sinensis gelangen, darüber hinaus eine dieser seltenen Sammlungen femininer Reiseliteratur beginnend mit Lady Montague, die auf dem Totenbett noch sagen konnte: „es war interessant, alles zu sehen“, einen Satz den auch Frau Hilpert aufgegriffen hatte, anders als Karl May durch eine rosa Brille. All dies lediglich durch kumpelhafte Absprachen mit einem sehr wohl geeigneten und fähigen Menschen.
Einbringen sollte er auch ein in Vorbereitung befindliches sino-iberisches Projekt, literaturhistorisch aus einer Zeit stammend, als es noch nicht die Rhetorik der Immunität, das Skalpell eines Autors gab. In ihm sollte dem verschollenen Brief des Wanli-Kaisers an Cervantes aus dem Jahre 1607, in dem der Kaiser Cervantes um die Übersendung des Don Quijote bat, dieses Buch, dem er mit so großem Vergnügen lauschte, als ihm Pater Ruggieri daraus in einer ad hoc-Übersetzung ins Chinesische vorgelesen hatte, nachgegangen werden, den Plänen des Kaisers, in Peking eine kastilische Schule zu gründen, worüber sich in den Werken Fang Yizhis eine kryptische, zweideutige Bemerkung fand. Einerseits sollten die Archive in Sevilla – dort auch die Akten der Casa de Contratación de Indias und die Schätze der Biblioteca Colombina – und Lissabon, die öffentliche Bibliothek in Evora, die Universitätsbibliothek in Coimbra nach weiteren Hinweisen durchforstet, andererseits die leider nur dürftigen Bestände aus der späten Mingzeit im Ersten Historischen Archiv in Peking gesichtet werden, nachdem die Archive des Vatikans vielleicht verständlicherweise keine Hinweise geliefert hatten. Eine Hoffnung waren auch die angeblich unwiederbringlich verlorenen chinesischen Bücherschätze, die auf seinen Reisen durch China Johannes van Waveren Hudde zusammengetragen hatte, darunter, verborgen in einer Warenliste der Ostindischen Compagnie, mit offenbsichtlich gekürztem Titel ein oder das Manuskript der chinesischen fast zeitgenössischen Übersetzung des Don Quijote. An diesem Projekt sollten Romanisten, Sinologen, Historiker und Literaturwissenschaftler beteiligt werden, um die bisher nicht bekannte Bedeutung des Don Quijote für die Entwicklung des traditionellen chinesischen Romans in seiner Blütezeit, dem 17.Jahrhundert, und damit eines der bedeutendsten innovativen Themen interkultureller Zeugungs- und Gebährakte zu erforschen und seine dulcifizierte Anverwandlung an die transsibirische Prosa zu zeigen. Noch im schließlich genehmigten Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft hatte van Groningen die frühen Einflüsse des Don Quijote in China mit einem in seinem Besitz befindlichen Porzellanteller begründet. Darauf war Don Quijote in einem seegrünen Panzer mit gelben Bordüren und einem rosafarbenen Umhang auf der braun gescheckten Rosinante zu sehen. Mit der Linken berührte er seinen Helm Mambrinos, in der Rechten hielt er die Lanze, während Sancho Panza gekleidet in ein türkisfarbenes Wams und mit eisenroten engen Hosen Rosinante am Zügel führte. Leider mußte van Groningen später erkennen, dass dieser Teller aus dem Besitz von Philip Bromfield, J.P. (1739 -1799) aus Boldre, Hampshire stammte und kaum vor 1752 entstanden sein konnte. Das tat weh. Aus diesem Projekt konnte sich jedoch ein weiteres Vorhaben entwickeln, dem Schicksal der Inez von Leiria und ihrer chinesischen Nachkommen nachzugehen, die nach der Inhaftierung und dem Tod ihres Mannes 1524 in die chinesische Sklaverei verkauft worden war. Ihr begegnete Ferdinand Mendez Pinto im 91. Kapitel seiner Peregrinação: „Como chegámos a uma cidade que se dizia Sampitay, e do que passámos com uma mulher cristã que achámos nela.” Sie hatte nicht das Glück wie Frauen in Kayseri oder Bergen, die etwa um die gleiche Zeit und etwas später Rechtssubjekte waren und Handelsprivilegien übernehmen oder erwerben konnten.
Und wie ein Projekt zum anderen kommt, sollten danach auch die chinesischen Wurzeln von Nancy erschlossen werden, zum ersten Mal im 10. Jh. genannt und möglicherweise auf die chinesische Charakterisierung des Ortes nancui 難摧 – schwierig zu zerstören, zurückgehend. Dieses Projekt wurde leider nie verwirklicht, weil ein allzu ernsthafter Gutachter andere Wortgleichungen in sein ablehnendes Gutachten aufnahm, chin. quan, griech. kyon, lat. canis und chin. zhu, griech. sys, lat. sus, deutsch Sau.
Später noch im Zusammenhang mit Neuerwerbungen der Universitätsbibliothek wurde die Teilnahme des Dichters Matthias Ringmann an den Reisen Amerigo Vespuccis Thema eines erregenden Forschungsprojekts. Dies waren diffizilere Unterfangen als die Überprüfung der Echtheit der Post von Scardanelli und benötigten größere detektivische Ingeniösität als die Identifizierung Guillermo Estucleys oder die Beurteilung der Bedeutung Petrarcas für unsere Kenntnis der Entwicklung der türkischen Sprache aufgrund eines Manuskripts aus dessen Bibliothek aus dem Jahre 1303 Vocabulaire latin, persan et coman.
Erworben und Gegenstand mehrere geisteswissenschaftlicher drittmittelgeförderter Forschungsprojekte wurden auch die acht Bände Letters writ by a Turkish Spy who lived five and forty years undiscovered at Paris: Giving an Imperial Account to the Divan at Constantinople of the most remarkable Transactions of Europe: And discovering several Intrigues and Secrets of the Christian Courts (especially of that of France). Continued from the Year 1642, to the Year 1682: Written originally in Arabic, translated into Italian, and from thence into English by the Translator of the First Volume. The Twenty-sixth Edition London: Printed for A. Wilde, J. Brotherton and Sewell, C. Bathurst, E. Ballard, W. Shahan, J. and F. Rivington, W. Johnston, S. Corwder, E. and C. Dilly, R. Baldwin, C. Corbett, J. Wilkie, S. Bladon, W. Harris, and B. Collins MDCCLXX. Später kamen das italienische Original des ersten Bandes L’esploratore turco e le di liu pratiche segrete con la Porta Ottomana. Scoperte in Parigi nel regno di Luiggi in Grande, l’anno 1683, ebenso wie das französische Original der ersten drei Teile von 1683, 1684 und 1686 in einem Band L’espion dun Grand-Seigneur dazu. Diese Erwerbung wurde im Internet-Journal der Bibliothek ausführlich beschrieben unter Einschluss der Vermutungen und Gewissheiten über den und die Autoren von dem Exil-Genuesen Giovanni Paolo Marana (1642-1693) bis zu den britischen Ghostwritern Dr. Robert Midgley, William Bradshaw und des Vaters von Mrs. Manley. Die späteren Projekte beschäftigten sich mit der geistes- und genrehistorischen Bedeutung des Werkes und bemühten den Grafen Potocki ebenso wie den Grafen Speranskij, Montesquieu, Cid Hamet und Kinderbücher wie Die Reise durch das A oder Die Truhe des Herrn Sinzelius, erkannten darin die Wurzeln der Aufklärung, des Anti-Semitismus und der Modernisierung Russlands. Und mancher Euro wurde dennoch auf die Suche nach dem arabischen Originalmanuskript verschwendet.
Van Groningen war ein beschwingter Mann, der sich furchtlos vielen Arten des Rausches stellte, statt Vernebelung das Publikum ein Prickeln fein wie Champagner spüren ließ. Er besaß eine Lebenskunst, die nicht zu egoistisch war, sich in den Dienst nehmen zu lassen, aber das bedeutete eben auch, dass er mit sich selbst zufrieden war. Das Rechtfertigungsproblem der Geisteswissenschaften in der sogenannten Gesellschaft war für ihn recht einfach zu lösen, in erster Linie für die Geschichtswissenschaft: Wir müssen uns erinnern, damit wir lernen können zu vergessen. Rom und Cola die Rienzi für Mussolini, die Dänen in Norwegen, der Westen in China, die Türken in Serbien, der Westen in der Türkei, die Ungarn in Rumänien, Versailles für Deutschland, Trianon für Ungarn, eine endlose Liste, Vertreibung und Mord von hier nach dort. Die Lehre: Wir müssen wissen, was wir vergessen sollten.
Von dieser Professur sollte überdies – eine hommage an Karls Tochter, die sich aus eigener Kraft von der Magersucht befreit hatte – der Pisces-Preis vergeben werden. Auch dies war aber nur mehr eine sentimentale Erinnerung. Sie hatten sich auseinander gelebt, schwiegen meist, sprachen gelegentlich über die Tochter interessierende Themen, häufiger aber, wenn sie ein tägliches Leben teilten, gifteten sie einander irritiert an und vergossen heimliche, nicht mehr heilende Tränen darüber. Das Spielzeug der Johannes-Universität teilte sie nicht mit Karl, spöttelte vielmehr immer wieder, solange sie den Spott nicht gegen sich selbst richtete, und fühlte sich eigentlich in der konventionellen Wissenschaft innerhalb der alten Fächergrenzen am wohlsten.
Nicht besonders hoch dotiert war der Preis mit wahrscheinlich 10.000 €. Er sollte für Prosa verliehen werden, die von über sechzig Jahre alten Debutanten stammte. Als erste Arbeit in dieser Weise gewürdigt wurden die Auslassungen des fünfundachtzigjährigen Paters Mauritius S.I., der unter dem übernommenen Titel Gebrauch und Nutzen des Taback-Rauch-Clystiers und mit dem methodischen Ansatz des Das Zeit kürtzende Lust- und Spiel-Hauß von 1690, welches neben „Freuden- und Trauerspielen“ auch „itzo übliche Gast-, Zech- und Tobacksregeln“ enthielt, eine mit wissenschaftlichen im Selbstversuch gewonnenen Erkenntnissen Untersuchungen zu den Krebs verhindernden Eigenschaften des Nikotins angestellt hatte – tatsächlich starb er noch einmal zehn Jahre später auf Latein, Französisch und Tagalog nicht an Krebs, sondern weil er müde geworden war – in eine fiktive Autobiographie mit Illustrationen von Jean-Léon Géromes Wasserpfeifenschmaucherinnen eingebaut hatte. So entging er dem Vorwurf, ein junges, bereits ausgewachsenes Tabu gebrochen zu haben. In der Laudatio van Groningens, die nicht zu sehr auf den Tabak eingehen durfte, aber dennoch anspielen konnte auf den Tabak in historischer, finanzieller und diätetischer Beziehung aus dem Jahre 1845 wurden als unausgesprochen strukturbildende Elemente die Serialität textlicher Darstellung, die Suggestion linearer Entwicklungen, die Kreation von Epochen mit Charakteren hervorgehoben.
Ein weiterer Preis ohne Altersbeschränkung könnte für Dichtungen in verscholle¬nen Sprachen unter dem Namen „In lingua Getica sive Massagetica“ – von der Strabo sagte, ihre Rhythmen seien anders als die des Latein, und das in den Städten Pannoniens gesprochene Griechisch sei in der getischen Aussprache der Daker und dacoits ertrunken – verliehen werden in Erinnerung an Ovids Versuche in dieser Sprache oder Li Taibos in einer vergangenen türkischen Sprachschicht, obwohl eigentlich dieser eher eine Erinnerung an Karls Tochter bedeutete, die ihre Phantasien und Träume für den diplomatischen Dienst aufgegeben hatte. Als der Preis – vorgesehen war, dass es ein römisches Kleinod sein sollte, zunächst eine Marmorbüste der Kaiserin Livia, offensichtlich aus serieller heimischer Produktion, die am Schwarzen Meer in der Donaumündung gefunden und über den Kunsthandel erworben worden war – zum ersten Mal vergeben wurde, geschah dies allerdings für das Gedicht crissick – abergläubisch? von Dolly Pentreat auf Cornish. Eine weitere Belohnung durch diesen Preis war ein einjähriges Stipendium mit Residenzpflicht in Gütersloh mit dem Ziel, die Preisträger zu sprachlich arkanen Auslassungen, möglichst in Form und Farbe eines Nudelgedichts, über das ostwestfälische Land zu animieren. Der jeweilige Inhaber – doch beim ersten Mal war es die sich deplaciert fühlende Dolly Pentreat persönlich – wurde nicht in einem Plattenbau untergebracht, sondern in dem verschieferten Haus, Kirchstraße 21, das dem Tuchhändler Johann Wilhelm Bartels gehört hatte und provinzelle Gediegenheit und Kühle atmete. Es gab nur eine einzige Auflage, nämlich gegen Ende des Stipendiums wie in Wevelsfleet aus einem unveröffentlichten bzw. veröffentlichten Text zu lesen. Den zweiten nicht vergebenen Preis erhielt, wenn man die Ausschreibungskriterien ernst genommen hätte, nicht ganz gerechtfertigt die katalanische Übersetzung chinesischer Gedichte – als wäre auch dies eine verschollene Sprache!
Ein Großereignis im Zusammenhang mit der Verleihung dieses Preises zum ersten Mal war ein Symposium „Die Polyglottie der römischen Legionäre: Sprachen die römischen Legionäre Aramäisch, Hebräisch, Griechisch oder Latein?“ Für eine kurze Zeit wurde durch diesen Preis in Gütersloh lebendig, dass weit östlich von Czernivtzi Tyras, Olbia, Panticapaeum, Phangoria und Chersonesos gelegen waren, dass Artemis Tauropolos aus ihrer Heimat nach Attika gelangt war und wie uns die dortige Mischpoke am Leben erhalten hatte. Und schließlich ein Preis „Sprekken, plaudern und erzehlen“ für unbefangene und anrührende nicht-muttersprachliche Texte von Autoren, die nicht Eugen Onegin wie ein Ungar ins Englische übertragen, sondern ihre Gefühle in sprachlichen Fehltritten entlarven.
Auch bei der zweiten Preisverleihung schien hiermit einer gewissen Leichtfertigkeit ein Freiraum geschaffen worden zu sein. Preisträger war der Aragonese Johann-Michael Moscherosch, der den Preis für einen kurzen Scherz bekam, kurz genug, um ihn in toto zu zitieren: „Wenn ich des Morgens aufstehe, sprach Gchwebbt – ein Kroat –, so sprech ich ein gantz Abc, darin sind alle Gebett begriffen, unser Herr Gott mag sich danach die Buchstaben selbst zusammenlesen und Gebette drauss machen wie er will. Ich könts so wol nicht, er kann es noch besser.“ Sehr bald jedoch wurden auch diese Preise Teil des Verteilungsinstrumentariums einschließlich der ehrenvollen Aufgabe, ein Mitglied in die Jury des Internationalen Booker-Preises zu entsenden, und Karl erinnerte sich wehmütig und ohne Einflußmöglichkeiten in seinem Rollstuhl, dass er weder die Gedichtsammlung hatte verhindern können, die unter dem bedrückenden, see-lentötenden Einfluß einer von lauter deutscher Schlagermusik begleiteten Dam-pferfahrt auf der Mosel stehend im Bug des Schiffes entstanden und mit lietze-burgischen, künstlich aufgesetzten Einsprengseln versehen war, an die Durchbrechung der sechzig-Jahre-Grenze, als die neunundfünfzigjährige Martina Schweinsteiger aus der seit Jahrzehnten bestehenden bayerischen Opposition für ihre fiktionale Vermengung der Ökobewegung, die sie selbst begleitet und intensiv gelebt hatte, mit der älteren Fidus-Verbindung vom Anfang des 20. Jahrhunderts und der Flucht der Sozialdemokraten aus Bayern zu Beginn des 21. Jahrhunderts geehrt wurde. Nach der Verkündung ihres Sieges ließ sich die Preisträgerin, wenn auch im Dirndl, photographieren als sei sie Meryl Streep in einer ihrer Altersrollen als Mutter des manjurischen Kandidaten oder Elfriede Jelinek mit ablehnend empfangender Geste.
Trotz Stifterwünschen, trotz eindeutiger Richtlinien glaubte die universitäre Jury, ergänzt durch weitere Zeitgrößen, dem Zeitgeist folgen zu müssen, der das Spiel mit dem Alter als Greisenavantgardismus entlarvte und damit die Initiatoren be¬schämen wollte. Der letztgenannte Preis für nicht-muttersprachliche Ergüsse allerdings wurde schließlich nur noch an Deutsche vergeben, die sich auf Englisch versuchten. Das geschah, nachdem man den Preis hatte an Jacob Balde vergeben wollen, und aus München die etwas spitze Bemerkung über sein bereits erfolgtes Ableben erhielt und als Beweis dafür ein Photo seines Epitaphs aus der Neuburger Hofkirche. Auch ein weiterer Versuch, Rebb Schloime Klappzymbel wegen seiner in der galizisch-deutsch-jüdischen Volkssprache abgefaßten treuherzigen Beschreibung der von der Lemberger Judenschaft abgehalten wordenen letzten Friedensfeyer; seinem innig geliebten Freunde Reb Hersch Schmeckpüdele, als ein Denkmal des dabey genoßenen unvergeßlichen Freuden-Gefühls dargebracht den Preis zu verleihen scheiterte wegen der fehlenden Synchronie. Danach wagte man sich nicht mehr an lateinische oder provençalische Ergüsse. Sehr bald wurden unter die Preisträger auch die Werbeagenturen eingereiht, die es verstanden, mit englischen Sprüchen das Un- und Mißverständnis der Adressaten zu erregen. Hier blieb eine Niesche erhalten, in der die Initiatoren dieses Preises, Karl, Gordon und Labé, solange sie lebten, heimlich ihrem Gelächter freien Lauf lassen konnten, während die Ernsthafen den erfolgreichen Einzug der Globalität in Deutschland und Gütersloh öffentlich feiern konnten. Mit ungeteilter Begeisterung jedoch nahm Karl die Verleihung welchen Preises auch immer an A. Caillat auf, der für sein Werk „Hundertundfünfzig Arten Sardinen zuzubereiten“ neben dem Preisgeld durch eine wundersame laudatio von dem für diesen Anlaß aus Marseille eingeflogenen Henry Savournin geehrt wurde.
Solange Karl noch in der Lage war zu denken, sah er diese Zweigleisigkeit des Verstehens als Beweis für die Schönheiten im erlebten universitären Leben, wenn anläßlich der Besetzung einer Professorenstelle ein auswärtiger Gutachter einen Zweizeiler schrieb, dass eine Begutachtung, solange die Ausschreibung so sehr auf eine Person zugeschnitten sei, sich erübrige, in einem anderen Falle, dass keine andere Person besser passe als jene, die die Voraussetzungen für eine bestimmte Professur geschaffen habe.
Neben diesen Forschungen in der hefereichen Peripherie sollte aber keineswegs das Zentrum zu kurz kommen, in dem die provinziellen Gärprozesse schließlich zur Vollkommenheit gereift waren. Diese herauszuarbeiten, diese bekannt zu ma¬chen, dafür wurde der Belgier George Laine statt der inzwischen so oft ins Spiel gebrachten Frau Siborska gewonnen, der im Laufe seiner akademischen Ausbildung seine belgische Internationaliät durch ein Studium in Straßburg und Berkeley, durch Anbindung an die Mainzer Akademie und viele Forschungsjahre in Ostasien erweitert hatte. Sein leises Scheitern wegen seines Respekts vor dem Numinosen anderer und der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit, in das arcanum von Religionsgemeinschaften einzudringen, hatten seinen Erfolg in seiner eigentlichen Disziplin, der Religionswissenschaft, verhindert. Stattdessen nutzte er seine nur kurze verbliebene Zeit in Gütersloh später, sein Hobby zu vollenden, definitive annotierte Übersetzungen der japanischen klassischen Literatur für die einschlägige UNESCO-Reihe vorzubereiten und zu publizieren, ein weiterer Schritt Güterslohs, zur Bewahrung des Weltkulturerbes beizutragen. Und so konnte es schließlich in einem Nachruf auf ihn und seine Alma Mater, die ihm diese Spielwiese ermöglicht hatte in Anlehnung an ein Zitat aus einem der Klassiker, dem Genji monogatari, heißen: „Wenn Du ein Gedicht schreibst, sei es in Deiner eigenen Sprache oder auf Chinesisch, so wird Dein Name auf ewig damit verbunden bleiben. Und jeder, der es liest, wird das Gefühl genießen, sich in Deiner unmittelbaren Nähe zu befinden, genau da, neben Dir – fürwahr das bewegendste Erlebnis, das man sich vorstellen kann.“ Ein solcher Nachruf war gerechtfertigt, da er zwar übersetzte, wie der Schuster Schuhe macht, dies jedoch mit der gleichen Kunstfertigkeit tat, die den Träger nie gespürter Schuhe diese nie vergessen lassen. Es waren Mut und Respekt gewesen, die ihn davon abhielten, sich nicht in den Glauben anderer hineinzudrängen, obwohl es mit ethnologischem Forschungszwang hätte begründet werden können. Es war der gleiche Mut, der ihn zusammen mit einem Gefühl der Liebe zu einer leidenschaftlichen Freundin und manchmal schwefligen Feindin veranlaßte, die seit ihrer Geburt rechtsseitig gelähmte Angelika Melzer zu heiraten, die ihren schweren Weg in das Leben in gleicher Weise nutzte, um für die in ähnlicher Weise Behinderten zu kämpfen. Nicht nur hatten sie einen gemeinsamen Sohn, Professor Laine hatte sein Kommen nach Gütersloh an die Bedingung geknüpft, dass seine Frau über das Schicksal von und über die Erleichterungen für Behinderte lehren und forschen dürfe. Gemeinsam ertrugen sie lächelnd, dass Angelika gelegentlich nach einem ihrer zahlreichen Fernsehauftritte, eine Aufgabe, die sie mit der Mehrheit der Gütersloher Dozentenschaft teilte, wenn auch niemand ähnlich wie sie wie eine zu klein geratene überfarbige Peploskore sich selbst zurücknehmend auftrat, gefragt wurde, warum sie denn rauche, da sie doch schon krank genug sei. Und dann summte sie zu ihrer eigenen Beruhigung den Schlager „My last cigarette“ von Sidney Cater aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihre Bemühungen blieben vergeblich, wie man sah, als sie kurz vor ihrem Mann starb und ihre behinderten Freunde ihr nicht das letzte Geleit zum katholischen St. Pankratius-Friedhof geben konnten. Und eigentlich wurde sie sogar nur instrumentalisiert, als nämlich auf Betreiben und mit Hinweis auf sie von Frau Kim-Sebestyn die Johannes-Universität sich das Vorkaufsrecht für die Skulptur Alison Lapper Pregnant von Marc Quinn sicherte, die für achtzehn Monate auf dem leeren vierten Sockel auf dem Trafalgar Square aufgestellt worden war, kühn, plastisch, subversiv, aber schlechte Kunst – und überdies ohne Horatio Nelson, zu dem Professor Binding ein alter satirischer Reim in den Sinn kam: „You see that I stick to my post/Stuck up here on the top of a peg/and having before but one arm/I am now left to stand on one leg.“ Im Gegensatz zum sprichwörtlichen Fabrikanten jedoch gelang es der Johannes-Universität in kürzester Zeit, den gepflegten Rasen auf dem Campus zwischen den Inseln elyseischer Kunst erscheinen zu lassen, als sei er bereits dreihundert Jahre gepflegt worden.
Einmal zwischendurch sah sich Karl, als sein Einfluß längst soweit geschrumpft war, dass er nur mehr die Überweisungen der Hannelore-Münchberg-Stiftung an die Johannes-Universität tätigte, die längst nur noch einen bescheidenen Teil der finanziellen Möglichkeiten derselben ausmachten, dennoch mit der Professorin Kim-Sebestyn einig, als diese eine Kampagne gegen die Denaturierung der Sozial¬wohnungen entlang der Berliner Karl-Marx-Allee auslöste, allerdings aus kunstästhetischen Gründen. Er setzte seine Unterschrift auch unter ihren von vielen getragenen Aufruf, den Palast der Republik in derselben Stadt zu erhalten, da er immer noch nicht aus Kostengründen abgerissen worden war, Teil der deutschen Geschichte war, ebenso wie auch der deutschen ge- und mißglückten Architektur.
Mit diesen diesem nucleus angedockten Professuren wurde ein Anfang gemacht, an der Johannes-Universität auch die außereuropäischen Philologien, die man seit etwa dreißig Jahren Regionalwissenschaften nannte, zu entwickeln, in denen auf gleicher Augenhöhe die Emanzipation der Maya in Guatemala und das niedliche Spielzeug China bearbeitet, behandelt, erforscht und rezipiert und propagiert wurden. Hierbei machte die Johannes-Universität eine ihrer schmerzlichen Erfahrungen mit dem Versuch, in globalem Maßstab das Fach Khmeristik endlich auch in Deutschland heimisch werden zu lassen, es nicht auf der kleinen vor vielen Jahren vor sich hin rußenden Flamme ostdeutschen kambodianischen Sprachunterrichts köcheln zu lassen, sondern die Hochzeit französischer Forschung an der École in Hanoi wiederzubeleben. Der unter wenigen ausgeguckte Bewerber, befürwortet und hochgelobt von der kleinen Schar der europäischen Khmeristen, kam, blieb einen Sommer lang, um in den folgenden Semesterferien in den Zeitungen – in Deutschland natürlich nur in den quality-papers – als neuer Ministerpräsident Kambodias genannt zu werden. Schließlich konkretisierte sich der Verdacht, dass er mit den bedeutenden europäischen Khmeristen paktiert hatte, von denen nun unter günstigsten Verhandlungsbedingungen ein jüngeres, rundliches, scheinbar freundliches Wesen in den Ring steigen konnte, das die Sprachwissenschaft neu entdeckt hatte. Sonst hätte die Universität alle diesbezüglichen Pläne fahren lassen müssen, ostasiatisch ihr Gesicht verloren und eine Rosine der Wissenschaft nie gewonnen. Aber natürlich war die um die Ecke lugende Weltmacht China genug, die überdies mit weiteren Spenden und Stiftungen den Oligarchen Konkurrenz machte und dadurch Eingreifmöglichkeiten in die Besetzung von Professuren für Mathematik, Informatik und Politik erhielt.

Karl hatte einen weiteren Freund, nicht Wim Wenders, der eh schon durch die deutschen Universitäten wanderte und dem deutschen Film eine akademische Basis verschaffte, sondern einen Stehgeiger, Ion Manoilescu, der auf Jahrzehnte Erfahrung zurückblicken konnte und sich auf Stéphane Grappelli berief, den er im Toit de Paris kennengelernt hatte, somit geeignet war, dem Jazz den ihm gebührenden Platz in der universitären Landschaft einzuräumen und ihm gleichzeitig den Vergnügungsfaktor zurückzugeben. Manoilescu sprang unbeschwert und bruchlos von E zu U und umgekehrt, so dass mit dem Pfennigabsatz, eingegraben in die nach dem entfallenen Revolver tastende Hand des sterbenden Gangsters, das Verbrechen verkehrt wurde. Er war eine dieser Begabungen, die den Witz und selbst – in richtiger Mischung – die Zote zur Kunst machten.
Auch Karl hatte 1960 Grappelli in Hamburg auf der Straße kennengelernt, als er noch ins Theater ging und Schlange stand, um Gründgens vom Olymp aus zu sehen, einen Abend lang nach einem kurzen Abstecher nach St. Georg, wurde von ihm bezaubert, ohne zu wissen, wer er war. Dies wäre ein Fall wahren Praxisbezugs, wodurch aber einmal mehr – wie bei Beuys – gezeigt werden konnte, wie unlösbar Handwerk mit Kunst verbunden war und gleichzeitig der Mut zum Traum geweckt wurde, in einer Zeit in der der Mut nicht nur verpufft, sondern wirklich wieder etwas bringen kann, in einer Aufbruchzeit, in der junge begabte Leute eine Chance haben dabeizusein, nicht bloß zuzuschauen, den Mut aufbringen, nicht Zahnmedizin zu studieren, sondern einen Traum zu verwirklichen, Altersfalten nicht wegzuschminken, ihre Schönheit anzuerkennen, also eine Professur fundamentalsten Wissens über die Generationen hinweg voller Disziplin und Charme.
Für diesen Versuch, eine randständige Professur dem nucleus der außereuropäischen Kunst anzugliedern, mußte Karl jedoch auf andere Beziehungen als seine universitären zurückgreifen, da Frau Jentner niemanden für geeigneter hielt als Frau Siborska. Er benötigte politische Bereitschaft und Unterstützung. Glücklicherweise hatte er vergessen, dass Ion nicht nur einen deutschen Pass besaß, sondern neben immensen darstellerischen und rhetorischen und musikalischen Fähigkeiten Augenarzt, Graphiker, Collagist, Regisseur und Philosoph war, sich lediglich zu philosophischer Praxis in die Musik zurückgezogen hatte. Hier hatte Karl es versäumt, seine Dossiers zu Rate zu ziehen, weil er geglaubt hatte, Ion hinreichend zu kennen. Dass er ihn schätzte mit einer gewissen sentimentalen Emotionalität, war ihm bis zur Überlegung, ihn in Gütersloh einzubinden, genug gewesen. Eher war es eine Frage, ob Ion in seiner Rolle als Diogenes überhaupt einzubinden war oder ob er nicht aus Vorsicht vor möglicher Manipulation sich verweigern werde. Was aber Ion vor allen anderen auszeichnete, war sein von vorgeschobener Vielfältigkeit und Trinkfreudigkeit verborgener bäuerlicher Arbeitsethos. Begabung, aber nicht Genie hatte ihn im Verein mit diesem zu einer festen Größe in der internationalen Kulturszene werden lassen. Er war nicht so sehr ein Schöpfer als ein kuratorischer Prozessor und damit Impulsgeber für die Gesellschaft. Karl machte sich eine mentale Notiz, dass ein Telephonat nach Zürich nicht genügen werde und er sich persönlich wie ein erfolgreicher Fußballmanager dorthin begeben müsse, nachdem er die Chancen für eine solche Professur und eine solche Person vorher festgeklopft hatte.
Im Zusammenhang mit dieser Professur trat Karl an die politisch einflußreichen Kreise Güterslohs heran, die Theaterpläne der Stadt aufgreifend. Statt zu einer Provinzposse zu verkommen zwischen Bielefelder Avantgarde und den Ruhrfestspielen oder Spielball mit dem spitzen Bleistift spielender banausiger Bürger zu werden, die durch Volksbegehren Güterslohs Entkommen aus provinziellem Mief verhindern wollten, sollte das Theater Bestandteil des universitären Campus werden. Ion Manoilescu als Multitalent ohne Vorurteile, wenn auch immer noch trauernd um Federico García Lorca und voll Zorn auf das nie trocknende Blut nach dem Verbrechen in Granada – bereits als Kind hatte er die Nikolausstiefel für die Kinder der Loyalisten aus dem spanischen Bürgerkrieg gefüllt –, gegenüber gehobenen und niederen Künsten wäre gewiß die richtige Person, die Mischung von internationalem Anspruch und lokalen Bedürfnissen zu finden. So formulierte Karl es nicht gegenüber den Entscheidungsträgern, sondern mit der universellen Freude an unterhaltsamer Intellektualität.
Das universitäre Theater sollte Festspiel- und Repertoiretheater zugleich sein und sich nicht scheuen, auch einen Schimmelhengst auf die Bühne zu bringen. Die Rolle der Stadt sah er im Unterhalt des Betriebs, der Bau, einer der Hangars, der außen weiterhin die Filigranität eines Stahlgerüsts erkennen ließ, sollte im Inneren durch Betonmauern und Holzmuscheln Akustik und Theateratmosphäre gewährleisten. Auch der ideale Baumeister war bereits gefunden, einmal mehr Frank O. Gehry, und damit war deutlich, dass auch Karl nicht immer originelle Ideen hatte, sondern an das Bard College dachte ebenso wie an die vorsichtigen Ansätze in Witten-Herdecke, die darstellende Kunst als Brennstoff in die Wissenschaft hineinzunehmen. Als Finanzmodell wurde eine Privatisierungslösung, ein Betreibermodell wie für die 88 Schulen im Kreise Offenbach angestrebt. Der Glaube an die Effizienz privatwirtschaftlichen Engagements sollte mit künftigen Zahlen bewiesen werden.
Und gewürdigt werden sollte mit dieser Professur und dem dazugehörenden Thea¬ter der größte Sohn Güterslohs, Hans-Werner Henze. Und doch wurde das Theater nicht von Gehry gebaut. Die Nähe zu Herford ließ eine Konventionalstrafe billiger erscheinen als den Vergleich mit jener Provinzstadt. Staatdessen verwirklichte man einen an der Klosterkirche von Neviges orientierten Entwurf von Gottfried Böhm.
Ion Manoilescu diente der Johannes-Universität im Laufe der Zeit ungewollt in ganz anderer Weise. Er fuhr nach Berlin, um sich im Ministerium vorzustellen und begegnete Eva Pambach. Es trafen eine theoretische und eine künstlerische Seele aufeinander, die sich in den lächelnden Pragmatismus des anderen verliebten. Berlin war nie ein Ziel Manoilescus gewesen, den seine kanakische Vergangenheit zu einem Repräsentanten der Welt westlich des Rheins gemacht hatte.
Sie war Mitte vierzig, immer noch tatsächlich blond und hatte sich trotz aller Enttäuschungen und sublimierter Sehnsüchte ihr natürliches Lachen bewahrt, er, ein wenig älter, nur ein ganz klein wenig verlebt, bewies trotz seiner latenten Depression immer wieder seine angeborene Heiterkeit und idiosynkratische Ehrlichkeit. Vielleicht wären sie, zugegebener Maßen mit dem Eindruck gegenseitiger Sympathie auseinandergegangen, hätte nicht Eva Pambach ihn wenig später auf dem Nachhauseweg durch ein Fenster in der Nolle in den S-Bahnbögen am Bahnhof Friedrichstraße entdeckt und sich einem gewollten Impuls folgend entschlossen hineinzugehen und ihn zu fragen, ob sie ihm bei einer Tasse Kaffee Gesellschaft leisten könne. Dies war der unaufhaltsame Anfang einer der seltenen wunderbaren Freundschaften und mehr. Sie erzählte von ihrem eigentlichen Interesse, der Ernährungssoziologie, von ihrer Aufgabe, manchmal törichte Wissenschaftspolitik in Gremien sinnvoll umzusetzen oder im Notfall zu unterlaufen, er erzählte von seinen Theaterplänen in Gütersloh, aber vor allem und immer wieder von sich selbst, von sich selbst und von sich selbst, um sie zum Lachen zu bringen. Er sah sie an und hätte am liebsten ihren im Lachen großzügigen Mund geküßt. Schnell, ohne den Grund zu bekennen, entschloß er sich, seinen Aufenthalt in Berlin zu verlängern und fragte sie, ob er sie am nächsten Abend zum Essen einladen dürfe, und sie wunderte sich ein wenig darüber, dass sie sofort zusagte, als sei dies ein Augenblick im Leben, den man nicht vertändeln dürfe. Auf ihren Rat wollte er einen Tisch im Engelbecken am Lietzensee bestellen und sagte: „Ich werde es schon finden.“ „Ein bißchen ein BoBo-Platz,“ sagte sie, „ein Ort der gezähmten Freiheit, wo der Koch meist nicht verliebt ist. Aber, passieren kann es schon.“
Viel diskreter als in seinen wachen Phantasien träumte er in der Nacht, dass sie in einem sonnendurchfluteten Wintergarten saßen und zu beider tiefster Zufriedenheit gemeinsam eine wunderbare Welt entwarfen. Als sei es ein Schicksal, das man nicht versuchen dürfe, griffen beide zu, waren sich ihrer Beziehung sicher, und die Gemeinschaft dauerte bis zum Tode Manoilescus und darüber hinaus, sie meist in Berlin, er in Gütersloh, sich voller Freude an einem dieser beiden Orte oder einem dritten treffend. Sie verbargen ihre Beziehung nicht, schlossen aber fast immer fast unabsichtlich andere aus ihrem Zusammensein aus.
Eingeweiht wurde das Theater später mit Ovids Metamorphosen, und ähnlich gut wie in Syrakus vor wenigen Jahren war die Rolle Erysichthons besetzt, der sich selbst allmählich verschlingend mit einem Rülpser verschwand, und nicht ein Schimmelhengst, sondern drei Rappen auf der Bühne begeisterten das Publikum zwischen Ernst, Satire und vordergründigem Vergnügen. Eingekauft wurde auf Drängen Manoilescus danach, da auch Berlin dies zu tun pflegte, Jossi Wielers Inszenierung von Claudels „Mittagswende“ in den Münchner Kammerspielen, allein schon deshalb ein Erfolg, weil damit der Duft der großen weiten Welt einmal mehr bis nach Gütersloh gelangte. Alle ernsthaften Besucher beschäftigte noch lange nach dem Ereignis das Gastspiel einer weiteren Inszenierung der Münchner Kammerspiele, die Antigone Lars-Ole Walburgs mit Julia Jentsch in der Titelrolle. Daraus ergab sich eine mehrjährige Zusammenarbeit der Johannes-Universität mit diesem Theater.
Später brachte Manoilescu unter dem Pseudonym Pierre Gringore, weniger Dichter als Arrangeur, eine eigene sentimentalische Revue „Der Abend Sarah Bernards im Opernhaus von Manaus“ heraus, die nicht übermäßig originell in Anlehnung an Jacques Offenbach die Verführung der dekadenten jungen zweiten Generation der Holzbarone durch die alt gewordene Bernard aufspießte, und doch war es witzig genug, so dass ein großer Teil der wissenderen Anwesenden die jeunesse dorée von Gütersloh, von Wuppertal in den Auktionshäusern, von Schweinfurt in Motorbooten auf dem Genfer See erkannte, wo sie dem Auspuff ihrer Boote Kondome übergestülpt hatten oder zu Tode erschöpft unter den rissigen Händen der täglich greifbaren Putzfrau gefunden wurden. Wenn auch manches davon schon Geschichte war und nur die verständliche folie mit verständnisvoller Sympathie aufs Korn genommen wurde, hätte dieses Ereignis der Johannes-Universität fast wichtige Sponsoren gekostet, als die Süddeutsche Zeitung den Text entschlüsselte und damit die gerechte und solidarische Empörung des Stadtrates von Gütersloh auslöste. Das Ereignis drohte, außer Kontrolle zu geraten, hätte nicht eine bedeutende Minderheit der angeblich Betroffenen klug reagiert und ihre tatsächliche Dekadenz durch die Fähigkeit bewiesen, über diese Darstellung und sich selbst zu lachen, zum Teil klug geführt von Eva Pambach, die nachsichtig lächelnd nicht verborgen, aber unter vielen im Parkett saß und den Einfällen Manoilescus im Gespräch das richtige leichte Gewicht gab, indem sie dessen abgöttische Verehrung für Madeleine Robinson entlarvte. Schließlich gab es ein sogar positives Ergebnis. Die zweite Generation erkannte sich auch in Hannelore Münchberg wieder und gründete einen Förderverein für die Universität, der immer wieder bereit war, die oft nicht ganz billigen Aktivitäten Manoilescus am Rande universitären Seins zu unterstützen, manchmal mehrfach und kaum noch erkennbar gefiltert, wenn dieser als Organisator einer Ausstellung des transsylvanischen Marinemalers ihrer Majestäten Georg IV., Wilhelm IV. und Victoria, John Christian Schetky, auftrat.
Der glückliche Ausgang veranlaßte Manoilescu, nach zwei vergeblichen Versuchen, Mykola Kulish wieder für die Bühne zu gewinnen und nach merkwürdigen Gedankensprüngen die Hitparade Stalins mit Isaak Dunajewski an der Spitze zu lancieren, ein weiteres selbst entworfenes Tableau auf die Gütersloher Bühne zu bringen, und es gelang ihm, die gealterte Isabelle Huppert für eine Saison als Hauptdarstellerin seiner „Menschlichen Komödie“ zu gewinnen, in der er den Erwartungen Karls entsprechend den Aufstieg der deutschen Wissenschaft, ihre Befruchtung der Provinz aufs Korn nahm, allerdings zu sehr auf Französisch verfremdet, als dass die Betroffenen darüber hätten lachen können. Er legte den Schleier der Theorie über alle privaten Interessen. Er zeigte die Geburt des persönlichen Erfolges aus dem artikulierten Gemeininteresse. Und ein Wangenkuß der siebzigjährigen Huppert vermittelte immer noch die gleiche Spannung und verführerische Furcht vor Gefährdung wie vor dreißig Jahren oder mehr die Pianistin. So war das Engagement der Huppert zunächst für Gütersloh ein Jahrhundertereignis, das die events der hospitierenden Literaturprofessoren von Franzen über Norfolk bis Zaimoğlu für die folgenden drei Jahre in den Schatten stellte. Zusammen mit ihr wurden die Gestalten der Gütersloher haute volée und die Angehörigen der Universität durch im Interesse der Anonymisierung vertauschte in die Geschichte zurückversetzte Rollen auf die Bühne gebracht. Auch dieses Ereignis bewegte sich nach einigen wegen der Leichtigkeit des Seins erfolgreichen Aufführungen auf einen Eklat zu, als sich Frau Professor Grebenstein in der Rolle der Emma Vogt, der Melpomene von Gütersloh, die von Valeria Bruni-Tedeschi übernommen worden war, zu erkennen glaubte und dies auf einer Sitzung des universitären Aufsichtsrates piquiert zur Sprache brachte, klug genug, es überaus vorsichtig zu tun, doch so gekränkt, dass Otto und Gordon sie nur mit Mühe von törichten Reaktionen abhalten konnten und einmal mehr die für die Universität hinreichend bedeutsame Eva Pambach unterstützend eingriff.
Manoilescu war ein Demokrat der Kunst, führte dann wieder mit Erfolg in seiner tieferen, schalkhaften Bedeutung unbemerkt von der Gütersloher universitären Elite die Thesmophoriazusae des Aristophanes auf und träumte – allerdings vergeblich, denn nicht alles war durchsetzbar und den deutschen Kulturtraditionen entsprechend – davon, trotz Munnings ein Pendant zur Royal Academy zu gründen. Ein weiteres groß gemachtes Ereignis war eine Ausstellung im Veerhoffhaus am Alten Kirchplatz. Zentraler Gegenstand waren die hysterischen Künstlerporträts des Wiener Photographen Anton Josef Trcka mit dem innersten Zentrum der Porträts Egon Schieles, mit den äußeren Ringen, in denen der Einfluß von Stanislaw Witkiewicz auf Trcka und umgekehrt dessen Verbindungen zu Kubin, Soutter und Artaud dokumentiert wurden. Denn dies war die Gelegenheit, einmal mehr nach Gütersloh polnischen, östereichischen und französischen Charme und Esprit zu importieren. Aus der Anwesenheit der Botschafter dieser drei Länder, zwei zumindest von ihnen auch anerkannte Literaten in ihrer Heimat, der Anwesenheit von Galeristen wie Berinson aus Berlin, der Teilnahme von Vertretern der Kunstszene dieser Länder und Deutschlands ergaben sich zahllose Möglichkeiten der Zusammenarbeit und schließlich ein von der europäischen Union mit einer erklecklichen Summe gefördertes transnationales Projekt zum psychogrammatischen Manierismus in der europäischen Kunst- und Kulturszene des frühen 20. Jahrhunderts. Selbstverständlich war das Zusammentreffen des lebendigen europäischen Geistes anläßlich der Eröffnung das fruchtbarste Ereignis, wurde zwar von den unvergeßlichen Gründungsfeierlichkeiten vor drei Jahren in den Schatten gestellt, doch in seiner Fast-Intimität war es eine gleichgesinntere Gesellschaft mit einem gezielteren und inhaltsreicheren Gedankenaustausch. Einmal mehr zogen sich die Teilnehmer nach der Eröffnung, nach den Vorträgen und Diskussionen eines dreitägigen Symposiums in das Hotel Klosterpforte in Marienfeld zurück, wo sie zum Teil bis in die frühen Morgenstunden, von der interessierten Öffentlichkeit nicht abgelenkt, in Anlehnung an das Treffen in Telgte ihre Eindrücke, Auffassungen und Wünsche artikulierten und vertieften und mit Gesichtern endeten, die merkwürdig anziehend in Fragmente zersprungen waren. Bis zum letzten Tag arbeiteten alle überaus konzentriert, indem sie sich an ihren Drinks in geschliffenen Gläsern festhielten, amatorische Reminiszenzen aus der ganzen Welt auffrischten, unrealistische Möglichkeiten der Institutionalisierung diskutierten, auf ihren Handies von Frau und Freundin angerufen wurden, um heimische oder soziale Probleme lösen zu helfen, oder, soweit sie Angehörige der Johannes-Universität waren, Unterschriftsmappen mit geflüsterten Bemerkungen hereingereicht zu bekommen. Dann begab man sich nach einigen trockenen Martinis in den Restauranttrakt, und am dreitägigen Ende wurden alle vom universitätseigenen Fuhrpark nach Hause, zum Bahnhof oder zum Flughafen Düsseldorf gebracht. Dieses Ereignis wurde zum öffentlichkeitswirksamen Aufmacher im Jahresrechenschaftsbericht der Universität abzüglich aller privaten Unternehmungen und Erlebnisse.
Ein Resultat dieser Veranstaltung war, dass angesichts der Porträtsequenzen der Gedanke einer Nachfolgeveranstaltung zur Theorie des Comics verbunden mit einer Ausstellung der Comics‘ Mark Beyers und einer Auktion fünfzig und sechzig Jahre alter Jahrgänge von Spirou, Tintin und Pilote ganz natürlich aufkam. Große Erfolge lassen sich nicht ohne weiteres wiederholen. Obwohl überregional und gar international wahrgenommen und rezipiert, sprang der Funke gegen alle Erwartung nicht auf die Güterloher über. Man hatte bei der Termingestaltung die seit langem etablierten Haller Bachtage vergessen, die Anfang Februar stattzufinden pflegten. Dabei hätte ein Blick in das Heimatjahrbuch Kreis Gütersloh genügt, um zu sehen, dass die Gütersloher Aktivitäten metropolitane Ausmaße angenommen und eine gewisse Sättigung hervorgerufen hatten. Zu allem Überfluß gab es anläßlich der Bachtage auch den erfolgreichen Versuch, unter erschwerten Bedingungen von Kloster Marienfeld bis zum alten Bücherbunker des Bertelsmann-Verlages in einer Musikerkette den Würzburgern den Weltrekord für den längsten Ton der Welt zu entreißen.
Wissenschaftlich jedoch zeigte sich der Comic als geeignetes Medium der Interdisziplinarität, das nicht allein mit den Methoden der Wissenschaften der Künste, sondern nur unter Einbeziehung von Technik-, Medien-, Sozial- und Politikgeschichte wirklich erfaßt werden kann. Nicht gelöst wurde der Widerspruch, im Mainstream Underground sein zu wollen, selbst als Theoretiker. Doch gab es überaus erhellende Beiträge. Die Poptheoretikerin Gisela Grabert sah im japanischen Manga die Zukunft. Und Zukunft sei das Manga gerade, weil es die Vergangenheit nostalgisch betrachte. Comics können nicht sterben, weil sie auf sich als immer schon ideale Vergangenheit geblickt haben. So sei auch die Rede, dass der Comic sterbe, der lebendigste Teil des Diskurses über Comics. Der ursprüngliche Verlust als Ermöglichung des Sprechens, die Materialität der Zeichen, das Simulacrum im Deleuzeschen Sinne – all das sind Theoreme, die einmal Underground waren und die deshalb in der Anti-Kunst des Undergrounds ihnen sympathische Gegenstände gefunden hatten. Gegen die Feindschaft, gegen die Narratologie in den etablierten Wissenschaften der Künste stellten Asfa-Wossen Asserate in seiner gewohnten Sanftmut die äthiopischen Zyklen Salomos und der Königin von Saba, van Groningen die begleitenden Illustrationen in den volkstümlichen chinesischen Drucken von Romanen und populären Enzyklopädien seit der Songzeit, andere die Grabfresken und –reliefs von Ägypten bis China verbunden mit der Frage, ob nicht das Bild älter sei als das Wort und wie sich malen und schreiben ethymologisch zueinander verhalten, wenn das Wort zu einem geheimen Sendschreiben werden kann. Die große Dame der performativen Ikonographie, Zita Hedren von der Chicago University, verbiß sich elegant in die Ausführungen Gisela Graberts. Nicht nostalgisch werde die Vergangenheit betrachtet, hier werde mit Archetypen gearbeitet, die stark genug seien, Gegenwart und Vergangenheit ineinander aufgehen zu lassen. Und sie verwies auf die Versuche Richard F. Outcaults mit Sprechblasen, die dieser am 4. Oktober 1896 unternommen hatte. Auch ein Beitrag von irgendjemandem über die Subversivität von Sex fehlte nicht.
Wäre der Termin nicht so unglücklich gewählt gewesen, dann hätten auch die Gütersloher gemerkt, dass hier die Chance eines großen Ereignisses bestand, die Chance eines Schöpfungsaugenblicks vertan wurde, weil wegen der Haller Bachtage nicht genügend Publizität geschaffen werden konnte. Das übliche Hotel, die Klosterpforte, war selbstverständlich für die Teilnehmer rechtzeitig gebucht worden, für das weitere, nicht am Tagungsprozeß beteiligte, doch interessierte Publikum, für die Wissenschafts- und Feuilletonjournalisten hatte man jedoch keine Vorbereitungen getroffen oder treffen können. Ein Randergebnis, jedoch nicht für die Betroffenen, war, dass Manoilescu zwei Landsleuten die Bemalung des Innen raums der Irenenkirche in Homs vermitteln konnte. Aber Manoilescu war auch in der zweiten Lebenshälfte noch lernfähig, und nach diesem nicht wirklichen Fiasko, aber doch etwas mißglückten Unternehmen lernte er, alle möglichen Faktoren zu berücksichtigen, so erfolgreich, dass er seinen Aktionskreis immer mehr erweiterte. Nicht mehr war er nur diskret durch seine persönliche Freundschaft für die Johannes-Universität von Nutzen, sondern ganz offen übernahm er überaus erfolgreich weitere Aufgaben als Event-Manager der großen Firmen in Gütersloh und anderswo, bis hin zu den richtigen Kaffeetassen, dem letzten Zahnstocher, der Dekoration des Raumes, wenn es paßte, mit den hinterhältigen Szenen Katrine Ærtebjergs „The animals always came to her“, mit der richtigen hierarchischen Ordnung mit den richtigen Gästen. Und, pragmatisch wie er war, umgab er sich mit den richtigen Mitarbeitern vom Veranstaltungskaufmann und Betriebswirt bis zum European Master in Congress Management, einem Absolventen des Studiengangs Congress- und Tagungsmanagement der Universität Bielefeld und des Zentrums für wissenschaftliche Weiterbildung. Auch führte er schließlich, wenn auch im PC, sein eigenes Dossier über die Verwendungsfähigkeit mehr oder weniger gebildeter Damen und Herren, von denen erwartet wurde, dass sie die berühmten Bücher der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Waschmaschine, die Schwankungen des Hansaeng-Indexes kannten und gleichzeitig von ausgesuchter Gefälligkeit waren. Daran lag ihm besonders, als er in Erinnerung an seine Niederlage während der Bach-Tage ein zweites zivilisiertes Musikfestival schuf für Baldassare Galuppi, um alte Ohrwürmer neu zu beleben gegen Bach im Synthesizer und Vivaldi, bei dem nur der Cellist durchhalten mußte, während die Violinen sich ablösen durften.
Erregend, aber kaum öffentlich erfolgreich, war eine Ausstellung von Günther Brus, der erigierte Penisse salamiartig aufschnitt, beabsichtigt erfolgreicher die Übernahme einer Ausstellung des erstaunlichen Orientmalers, Leopold Carl Müller, aus der Wiener Hermes-Villa, in der die Gütersloher ihren verheimlichten Geschmack wiedererkannten; und ein wahrer Erfolg die Verkaufsausstellung der neuen Photoserie „Shanghai“ von Bettina Rheims, die es dem Gütersloher Mittelstand erlaubte, seine unverfängliche chinesische Zigeunerin mit schwarzem liebenden Schwan für 15.000 € zu erwerben. Bei Verkaufsausstellungen allerdings fühlte sich das kaufkräftige Gütersloher Publikum ein wenig durch die aggressiven Käufe russischer Oligarchen und chinesischer Millionäre verunsichert, wenn so geschätzte Bilder von Roubaud wie „Tscherkessenreiter im Aufbruch zum Ge¬fecht“ oder „Frauenraub eines mongolischen Reiters“ zu überhöhten Preisen nach Rußland oder Kopfkissenbücher und buddhistische Plastiken nach China zurückgingen. Vergeblich hatte Frau Kim-Sebestyn bei Philip Andreievič Maliavin mitgesteigert, aber mit 225.000 € wurde selbst die im Universitätsetat vorgesehene Summe für russische Kunst ein wenig überschritten. Um so erfreuter waren die Auktionshäuser und Kunsthändler.
Zwischen Batman im Osten der Türkei, als eine Zugfahrkarte von Izmir nach Selçuk 1. Klasse nur 4,84 T.L. kostete, und Berlin, das eine ein schlechter, das andere ein guter Platz, um Kunst zu machen, versuchte Manoilescu, Gütersloh den Rang, den Köln als Kunststadt verloren hatte, zurückzugeben, zum ersten Mal zu geben und zum Denken zu zwingen, ihm eine bisher nicht wahrgenommene Tiefe zu geben. Und nie vorher erschien Gütersloh so oft auf den Seiten des deutschen und gelegentlich sogar internationalen Feuilletons und eben auch nicht nur als arbiter scientiarum vel Germaniae vel Europae aufgrund einer der seltenen reißerischen Verlautbarungen des Hochschulzentrums oder wegen einer unerwarteten Leistung des 1. FC Gütersloh gegen Shanghai Shenhua, sondern, weil er die Universität in die Gesellschaft hineintrug. Er schärfte unsere Augen, indem er wußte, wie den Alltag zu rahmen und ihn bis auf seine großartig schreckliche Gemeinheit zu entblößen, und so konnten wir Dinge bemerken, wenn wir durch die Stadt zogen.
Aus anderen Gründen nicht geglückt war die Einladung des indonesischen Superstars Inul. Es fehlte die Zugehörigkeit zur und Wiedererkennbarkeit aus der deutschen und angelsächsischen Popszene. Zu Hause war sie längst vom religiösen Fundamentalismus zur Seite gedrängt worden, so dass sie nur mehr von dokumentarischem Interesse war. Daher endete ihr Auftritt nach einem schlecht besuchten Konzert auf dem Universitätsgelände nur noch zum Zwecke seiner wissenschaftlichen Bearbeitung, die ihren wichtigsten Ausdruck in einem publizierten Interview mit ihr fand, dessen Schlußfolgerung darin bestand, dass Inuls energische Körperpräsenz an den Grenzen zur Scham so etwas wie den Gegenpol zum Klischee der zarten, dienenden Asiatin markiere. Sie zeigte unveredelte Potenz und repräsentierte mit ihrer ganzen Person das KreatürlichBiologische, und man sprach von ihr in der Folgezeit nur als einer armen, barbarischen und lediglich instinktiven Frau.
Wahrhaft geglückt aber war eine kleinodische Ausstellung, die enzyklopädisches Wissen in bildhafter Form um die Darstellungen der Wissenschaften von Luca Cambiaso gruppierte, bevor diese selten geschauten Kostbarkeiten in einer Privatsammlung verschwanden.

Gelegentlich erkannten Karl oder andere Entscheidungsträger nicht die verborgenen Resentiments, die stillen Verletzungen, die um so lauter ausfielen, wenn es dazu eine Gelegenheit gab, in nicht betroffener Kneipenrunde, zu loyalen Mitarbeitern oder wenn man sich dem Telephon verweigern konnte. Zwei akademische Freunde Karls – das hatte er zumindest lange unbefangen geglaubt – waren untereinander zerstritten, weil der eine seine Entwürfe auf verschiedene Serien von Karteikarten schrieb, der andere in Anlehnung an Truman Capote die Farbe des Papiers wechselte, beide nicht ganz das Medium des PCs internalisiert hatten. Sie waren an der selben Universität, im selben Institut und forderten beide mit anderer Stimme seine Parteilichkeit ein, wollten ihm den Verkehr mit dem anderen untersagen, taten dies jedoch nicht in aller Deutlichkeit, sondern in schweigender Erwartungshaltung. Immer fiel er jeweils dem anderen in den Rücken, und so konnte er keinen von beiden in einer Zeit, in der es gut gewesen wäre, alle Kräfte gemeinsam zu mobilisieren, in seine Überlegungen einbeziehen. Gelegentlich auch mißglückte die Berufungspolitik ein wenig, so im Falle Kaspar Kohlers. Er war bedeutend genug in seinem Fach als Finanzwissenschaftler. Seine Theorie der irrationalen Entscheidungsabläufe auf dem Geldmarkt war hinreichend unorthodox, ihn interessant erscheinen zu lassen, man war nur in der Kommission nicht seines verkrümmten Selbstbewußtseins gewahr geworden, seiner Ängste, nicht gewürdigt zu werden, seines oft vergeblichen Wunsches, gesehen und anerkannt und in seiner Größe erkannt zu werden. Er schien sich zu fühlen wie ein aufgestiegener Gebrauchtwagenhändler, der seine Vergangenheit nicht vergessen konnte. Immer neue Pläne gingen von ihm aus, die jedoch nicht immer den weiteren Zielen der Universität gerecht wurden. So warf er sich auf die Gesundheitspolitik und formulierte seine Erkenntnisse in dem Dreiklang „Unter-, Über- und Fehlversorgung“. Mit statistischen Mitteln bewies er, dass die Deutschen häufiger zum Arzt gehen als andere Nationen, ohne dabei länger zu leben. Schließlich stieß er nicht nur die Bundesregierung vor den Kopf, sondern ebenso die privaten Krankenkassen und die Pharmaindustrie, so dass von diesen wichtigen Geldgebern über einen längeren Zeitraum keine Mittel mehr kamen. Alle Lakaien um ihn sahen ihn nicht genug, und so wuselte er bis zur Unerträglichkeit umher, grabschte nach Aufgaben und Bedeutsamkeit, der er nicht entsprechen konnte. Und so blieben die Aufgaben, die er so gierig übernahm, halbfertig liegen, und er erfüllte die andern mit mitleidiger Unduldsamkeit. Dennoch konnte die Johannes-Universität auch ihn verkraften, integrieren, so dass er schließlich auf die, die ihn nicht von früher kannten, den Eindruck eines feinsinnigen Sträflings machte. Sehr bald ließ man ihn die klugen Eröffnungsreden, Dankesreden, Einführungen bei akademischen Ehrungen halten, ließ ihm Bedeutung und die Chance, auf seinem Institutsbriefkopf, mit seinem Namen als Direktor Einladungen auszusprechen, mit denen Dankesschulden abgegolten, nicht aber wichtige Entscheidungen herbeigeführt wurden.
Kaspar Kohler schied im inneren Frieden aus der Johannes-Universität, vor der Zeit, weil ihn die zarte, verletzliche Komplizität Ritas, bis dahin mit einem Düsseldorfer Wäschereimanager verheiratet und mit drei inzwischen fast erwachsenen Kindern, die alle, vom Mann bis zu den Kindern, sie ausgezehrt hatten, aber nicht ihre Gedanken hatten töten können, rettete und in eine späte erfüllte Liebe hineinführte, die sie beide fast ersticken ließ vor Glück, in ihm sein persönliches spätsommerliches Glücksgefühl erzeugte, wenn sie nach der Vereinigung nur in einem kurzen Hemd schweigend und zufrieden, gedankenlos auf der Bettkante hockte und sich auf ihre Hände stützte. Er hatte sie in der Schrobsdorfschen Buchhandlung in Düsseldorf kennengelernt, wo sie als Aushilfe in der Weihnachtszeit arbeitete. So sehr berührte ihn ihr traurig freundliches Lächeln unter verhangenen Augen und ihre etwas schwache Stimme, dass er das Buch von Kosztolányi zuerst bei ihr kaufte, um sie danach zu fragen, ob sie es kenne und es ihr dann zum Dank für das schönste Lächeln des fast vergangenen Jahres zu schenken. Es war ein sehr konstruierter Beginn, doch paßte er zu beider Stimmungslage. Sie wagten es beide, sich immer häufiger zu Milchkaffee bei Starbucks zu treffen, im japanischen Garten spazieren zu gehen, oder in den Abendstunden am Rhein, hinauf bis zur ehernen Schlange. Sie vergaßen ihren Hunger, und nie waren Berührungen sanfter. Beide fanden in eine wunderbare stille Zufriedenheit, weil beide gaben, was sie bis dahin nicht besessen hatten. Dies war auch die Zeit, in der er mit einem beherzten Kopfsprung ins Wasser den Hamster der Nachbarskinder vor dem Ertrinken rettete. Beide bekannten sich zueinander und nahmen nicht wahr, dass mancher in ihrer Umgebung sie als Madonna mit Kind bezeichnete, sie durchsichtig, blaß, groß und breitflächig, er das Gegenteil von ihr, vor allen Dingen überrot wegen eines nicht richtig behandelten Bluthochdrucks.
Manchmal aber ging der Kelch an Gütersloh vorüber. Eine Louise de Keroualle wurde unter den Professorinnen nicht entdeckt, wenn auch einige wenige nach Bier und Käse rochen. Während der ganzen Zeit ihres Bestehens wurde kein Fall bekannt, dass ein Dozent der Universität, der Gerichte und Polizei als Sachverständiger in Fragen der Pornographie und Paedophilie beriet, selber der Paedophilie überführt worden wäre oder sogar bekennendes Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität gewesen wäre, um für die Legalisierung von einvernehmlichem Sex zwischen Kindern und Erwachsenen zu plaidieren. Kurz und unangenehm, aber dann doch aus der Welt geräumt, gab es die Aufregung des Boulevards über eine Äußerung van Groningens, der in einem Exkurs über die Menschlichkeit anekdotisch mit der nötigen Ernsthaftigkeit einflocht, dass er mit vierzehn vor vierzig Jahren Zeuge von Kindesmißbrauch gewesen sei. Die „Bild“ wurde gezwungen, gegen ihre redaktionelle Gewohnheit den gesamten Vortragstext abzudrucken. So dick war sie an keinem anderen Tag ihrer Geschichte. Ebensowenig gab es in der leichten Treibhausatmosphäre dieser glokalen Universität Drogenexzesse oder Eifersuchtsdramen, die jenseits der vier Wände medien- oder gerichtsnotorisch geworden wären. Es war zu einer anderen Zeit und an einer anderen Universität, dass die „Bild“ schreiben konnte: „Professor entführt seine Kinder“. Selbst die gelegentlichen Verdächtigungen gegenüber der Rektorin, Professor Grebenstein, die durch ihre schwachen parapsychologischen Neigungen und ihre obskuren Selbstmedikationen genährt wurden, führten nie soweit, dass ihr Komplizenschaft mit Scientology vorgeworfen worden wäre. Nie kam sie dazu zu überprüfen, ob der Frühdruck von Gobelinus Persons „Cosmidromius“, in der Universitätsbibliothek vorhanden, seitdem man auch das Armarium von Kloster Mariental geplündert hatte, ihr hätte weiterhelfen können Die bescheidene Spielleidenschaft des Kanzlers Fitzenhagen entglitt nicht seiner Kontrolle. Seine kleineren Verkehrsdelikte wie Trunkenheit am Steuer und Fahrerflucht fielen sehr passend unter eine Amnestie des Bundespräsidenten. Nicht nur war sein Hintergrund als ursprünglich vielversprechender Jungmanager bei Bertelsmann tadellos, sondern zwischen dieser Aufgabe und seinem aufopferungswilligen Einsatz für die Johannes-Universität hatte er als Syndikus anderer privater Stiftungen und staatlicher Kulturinstitutionen Meriten erworben.
Gelegentlich gab es das Kavaliersdelikt der Selbst- und gegenseitigen Begünstigung, das sich aus verschiedenen Doppelrollen als Dozent und Wirtschaftsboß, als Dozent und Fernsehredakteur, als Stifter und Steuerzahler ergab. So als die mächtige Gestalt Professor Meinings mit jeder Bewegung die Unlust am akademischen Treiben offenbarte, ein deutscher Fernsehsender unter der Kontrolle von Bertelsmann für seine in die Jahre gekommene Serie „Big Boß“ ihn jedoch sehr geeignet fand. Auch davon profitierte die Universität. Und schließlich gab es auch unter den Mitgliedern der Johannes-Universität die verzeihliche Eitelkeit der Ämterhäufung in der Universität selbst, bei Bertelsmann, Miele und Vodafone. Die Universität verdankte ihr unverdientes Glück kaum dem für den Gewinn der Besten so zuträglichen unkomplizierten Berufungs- und Anstellungsmodus. Niemand mußte zunächst zahlose Formulare ausfüllen, jeder konnte am nächsten Tag beginnen. Dies war dem unabhängigen leidenschaftlichen Forschen ebenso zuträglich wie der sehr bald einsetzenden Pervertierung, wenn Freundinnen und Freunde und Neffen, kaum verhüllt und natürlich qualifiziert, Mitglieder des eigenen Arbeitsbereichs wurden.
Manchmal auch versagten die Aktenordner mit den grünen Rücken, nach denen die Professorinnen Jentner und Grebenstein ostentativ zu greifen pflegten, wenn sie jemanden durchsetzen oder verhindern wollten. Dann hatten sie vielleicht ausnahmsweise schlecht recherchiert oder hatten Kandidaten nicht auf ihrer Rechnung gehabt. Oft waren diese nachher nicht die schlechteste Wahl. Manchmal auch wirkte zur Desavouierung ungebärdiger Kollegen nicht das von Frau Grebenstein so geschätzte Vorbild der Portiers im noblen New Yorker Appartmenthaus UN-Plaza, die die Bewohner dadurch zu disziplinieren versuchten, dass sie Post und Telegramme offen zugänglich auf dem Tresen auslegten: „You slutty fag!“ Manchmal vergaßen die genannten Professorinnen, bestimmte Informationen hinter den grünen Rücken aufzubewahren. Dann suchten sie hektisch nach Vorschlagslisten und einzelnen Auskünften, und die Besetzung einer Professur zog sich damit in ähnlicher Weise in die Länge als wäre sie durch die bürokratische Mangel gedreht worden.
Ein weiterer Fall war Friedhelm Wengen, der seine kleinbürgerliche Vergangenheit anders bewältigt hatte als Inez Jentner. Hier war wohl doch der Geschlechterunterschied entscheidend. Beide machten die eigene Lebenserfahrung zur Richtschnur für andere, beide zogen ihre soziale Herkunft zur Rechtfertigung ihres Handelns heran, beide hatten ihren Beruf gelernt, und angesichts recht geringen Talents verdienten beide Respekt für ihren Fleiß. Wengen war allerdings subtiler, weniger direkt, während bei Inez Jentner die achtjährige Grund- und Zwergschule mit aufgelöstem Klassenverband, die von ihr verpaßten und nicht erkannten Chancen des Lernens und ihre Unterdrückung als Mädchen und Frau zum immer wieder verbalisierten Erklärungsmuster ihres Tuns wurden. Mit ihrer Unterdrückung als Frau stellte sie sich in die lange Reihe der Entrechteten auf dem Wege zu einer erfolgreichen Revolution und stellte sich bei jedem nur einigermaßen wichtigen Treffen zu den von ihr als solche erkannten Entscheidungsträger.
Mit fünfundzwanzig Jahren war Wengen bereits Altphilologe, Grammatikspezialist und Universalist und nach Vancouver berufen worden. In diesem Alter hatte er nicht nur wie Lavengro Sprachen gelernt, sie vielmehr gesammelt wie der deutsche Gesandtschaftssekretär Krebs, und er konnte damit den früheren Präsidenten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes übertönen und war ein würdiger Nachfolger Mithridates des Großen, der aufgrund seines stupenden Gedächtnisses nicht nur 22 Sprachen beherrschte, sondern auch jeden seiner Soldaten beim Namen nennen konnte. Vielleicht war er noch kein Kardinal Mezzofanti, doch jeden Tag auf dem Weg dorthin, wenn er mit einem ausgefallenen Besuch sich der Zahl von 58 Sprachen wieder ein wenig mehr annähern konnte. Darüber hinaus kannte er aber nicht nur seinen Thukydides und Cicero, war weltberühmt für seine Interpretation der Oden Pindars zwischen ägyptischen Gesängen und Platenscher Attituden, sondern konnte über lange Gesprächspassagen Dante, Machiavelli, Nietzsche und Stirner wortgetreu in der Originalsprache einsetzen. Professor Wengen war nicht den Weg gegen die dominierende Gesellschaft gegangen, sondern hatte mit seiner provozierenden Häßlichkeit, klein, dick, kraushaarig, ungepflegt, mit roten Händen und der dialektalen Färbung seiner Polyglottie mit Stuttgart-Feuerbach deren Konservativismus internalisiert und überspitzt. Das ging lange gut. Man bewunderte allgemein sein stupendes Wissen, und ein Teil von Dantes Ruhm senkte sich auch auf ihn, da Wengens Deutung brennenden Hasses von seinen Zuhörern nicht verstanden werden wollte. Was ihm fehlte, war politisches Gespür, so dass er nur unter Schwierigkeiten aus Vancouver wieder zurück ins alte Europa gekommen war. Doch hatte er auch einige wenige Freunde, so einen Professor aus München, der seine Auftritte mit einem Rechten zur Linken und einem Linken zur Rechten inszenierte, so dass sich das Märchen vom Igel und dem Hasen wie in einer Endlosschleife immer wiederholte.
Wengen brachte, da Wahrheit käuflich war, ein Drittmittelprojekt der DFG von größter Außenwirkung mit, die Erforschung des Wissenschaftsstandorts Deutsch¬land in der Zeit von 1933 bis 1945. Heimlich kokettierte er jedoch mit einem Pro¬jekt, in dem festgestellt werden sollte, wann Adam sich seiner Erektion bewusst geworden war – vor oder hinter dem Tor zum Paradies. Zunächst wurden die Forschungsergebnisse von der Forschungsgemeinschaft und den profilierten und renommierten Köpfen der Johannes-Universität mit Begeisterung aufgenommen. Zu keiner anderen Zeit hatte die Wissenschaft in Deutschland eine größere Spielwiese. Bis dann ewig Unbelehrbare aus dem außeruniversitären Umfeld das häßliche Wort der Instrumentalisierung einbrachten und wir alle merkten, dass hier etwas verrutscht war und nicht merkten, dass wir einem Mißverständnis verfielen und Instrumentalisierung nannten, was im tiefsten Grunde ein ästhetischer Rigorismus, Fundamentalismus war. Das Verhalten des Wengenschen Umfeldes war zunächst von der für jede Generation, die ihre Skelette unter dem Bett verborgen hatte, typischen Verdrängung geprägt.
Es schien ein Gewinn fürwahr für die Johannes-Universität, ihn geworben zu haben, bis er eines Tages die politische Korrektheit eines verbalen Liberalismus verließ und die Universität sich als korporative Einheit rechtfertigen mußte wie einst das Ägyptische Museum, als es den Kopf Nofretetes auf einen nackten Torso placierte. Und so wurde er zu einer der Schwachstellen dieser renommierten Universität, da er sich auch in weiteren Auseinandersetzungen – meist um kulturelle Wertungen – nicht disziplinieren ließ. Das beste, was man daraus machen konnte, war, ihn als Beweis für den bewußt herrschenden Pluralismus anzuführen und in Kauf zu nehmen, dass selbst das inzwischen so erfolgreich eingemeindete Hochschulzentrum von einer akademischen Ausrichtung sui generis sprach. Wengen erklärte sich selbst als Massenphänomen, wollte aber nicht zugestehen, dass er einer der Krieger im Bauch des trojanischen Pferdes gewesen war, und schließlich bekannte er offen, zu den Verehrern des Sachsenhains zu gehören und benutzte selbst in offiziellen Schreiben die Datierung nach Stonehenge. Später studierte er allzu intensiv Avicenna und war sich sicher, die Maxime cogito ergo sum widerlegen zu können und sprach nur noch abfällig von Effendi Kant. Danach las er die Berichte Ibahim Ibn Yaqûbs über Svantevit und konvertierte zur Religion der Raner. Trotz aller mehr als guten Voraussetzungen fehlte Wengen das große Herz eines Fausto Bertinotti, gleichzeitig Fidel Castro und den polnischen Papst zu bewundern und seinen Erfolg mit Zigarren und Leder zu feiern. Schlimmer noch wurde es, als die Westdeutsche Allgemeine Zeitung seinen unersättlichen Zwang enthüllte, seine private Armut nie wieder erstehen zu lassen. Dadurch war er für korruptionsähnliche Handlungen anfällig geworden. Zusammen mit seiner Frau hatte er Eigentumswohnungen quer durch Deutschland und Frankreich gehortet, völlig legitim im liberalen System, aber eben gefördert durch Verbindungen, die ihn schließlich instrumentalisierbar machten. Es blieb nichts anderes übrig als sich von ihm zu trennen. Oft noch rätselte man, obwohl abgehakt und öffentlich gar nicht geschehen, ob sein endliches Scheitern in der Gesellschaft aus verborgener Homosexualität oder nie überwundener jüdischer Keuschheit zu erklären sei, aus dem Ekel vor den Handlungen des Menschen, so dass er in der Seele erstarrt war wie Lots Weib, als sie den Blick zurückwandte, oder, ob er in sich eine Doppeltheit vereinte, die Unvereinbarkeit der menschlichen Dualität. Und so redete man heimlich hochtönend über sein Leiden, um nicht ein konkretes Krankheitsbild konstatieren und die eigene Urteilsfähigkeit leugnen zu müssen.
Übrig blieb von ihm und schließlich dem Museumsfundus einverleibt eine fast lebensgroße, in einem mingzeitlichen Lehnstuhl sitzende Tonfigur, die ein chinesischer Kunsthandwerker und Bewohner Vancouvers im traditionellen Stil von ihm angefertigt hatte. Wengen trug einen langen weit ausladenden roten Ledermantel, der sich über die Sitzfläche ausbreitete, schwarze Stiefel mit leicht erhöhten Absätzen und hielt zwischen den Beinen einen Spazierstock mit rundem Knauf, der umgedreht zu einer gefährlichen Waffe werden konnte. Auffallend war der geradeaus ins Leere gerichtete Blick unter einer imposanten kaum noch kontrollierten Haarpracht. Bestellt hatte er sie ursprünglich, um so bereits im Entrée seine Gäste zu empfangen und zu beeindrucken.
An der Johannes-Universität sind ebenso die Tugenden und Laster vertreten, die man mit den Philologen von vor etwa hundert Jahren verbindet – oder aber mit deutschen und italienischen Gelehrten von heute eher als mit angelsächsischen, d.h. es waltet der gerechte Zorn in der Bewertung zu erforschender Personen, so wenn man Cornelius Nepos ein dickes „minus“ verpaßt, mit klassischen Qualitätsmerkmalen operiert und nicht zu psychoanalytischen, (post-)strukturalistischen und intertextuellen Lesungen Zuflucht nimmt, unberührt bleibt im Gegensatz zu den Kollegen der selben Universität von theoretischen Entwürfen der Intertextualität, sondern skrupulös die poetischen Einflüsse untersucht. Und so kommt es zumindest in einer Richtung zur Symbiose der Philologen und Theoretiker, wenn die endlosen Ergebnisse der Philologen von den theoretischeren Autoren geplündert werden. Und so geschieht, was die Johannes-Universität unbedingt vermeiden wollte: die Traditionen ernsthafter Text-Gelehrsamkeit und ernsthafte theoretische und interpretative Forschung klaffen immer weiter auseinander.
Merkwürdig verlief der kurze Aufenthalt eines selbstgerechten Rush Limbaugh-Typen, ein jovialer Bonvivant, der zur eigenen Profilierung buchstäblich über Leichen ging. Im Gegenteil, er wurde fast so etwas wie die Kultfigur eines Sommers, als er in amerikanischer Selbstentblößung seine Drogenverfehlungen öffentlich bekannte, die er vorher offensichtlich unter dem nicht kontrollierbaren Einfluß des Daum’schen Verdrängungssyndroms bei anderen als Sünde verurteilt hatte. Wie so viele, betrachtete er sich als den geeigneten Mann in herausgehobener Stellung, mit dem kleinen Unterschied, dass er es auch laut sagte. Diese Mischung aus Schuldbekenntnis und Selbstbewußtsein konnte ihn nicht zu einer dauerhaften Institution an der Johannes-Universität werden lassen. Zu sehr hatten bereits Europa, China, Indien und Lateinamerika mit Amerika gleichgezogen. Inzwischen gab es eine hinreichend große Zahl ähnlich sozialisierter Gestalten überall und nicht nur in Amerika.
Der böseste Fehlgriff, der glücklicherweise durch einen Zeitvertrag sehr schnell behoben werden konnte, war für eine der ökonomisch orientierten Professuren Paul Schneider, vor kurzem noch selbsternannter Topmanager eines deutschen Chemiekonzerns, der seine selbstbehauptete Kompetenz durch gemeinsame Mahle im Schiffchen in Düsseldorf bis auf die Ministerpräsidentenebene hinauf hatte vermitteln können. Er war mehr als die sympathische weibliche Werbegestalt, die erfolgreich ein kleines Familienunternehmen leitete. Selbst in dieser Funktion jonglierte er eine vielköpfige von ihm und seinem Herrschaftswissen abhängige Gemeinde lange Zeit erfolgreich, doch sein Interesse an der Forschung, an der Lehre und an den täglichen universitären Kleinigkeiten war nicht existent. Er nutzte sein Insiderwissen für gewaltige Transaktionen im eigenen Interesse. Es waren nicht zu berücksichtigende Petitessen. Seine Mitarbeiter sollten auf Schleudersitzen als Projektleiter fungieren, während er ihnen gleichzeitig die Fähigkeit zur „Kopfarbeit“ absprach, weil ökonomische Zusammenhänge in Wirtschaftsenglisch formuliert nun einmal nicht in ihre Köpfe hineinzubringen seien. Er verursachte unerträgliche Streßsituationen, verbrannte die brennenden Fleißigen und Idealisten. Mit seiner ich-bezogenen Persönlichkeitsstruktur und ohne irgendwelche Kommunikationskonzepte, Probleme zu bewältigen, brachte er alle akademischen Profis auf die Palme und zur Arbeitsverweigerung. Ohne den Namen zu nennen, sprachen alle nur vom Besserwisser und Klugscheißer, doch dann, weil die Universitätsspitze – auch mit Karl – die Notbremse zog, blieb die peinliche Personalie Schneider nur eine lächerliche Marginalie und eine warnende Erinnerung, anders als die häufige Berücksichtigung erfolgreicher Lobbyisten, die später in den Ministerien und Parlamenten uneigennützig die Interessen ihrer Universität vertraten. Schneider selbst verfiel in einen paranoiden Wahn, den sonst nur durchschnittlich begabte und durchschnittlich moralisch intakte Personen der universitären Republik entwickeln. Er sah sich hilflos seinen universitären Kollegen und dunklen Mächten im Hintergrund ausgeliefert, die mit nur einer Waagschale gegen ihn bilanzierten. Er war nicht mehr in der Lage, Gütersloh zu verlassen und irrte mit „im Zweifel für...“-Rechtfertigungszetteln voller Beweisen vormittags auf den Spazierwegen entlang der Dalke umher, glaubte sich in Begleitung von Wittgensteins Neffen und erschreckte junge Mütter mit ihren Kindern, wenn er in die Rolle eines ithyphallischen Glatzkopfes verfiel und nicht rechtzeitig von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde.
Ein positives Ergebnis dieses Fiaskos war die Schaffung einer Professur für Arbeitsmedizin mit dem Schwerpunkt Streßbewältigung. Hier wurde auch Frau Professor Grebenstein sehr bald Patientin. Fast als erstes hatte sich auch an der Johannes-Universität ein professoraler Corpsgeist herausgebildet.
Anders als Schneider wurde die Berufung von Frau Ingrid Pfistendonk, verehelich¬te Freifrau vom Adlershof, die selbstbewußt ihren Mädchennamen weiterführte und damit sympathisches Understatement insinuierte, nicht zu einem Problem. Sie war die ideale Vertreterin einer new economy, die die endgültige Okkupation des politischen Entscheidungsraumes durchgesetzt hatte. Neben ihrer Professur für Theorie und Praxis der PR war sie Europaabgeordnete – leider nur einer ausgewie¬sen wirtschaftsfreundlichen Partei, was ihren Nutzen minimal schmälerte – und hatte dennoch durchgesetzt, ihre Lobbyistinnen-Tätigkeit für mehrere Industrieunternehmen und für die Politik weiter fortführen zu dürfen. In einer Zeit, in der sozialistisches Denken nicht mehr in den intellektuellen Salons in den Café Einsteins und Volkshochschulen dieser Welt artikuliert wurde, eine völlig unverfängliche Verquickung, dies um so weniger als der eigene Einfluß tatsächlich überschätzt wurde.
Nach vielen fehlerhaften Anläufen war ein Glücksfall auch die Berufung Ferdinand Brunes, eines kollateralen Nachkommens des letzten Priors von Kloster Marienfeld, der kurioserweise den Namen dessen trug, der vor mehr als zweihundert Jahren die Säkularsierung des Klosters umgesetzt hatte. Fast wäre diese Berufung gescheitert, weil, was selten vorkam, Frau Grebenstein die Kandidatenliste verlegt hatte und die Namen mühsam rekonstruiert werden mußten. Um aber die Kuriosität schließlich auf die Spitze zu treiben, so brachte Brune als Morgengabe für die Universitätsbibliothek aus der alten Klosterbibliothek den Herbarius zu teütsch, die 1502 gedruckte deutsche Ausgabe des Hortus sanitatis, die bis dahin in keiner deutschen öffentlichen Bibliothek nachweisbar war, und das, obwohl sein Namensvetter Christian F. Brune damals die Mönche davor gewarnt hatte, Teile des beweglichen Vermögens „über Seite“ zu bringen und die Rückgabe bereits entfremdeter Stücke gefordert hatte. Brune wurde als Seiteneinsteiger auf eine Professur für Lebens- und Unternehmensberatung berufen, ausgewiesen durch die Veröffentlichungen Finde das rechte Maß und Regeln für Arbeit und Leben. Er hatte sich eine fast mönchische Heiterkeit bewahrt, strukturierte seine Lehrveranstaltungen als Spiel und besaß bald die Aktienmehrheit in der Wiedenbrücker Brauerei, die zum Hoflieferanten der Universität wurde.
Aber wer war Frau Siborska? Dass sie von Inez Jentner protegiert wurde, war eindeutig. Kein anderer Name wurde so oft bei Besetzungen von Professuren ins Gespräch gebracht, tauchte fast gesetzmäßig in Sonder- und Minderheitsvoten auf, die regelmäßig die Unterschrift Inez Jentners, seltener ergänzende Namen trugen. Was zeichnete sie aus, sie, die sich zwar im Schutze von Frau Jentner habilitiert hatte, aber als ernstzunehmende Kandidatin allenfalls unter „ferner liefen“ in den diversen Dossiers erschien. Sie war nicht mehr ganz jung, eigentlich nicht jung genug für eine aufstrebende Eliteuniversität. Dies konnte man vor allem an ihren von Tag zu Tag immer weiter auseinanderstehenden Zähnen erkennen, da sie im Gegensatz zu ihrer Förderin das Lächen nicht verlernt hatte. Sie paarte ihr Lächeln mit traurigen anziehenden Augen, hatte mit einer luftigen Frisur für ihre dunklen Haare. hinter denen sie vorsichtig hervorlugen konnte und mit femininer rüschiger Kleidung eine weiche Silhouette im Gegenlicht gewählt. Die Farbe, die sie wählte, war immer schwarz, so als habe sie in ihrer Jugend für Juliette Greco geschwärmt. Anrührend war der Versuch, sich zu einem Objekt der Begierde und Eitelkeit zu machen, Subjekt der Verführung zu sein, und durch den körperlichen Verfall sich selbst zu widerlegen. Das milde Äußere übertrug sich mit den Jahren – im Berufungskarussell war sie immer fünf bis zehn Jahre älter als alle anderen Bewerberinnen – auch auf ihr Inneres, das sie in jungen Jahren für einige Zeit mit hinreichender Rücksichtslosigkeit einer deutschen Revolution überschrieben hatte. Diese Welt war Karl verschlossen geblieben, er erinnerte sich nur an die in einer Vor-PC-Zeit regelmäßigen Privatisierungen universitärer Papierstapel, von Tippex, Bleistiften und all dem anderen Kleinvieh, das auch Mist macht. In der Regel hatte er ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht gelesen und endgültig darauf verzichtet, als seine Frage nach ihrer vorgesehenen venia legendi an der gemein¬samen Universität in einer verschworenen Gemeinschaft einen Sturm im Wasserglas erregte. Das war fraglos ein Fehler, weil offensichtlich alle anderen Verantwortlichen ähnlich gehandelt und auf eine direkte unverstellte Wahrnehmung verzichtet hatten, allein schon ermüdet von der Lektüre ihrer Publikationsliste, ein wundersames Stück mit vielfältigen Variationen über ein Thema. Jedes Mal, wenn Inez Jentner einen neuen Anlauf unternahm, gab man die Unterlagen an die jeweils eigenen Assistenten weiter, die den ungelesenen Eindruck mit ihrem Urteil bestätigten, allerdings aufgrund jugendlicher Hybris dezidierter formuliert als Otto, Gordon, Karl oder selbst die Grebenstein es getan hätten. Wie ein Schwarzes Loch, war ihr wissenschaftliches Sein prinzipiell nicht direkt zu beobachten. Und dennoch: wäre nicht das Alter unaufhaltsam gewesen, hätte die Zahl der Vertretungsprofessuren als Allzweckwaffe quer durch die deutschen Universitäten schließlich eine Berufung nicht aufhalten können. Doch mit jeder neuen Bewerbung schwand sie ein wenig mehr dahin und wurde zu einer Gestalt aus Alices Wunderland. Immer schwerer wurde die Last der außerplanmäßigen Professur, die ihr Inez Jentner an der eigenen Universität hatte verschaffen können, um ihre Homuncula als Doublette ihres Ichs zur Verfügung zu haben.
In diesem Falle war Frau Jentners Energie nur lästig.
Es gab auch noch andere kleinere Doubletten von Inez Jentner, und dazu gehőrte Frau Dr. Gertrud Gries, mit kugelrundem Gesicht und immer lächelndem Knopfmund auf einem ungelenken Kőrper, den sie vergeblich zu verbergen suchte. In einem grőßeren Kreis nahm sie Aufgaben für Frau Jentner wahr, indem sie von einer Gruppe zur anderen eher hoppelte als sprang und ihr Wissen über ungewollte Konkurrenten preisgab.

Auch die – in wessen Augen auch immer – geglückten Besetzungen von Professorenstellen hatten gemeinsam, dass die blendenden und dann zündenden Ideen für übergeordnete Fragen und neuartige Forschungszusammenhänge den Inhabern der Professuren untergeordnet wurden, so dass Frau Professor Grebenstein als Rektorin nach wenigen Jahren anläßlich einer internen Bestandsaufnahme bemerken mußte: „Eine eingehende Musterung ergibt das Vorhandensein von Verbindungen oder auch Grenzziehungen, die mehr persönlichen Schicksalen und Neigungen als Anforderungen der Studenten und der Gesellschaft ihre Existenz verdanken. Die ungewöhnliche Reichhaltigkeit der Benennungen von Fachrichtungen grober und feinerer Art mahnt davon ab, die drohende Verfestigung von Zugehörigkeiten im wissenschaftlichen Kontext vorzunehmen. Zieht allerdings jeder berufene oder in einer bestimmten Disziplin aus eigenem Antrieb angesiedelte Hochschullehrer weiterhin einen eigenen Studiengang nach sich, dann droht die Johannes-Universität gegen ihre Intention zu einem Bündel individueller Betätigungen zu werden, die sich durch den Vorsatz des Verbindungswortes „Interdisziplinarität“ bis ins Unabsehbare vermehren lassen. Doch müssen unter den Lehrenden selbst Kooperationsformen vorbereitet werden, die den Gang der wissenschaftlichen Arbeit in den eigenen und den von hier aus „bestrahlten“ Bereichen erleichtern helfen, auf dass die Johannes-Universität nicht wie das Örtchen Wemding, das ich vor Jahren einmal besuchte, trotz vorhandener lieblicher Sinnbilder der Sommerfriche unnötig schließlich zwei Apotheken und zwei Buchhandlungen ihr eigen nenne.“ Doch gab es auch die sogenannten Stillen im Lande, wie den Völkerrechtler Winter, der neben seiner juristischen Ausbildung auch klassische Philologie und Germanistik studiert hatte, ein Liebhaber von Wortspielen mit trockenem Humor schmunzelnd, verschmitzt wie Herr Suhs, nicht verschmockt oder schmalzig, mit einer außergewöhnlichen Bereitschaft zuzuhören und sich mit seinen Mitarbeitern abzusprechen. Nie war Winter ein Mann der abgehobenen Anordnungen. Aber er fiel nicht auf. Dies tat dagegen einer seiner Freunde, die er zum Wohle der Universität zu wissenschaftlichen Besuchen einlud und immer wieder gewinnen konnte, so dass man sich sehr bald daran gewöhnte, die für Vorträge und Kurzseminare eingebürgerten Termine fest im Kalender vorzumerken. So war es nicht ein Kunsthistoriker, sondern der Wiener Neuhistoriker Prohaska, der seine morgendliche lokale Neugier befriedigte, die Pankratiuskirche aufsuchte und am Rahmen des St. Peter-und-Paul-Altars eine offensichtlich zeitgenössische Inschrift in vier daktylischen Hexametern mit drei leoninischen Reimen entdeckte, die ein Lob und den Stolz der Gafschaft Rheda formulierten, ganz außergewöhnlich für eine dörfliche, abhängige Kirche. Allerdings bedauerte er als echter Wiener, dass Gütersloh angesichts der gegenwärtigen Erderwärmung keinen Kaiser Probus zu Besuch gehabt hatte.
Ein anderes Mal kam nun tatsächlich ein Kunsthistoriker auf dem Wege von Paris nach Berlin durch Gütersloh und machte wegen Winter dort Station. Er berichtete von einem kaum bekannten Stundenbuch aus dem Umfeld des Duc de Berry im Musée Cluny, das er in Händen hatte halten dürfen, von den aus Frömmigkeit weggeküßten Stellen, und dass nur seine Ehrfurcht und Andacht vor diesem Schatz in der Lage gewesen sei, seine zitternden Hände zu beruhigen.
Am befriedigsten waren die Termine mit amerikanischen Kollegen aus Berkeley oder Harvard, die von ihrem eigenen Land seit Jahren nur noch die Flughäfen kannten und dann auch noch das letzte Stäubchen von Provinzialität aus Gütersloh pusteten. Dazu waren sie in der Lage, die amerikanische Kolonie und vor allem die amerikanischen Kollegen an der Johannes-Universität zu mobilsieren. Die eigenen Vorträge gerieten plaudernd souverän, entweder als powerpoint-Präsentation mit vieljähriger Übung oder aber völlig frei nur mit einem kleinen Merkzettel, um sich daran festzuhalten, ähnlich lang das sich daran anschließende Frage- und Antwortspiel, in dem alle Beteiligten ihre profunde Kenntnis ausbreiteten, den Vortrag repetierten und schließlich eine kleine Frage formulierten, die zu einer großen, vielleicht kaum zu beantwortenden erklärt wurde, so vom Vortragenden rezipiert wurde, damit auch er die Chance bekam, sich weiter über sein Thema und über Aspekte auszulassen, die er, um sein Publikum nicht zu langweilen bisher nicht angeschnitten, aber selbstverständlich ebenfalls erwogen hatte. Wenn das Glück es so mit sich brachte, war auch Inez Jentner gerade anwesend und wurde gebeten zu moderieren. Keiner beherrschte wie sie das gefrorene süße Lächeln auf den Lippen, das gleichberechtigte Bewunderung für den Gast signalisieren sollte. Wunderschön und wundersam waren die anschließenden Empfänge im Präsidialamt, wenn man einander bei Pinot Grigio oder seiner roten Variante die jeweilige Prominenz bestätigte. Dass in China fast jeder von den Gütersloher Kollegen in den höchsten Tönen sprach, war eigentlich verständlich, zu sehr war eine solche Attitude bereits in den Genen verankert. Und jedem einzelnen wurde vermittelt, dass er noch ein wenig bedeutender sei als seine bedeutenden Kollegen. Dass van Groningen, Schneider und andere aber auch in Paris auf einschlägigen Kongressen Hauptthema waren, das wirkte schon eher befremdlich und hätte mißtrauisch machen müssen, doch jeder zog sich am Ende des Abends diskret erfreut in seine Villa, seine Wohnng oder sein Zimmer zurück.
Das eigentliche Ziel der Johannes-Universität kann aber nur sein, Themen wie Ökologie, um den Chinesen, Bioethik, um den Koreanern, Demographie, um den Afrikanern, Migration oder Arbeitsmarkt, um den meisten Europäern auf die Finger zu klopfen, also Themen zu vertreten, die in den kurzen Zyklen politischer und medialer Aufmerksamkeit und ständiger politischer Rücksichtnahme oft nicht die nötige öffentliche Aufmerksamkeit finden, in der Lehre, Forschung, auf Podien, Symposien und in Kommissionen immer wieder anzustoßen und im Gespräch zu halten, doch muß ein Gleichgewicht zwischen den Labors und Bibliotheken auf der einen und den Treffen mit Kollegen und Politikern auf der anderen Seite gefunden werden. Hier werden alle wissenschaftlichen Kräfte gebündelt, hier wird politikfern, abgewogen und kompetent Politikerberatung optimiert. Hier wird die Privatsphäre so gewahrt, dass sie trotzdem noch das Interesse der Öffentlichkeit erregt. Später gelang es, aus dem großen Topf der Fördermittel des Wissenschaftsministeriums einen ordentlichen Batzen für bio- und sozialökologische Forschungen nach Gütersloh zu leiten. Um dem Geruch gezielter und nicht intendierter regionaler Wirtschaftsfördrung in Ostfriesland oder Westfalen zu entgehen, wurde ein interdisziplinäres Projekt eben dieser Ausrichtung nach China verlegt, wo über Speisungen der Fünftausend geforscht werden sollte, wie man Menschen bzw. Chinesen zu sozialökologischem Verhalten bewegen, am besten erziehen könne. Hierfür gelang es, die ehrwürdige Halle des Volkes am Tianmen-Platz für eine dreitägige Testreihe zu akquirieren. Unterstützt wurde dieses Forschungsvorhaben durch innovative Kommunikationsinstrumente, indem als Mohrrüben, Porree, Donggu-Pilze und Kohlköpfe verkleidete, morgens in den Slumquartieren der Stadt angeheuerte Wanderarbeiter heiter gestimmt Passanten zum Eintritt einluden. Jenen, die diese Einladung nicht annahmen, wurde mit den dem Antiökologen drohenden Höllenqualen gedroht. Im Jahresbericht der Universität war diese wissenschaftliche Aktion eine der groß aufgemachten Erfolgsmeldungen, da fünfundzwanzig Tonnen deutschen ökologischen Gemüses in eben diesem Jahr den Weg nach China gefunden hatten, die niemand hatte finanzieren müssen, weil Ware und Transport vom anonymen Steuerzahler übernommen wurden. Die Universität erhielt dafür eine zehn Kilogramm schwere Messingplatte, die sie als Standort eines der raren Konfuziusinstitute auswies. Und einmal mehr konnte berichtet werden, wie Wissenschaft zum Nutzen der Wissenschaft praxisrelevant umgesetzt worden sei. Bezahlt wurde diese Gunst mit Privilegien für den Kader und Geschäftsmann Ouyang Zheyun, der zur Befriedigung seiner unstillbaren Spielleidenschaft die Kontrolle über den 1. FC Gütersloh bekam mit dem Verspre¬chen seinerseits, den Verein innerhalb von drei Jahren zusammen mit so renom¬mierten internationalen Vereinen wie den AC Allianssi Helsinki, dem F.C. Metz und Lierse LK bis in die Championsleague zu führen. Da nie wirklich beweisbar, waren wenig später auch sein Ausstieg und die stille Teilhaberschaft der Johannes-Universität oder einiger ihrer Angehöriger in Spitzenpositionen nicht justiziabel.