Was ist Geschichte?
Die historische Grundierung der global governance scheint unverzichtbar – so der übereinstimmende Tenor im Gründungssenat, auch wenn dabei der klare Gedanke zu verwildern droht und in die Mikrohistorie abgleitet. Selten ist ein Fach in der gleichen Weise geeignet, personalpolitische Erwägungen zurücktreten zu lassen.
Mit Herrn Herbert ist Karl nicht verwandt und doch merkt er, dass man in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, wie immer, auch dann in verschiedenen Welten leben konnte, die Welt verschieden erfahren konnte, aus sich selbst heraus und aus dem Paket Jahrhunderte alter idiosynkratischer Erfahrungen, die auch in einer Person nicht unbedingt zueinander passen mußten. Seine Mutter konnte die familiäre Bequemlichkeit empfindlich stören, wenn sie eine ihrer Tiraden über die fünfhundertjährige dänische Nacht über dem unschuldigen Norwegen vortrug und fast im gleichen Atemzug die Inschrift auf Amalie Skrams Grabstein zitierte „dansk kvinde og dansk forfatterinde“, um die Bigotterie der Norweger zu geißeln, aber gekränkt war, dass Albert Langen die Skram als dänische Autorin geführt hatte. Ludvig Holberg und Peter Wessel wurden selbstverständlich für Norwegen vereinnahmt. Noch hundert Jahre nach ihrer Geburt, die diesseits der Personalunion mit Dänemark lag, erinnerten sich Norwegerinnen an die Entmündigung durch Dänen und Schweden, und sie nahmen diese als Rechtfertigung für jugendlich verantwortungsloses Handeln.
Doch war ihr nicht nur die Hafenstadt, in die die Seeleute ihre Frauen aus Westindien brachten, zu eng, sondern auch Kristiania, wenn sie auch die französischen Chansons in ihrer norwegischen Fassung begeistert und scheußlich sang, in der dann Karl-Johann duften konnte wie das Viertel hinter dem Gare de Lyon, bei Blom oder in Theatercaféen man scheinbar teilnahm an den Treffen der norwegischen Bohème um 1900.
Vielleicht raubten diese genetischen Erinnerungen an Dänemark, an die jüngeren nichtsnutzigen dänischen Söhne, die sich durch Einheirat die reichen westnorwegischen Bauernhöfe aneigneten, die Erinnerungen an die deutsch- und schottischstämmige Oberklasse in Eidsvold, Karl nicht die Sensibilität, doch das mitfühlende Verständnis für die psychischen Knoten in den Seelen der Angehörigen der verschiedenen Stämme der Erde, die arabischen Vorbehalte gegen die Türken, die der Türken gegen die Briten, die der balkanischen Völker gegen die Türken, der Rumänen gegen die Ungarn, der Kroaten gegen die Serben, der Basken und Indios gegen die Spanier, der Samen gegen die Norweger – diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Karl schwankte immer wieder später zwischen dem Wunsch, man möge das sogenannte kollektive Leid vergessen und dem Wissen, es wissen zu müssen. Und er erinnerte sich an die Lektüre der Worte des Vizebanus Georg Jellačić im kroatischen Landtag, dem Sabor, im Jahre 1867: „Ich wollte mein Volk lieber unter dem türkischen Joch sehen als unter dem ausschließlichen Einfluß seiner anderen zivilisierten Nachbarn. Denn die Türken begnügen sich mit dem Vermögen und bisweilen auch mit dem Leib der geknechteten Völker. Die zivilisierten Nationen aber verlangen von denen, über die sie herrschen, außer Vermögen und Leib auch noch die Seele, das heißt die Nationalität“, nicht anders als ein Goanese, der die deutsche Sanitärkeramik studierte und auf die Gratulation, endlich von Portugal befreit zu sein, bemerkte, „Portugal war weit, und Indien ist nah.“
Herr Herbert öffnet die alten Schubladen und identifiziert noch vor Günter Grass Mief – größer als den im Dritten Reich, und Karl denkt, wo mögen die Möbel, zu denen sie gehörten, gestanden haben? Gab es nie sonst eine Erinnerung an Breuersche Stahlskelette auf den Trümmern nach einem 13. November 1943? Die Erinnerung daran provozierte die Mutter zunächst zu immer neuen Beschreibungen, wie sie sich ein Heim geschaffen hatte: „Könnt Ihr Euch an unsere Räume im alten Westen erinnern, Kinder? Da war Papas Arbeitszimmer mit dem großen einfachen Schreibtisch und die vielen Bücherschränke, die wir aus Ungarn bekommen hatten. Warum Schränke aus Ungarn bekommen, wenn man in Berlin wohnte. Komisch. Es war aber einer der kleinen Zufälle, an denen unser Leben immer reich gewesen ist. Ungarische Freunde wollten nach Berlin ziehen. Sie hatten schon eine Wohnung gefunden und Teile ihrer Möbel herübergebracht. Darunter waren auch Schränke, gemacht aus schönem Holz von ihrem eigenen Walde in den Karpathen. Weltpolitische Ereignisse verhinderten aber doch im letzten Moment den geplanten Umzug. Die schon angekommenen Sachen wurden aber großzügig an Berliner Freunde verschenkt. Und so kam es, dass in Papas Arbeitszimmer ungarische Schränke standen. Sie sahen nicht viel anders aus als deutsche Schränke. Aber weil wir den Wald in den Karpathen, wo sie einst als Bäume gestanden hatten, so gut kannten, waren sie für uns doch echt ungarisch und ein Band zwischen dem tiefen Wald dort unten im Südosten und unserem Berliner alten Westen. Es ließen sich vor allem so wunderbar Geschichten daran anknüpfen, Geschichten von Land und Leuten und Begebenheiten der fernen Gegend.
An den Fenstern hingen leuchtend rostrote Vorhänge als schöner Kontrast zu den ganz hellgrünen Wänden. So sah es im Arbeitszimmer fast immer sonnig freundlich aus, auch wenn es draußen trübe und grau war.
Im übrigen hatten alle unsere Zimmer diese hellen zartgrauen Wände und alle Fenster und Türen rostrote oder kornblumenblaue Vorhänge. Ich liebte diese Farben. Sie wirkten so wohltuend und beruhigend auf das Gemüt.
Neben dem Arbeitszimmer war das Wohnzimmer. Hier stand der alte Biedermeierschrank, den wir von Papas Großtante geerbt hatten. Das sieben Zentner schwere Buffet mit dazugehörigen Stühlen, das wir auch geerbt hatten, hatten wir schnell verkauft. Andere ebenso schwere Sachen hatten wir verheizt. Der Biedermeierschrank war aber hübsch und er vertrug sich sehr gut mit den italienischen Renaissancestühlen, die in seiner Nähe standen. In einer anderen Ecke standen die Stahlstühle, blinkender Stahl, schwarzes Holz und sandfarbener Bezug. Ich hatte eine Schwäche für Stahlmöbel. Die meisten Menschen hatten das nicht. Sie fanden sie zu kalt wie sie immer sagten.“ Die rostroten und kornblumenblauen Vorhänge waren immer zur Seite gezogen, weil in einem frühen Film einmal eine Dolchhand aus einem Vorhang gezuckt war.
Diese Erinnerungen spornten sie an zur Suche nach einer lebenswert schönen Umgebung, weckten die Gier auf das Vergnügen an japanischer Kargheit in 1955, den Genuß an der schwedischen Modernität der gleichen Jahre und die Verachtung für klägliche französische Versuche, Gartenmöbel aus Versailles in das bürgerliche Wohnzimmer zu holen. Und wenn es irgendwie ging, ging man in die Maximiliansstraße zu „Form im Raum“, erfuhr dort von einem Textildrucker in einem Dorf vor den Toren Amsterdams und versuchte, auch dorthin zu gelangen.
Oder hatte er nie die Normalität gekannt? War es nicht normal, sich selbst als Kind verhungert durch den Hirsebrei von Übersetzungen englischer, amerikanischer, französischer und anderer Literatur zu fressen, angefangen mit den von der Militärregierung lizenzierten Übersetzungen von Arthur Ransome über Louisa May Alcott, Laura Ingalls Wilder zu jedes Jahr einer neuen Übersetzung eines Woolfschen Romans seit 1954 in den heute noch strahlend kanariengelben Leinenbänden des Fischer Verlages? Erlebte das Jahr 1953 nur den bedeutend unbedeutenden 17. Juni, und nicht auch in der April-Ausgabe von Nature die Entdeckung der Struktur des Erbmaterials in Form einer Doppelhelix und damit die Freude an einer farbigen Wissenschaft gegen das ideologisierende Grau, das sich zum Teil bis heute fortsetzt? – Und als Nicht-Naturwissenschaftler kann man dann das Wort Desoxyribonukleinsäure üben, diese bzw. in Verbindung mit frühen chinesischen Bauernregeln bringen. War es nicht ein wiederbelebendes Glücksgefühl, wenn man über L’Allemagne de nos mérites las? Selbst die später so graue DDR photographierte ihren Wartburg im Schwetzinger Schloßpark vor der Moschee heiter und beschwingt wie zum Pfingst- und Rosenfest Carl Theodors. Gab es nicht die zornigen jungen Männer des Jahres 1956? Wurde nicht neben den Wiederentdeckungen, den Neuentdeckungen, auch das Wissen um die Zerstörung der Erde durch den Menschen gepflanzt? Wurde nicht in diesem langen Jahrzehnt das Libretto geschrieben, dem die Aufständischen nach 1968 folgten, nachdem Herausgeber und Chefredakteur der Welt ihre politischen Vorstellungen bei Chruschtschow nicht hatten durchsetzen können und beleidigt die westliche Welt wählten? Vielleicht lag es an der Mutter, dass das Familienleben damals oft einem Picknick auf dem Vulkan ähnelte, wenn um alles gestritten wurde, um Gott, um die Hölle, und immer wieder um Politik, aus der die Sprache – nicht immer die Inhalte – der kürzlich vergangenen Jahre verschwunden war.
Karl nicht, aber seine ältere Schwester, die er später in gewisser Weise aus den Augen verlor, aber immer aufsuchen konnte, wenn der Rest der Welt verloren ging, hatte zu den Kindern gehört, die mit dem Ranzen über dem Kopf von und zur Schule rannten als kärglichen Schutz gegen drohende Tiefflieger. Auch sie gehörte zu den Menschen, die dann durchatmen konnten, doch mit einer anderen Vergangenheitserfahrung als Karl, bei dem es das Unterbewußte war, das sein Erleben des Lebens begleitete.
War er denn nicht auch in der Meldestelle auf der Brache zwischen Schrebergärten auf halbem Wege von der Kaiserswerther zur Collenbachstraße gewesen, lange bevor Kennedy mit einer neuen Ausfallstraße geehrt wurde und die Damen im öffentlichen Dienst geduldig resigniert versuchten, das richtige Programm auf ihre Computerbildschirme zu rufen? Selbst der überfüllte Warteraum damals hatte einen dauernd wechselnden Charakter, manchmal war die Stimmung kleinmütig gedrückt angesichts eines Obrigkeitsstaates, wenn auch selbst damals nicht so schlimm wie noch heute in den Konsulaten mancher Länder, wo die Abfertigungsluken eine Annäherung nur in gebückter Haltung zulassen und vom Beamten nur die Sicht auf seinen Torso von den abwehrenden, vielleicht schließlich gewährenden Händen bis zum verweigernden oder bloß erschwerenden Mund freigeben.
Die Luft war alt und dick von Ausdünstungen und Tabakqualm. Doch manchmal war es wie der schönste Platz der Welt, dann malten Rauch und Staub Kringel in die Sonnenstrahlen, man konnte durch die schlierigen Fenster oder sogar am offenen auf der Fensterbank hockend die braungrüne Wildnis vor dem Amt wahrnehmen. Doch vor allen Dingen war mancher dort, den beantragten Paß zu holen, mit diesem an anderen Stellen die notwendigen Visa zuerst zu bekommen, später mit diesen allein sanft auszubrechen, die neue Freiheit zu genießen, sich beim Chinesen in Genf den Mantel stehlen zu lassen, in der Rue des Ternes zu flippern. Karl glaubt, sich an die Kneipe zu erinnern, außen an die gußeisernen, jugendstiligen Fensterrahmen, die von vielen Schichten gelber Rostfarbe in ihrer Form undeutlich geworden waren, drinnen an scheinbar endlos lange ausgetretene dunkel gewordene Dielen und aus unerfindlichen Gründen fast immer drei amüsierte Franzosen, die dem elfjährigen Jungen eine hineichende Zahl von 20-Francs-Stücken wechselten. Es war nicht Verdrängung, es war auch die Freude, die stumm machte. Es war bei einigen der natürliche Wunsch zu glauben, wenn schon nicht Elisabeth Philipp von Spanien geheiratet hatte, Jakob II. nicht nicht geflohen war, dass vielleicht die jüngste Vergangenheit ein bloßer Traum, eine Zeit voller ungefährlicher Petitessen gewesen sei. Dies war die Zeit, in der noch die Erinnerung an Krakau, an Maribor oder die Walachei lebendig war, in der man wußte, was diese Städte und Landschaften ausmachte, bevor sie für fünfzig Jahre in Westeuropa zu fast vergessenen Melodien wurden.
Viel neuer war die Entdeckung Westeuropas. Nur wenig später gelangte man mit dem Zug über Ostende und Dover nach London, über Hammersmith nach Sheperds Bush, in die Goldhawk Road und von dort in eine weitere Nebenstraße, die Cathnor Road, zu der so ungemein liebenswerten weißruthenischen Exilregierung, Vater und Sohn, wo er stundenlang mit der rundlichen Frau des Sohnes, einer so typische Engländerin, in diesem Falle mit einer norwegischen, nicht irischen Großmutter, Tee trank, der in einer wattierten Holzkiste warmgehalten wurde und Abends die ganze Bitternis des Tages hinunterspülte. Mit ihr wanderte er auch in der Osternacht zur orthodoxen Kirche in der Gegend zwischen Notting Hill Gate vor den Rassenunruhen und vor dem in jedem Englischlehrbuch vertretenen Karneval der Kulturen dort und Bayswater mit seinen überteuerten Mittelklassehotels, wo sie darauf hofften, Prinz Philipp zu sehen, der aber bis drei Uhr nachts nicht auftauchte. Dann täuschte sie eine Ohnmacht vor, um den Herrn nicht im Morgengrauen begrüßen zu müssen. In der Cathnor Road lebte man mit den Menschen zusammen, die alles mit einem Wortschatz von fünfhundert Wörtern sagen konnten und die nichts dagegen gehabt hätten, Karl an einem der nächtlichen Streifzüge nach von Lastern heruntergefallenen Elektrogeräten teilhaben zu lassen.
Viele hatten keinen Partner, sich auszutauschen, in gleicher Weise wie Joschka Fischer fast ein halbes Jahrhundert später über seine eigene Vergangenheit sagte, sie könne nur verstehen, wer dabeigewesen sei.
Sollte man mit den Kindern reden? Aber ja, Karl wuchs in einer Familie auf, in der geredet wurde, genug davon. Karl ging in ein Gymnasium, in dem geredet wurde, nicht das gleiche wie zu Hause, aber an beiden Orten gab es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die gefüllt wurde mit den freudigen jugendlichen Erwartungen, den persönlichen und gesellschaftlichen Erschütterungen, die verteidigt, erklärt und verurteilt wurden. Wir mußten uns an Berlin ohne Schlüter und Dresden ohne den Zwinger gewöhnen, ganz zu schweigen von der spät, aber längst wieder erstandenen Frauenkirche. Traf Karl auf die einzigen hundert Menschen, die kommunizierten, sich bemühten zu verstehen, es für sich in manchem taten, die eine Geschichte und Träume hatten, die sie vermitteln wollten für die Gegenwart und Zukunft, die voller Neugier die Außenwelt wahrnahmen, nachholten und weitergingen, zu Rodin zurückkehrten und Giacometti für sich entdeckten und hofften, ihm in seinem angeblichen Lieblingscafé in der Rue d’Alésia zu begegnen, das Bauhaus über die Jahre gerettet hatten, die Sparsamkeit von Knoll-Möbeln genossen und die Liebe zu Le Corbusier in die fünfziger Jahre hineintrugen, ihm in Ronchamps die ganz eigene Beziehung zu Gott verdankten? Nie war dieser näher, und was Karl mit seiner Familie und vielen Freunden erfuhr, war, endlich allein sein zu dürfen, nicht bekennen und marschieren zu müssen. Und ging man nicht in seine Kirche, so saß man doch in einem Eiermannstuhl. Dies machte unempfänglich für einen kollektiven Willen, es ließ Pater Leppich und andere Tribune zu bloßen Schaustellern verkommen, gleichgültig, wie gut ihre Sache war. Trotz Klaus Doldingers hommage an Zarah Leander blieb diese ein unberührtes Wesen aus einer anderen Welt, deren Stimme mit der großen, etwas schwerfälligen Gestalt darum bereits in den dreißiger Jahren von China über Zentralasien bis Deutschland geliebt wurde. Und wir durften Picasso zum größten Maler aller Zeiten erklären.
Und dabei wuchs Karl noch nicht einmal in einem Ort wie Iserlohn auf, aus dem ein Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Tage nach Goethes Geburtstag im Jahre 2003 berichtete: „Was soll die plumpe Verdammung eines ganzen Jahrzehnts und seines geistigen Klimas? Ich habe die Fünfziger als Teenager in der westfälischen Mittelstadt Iserlohn durchlebt und wie die meisten meiner Generationskollegen von „Mief und Muff“ wenig gespürt. Im Gegenteil: Ein junger, wacher Mensch lebte damals auch als Provinzler in einer optimistischen Stimmung des Aufbruchs und der ständigen Auseinandersetzung mit neuen Strömungen von Literatur, Musik, Theater und Technik. Es gab eine beachtliche Jazzszene, Experimentierbühnen, Filmclubs und bestens sortierte Büchereien. In der Schule und in der kirchlichen Jugendarbeit wurde (entgegen hartnäckigen Behauptungen späterer Betroffenheitsprofis) die Nazi-Vergangenheit nicht „totgeschwiegen“. Ich jedenfalls erinnere mich an die Deutsch-Lektüre von Albrecht Goes‘ „Unruhige Nacht“ und „Das Brandopfer“ sowie an Diskussionen über Eugen Kogons „Der SS-Staat“, verbreitet als preiswertes Taschenbuch. Und was die Lehrer betraf, so waren die allermeisten kenntnisreiche Respektspersonen, für die der heute vielfach pädagogen-typische Schlamp- und Freizeitlook vor der Klasse undenkbar gewesen wäre. Natürlich fand die damalige „Jugend von heute“ manches entsetzlich spießig und gestrig. Aber sie suchte sich ihre Ventile, und sei es im Rock ‚n‘ Roll, der 1955 mit Wucht hereinbrach.“ Wahrscheinlich hat der Autor, Herr Hoffmann, Sekou Touré nicht mehr erlebt – aber das war vielleicht schon 1960, der von Paris verwöhnt und daran gewöhnt, am Goethe-Institut zu Iserlohn einen Provinzkoller bekam und eines Nachts die Schaufensterscheiben auf der Iserlohner Hauptstraße zertrümmerte. Vielleicht haben Herr Hoffmann wie auch Karl das Jahrhundert verwechselt, das wunderbare Jahr war 1859. Vergessen haben beide, dass eine für manche unverzichtbare gegenwärtige Politik mit den entsprechenden Auseinandersetzungen bewußt – endlich wird man in Ruhe gelassen! – und auch unfreiwillig, weil wir endlich wieder irgendwohin gehörten, ausgeblendet wurde. MacCarthy wirkte, war aber weit weg, und erst Jahrzehnte später wurde uns aus der Geschichte, aus den Nachrufen für Karl August Wittfogel und anderen bewußt, dass es immer nur darauf ankam, in welchen Losbecher wir zufällig geraten waren.
Von seinem Vater hatte Karl gelernt, es sei genug, immer seinen Paß und eine Zahnbürste mit sich zu tragen, dann sei man frei und könne weiter fliehen als nur bis in den Schutz des kirchlichen Paradieses, so schön dies auch war, wie in Maria Laach. So konnte man sich jeder Zivilstreife stellen, die im Hofgarten Karl für einen entlaufenen Fürsorgezögling hielt. Aber das war schon in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, in der ersten hatte man in der Schule unbefangen über des vielleicht neuen Deutschlands Beteiligung an der EVG gestritten und gelernt, dass man sich mit einer Handtasche über dem Kopf hinter einem Stuhl vor der Atombombe schützen könne, während man heute bereits vorsichtig sein muß, Bratkartoffeln oder gar Pommes frittes zu essen wegen des krebserregenden Acrylamids. Dass der amerikanische Verteidigungsminister fünfzig Jahre später immer noch sagen konnte „duck and cover“, das hätten wir damals vielleicht geglaubt, doch war auch Hiroshima sehr nah, und das angeratene Klebeband hatte die Tendenz, sich in sich selbst zu verfangen. Und doch müssen wir es wieder glauben, denn der nächste Ratschlag zwanzig Jahre später war, Distanz zu halten, und inzwischen ist die Halbwertzeit so kurz geworden, dass die Amerikaner in Tuwaitha gefahrlos der Bevölkerung die alten ehemals radioaktiven Fässer als Wasserbehältnisse überlassen können. Und so leben wir einmal mehr in der besten aller Welten, weniger deutsche Tote nach dem großen Tsunami, weniger Opfer der neuartigen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (128), mit den Ergebnissen der verschiedenen Untersuchungskommissionen in Hiroshima und Nagasaki drei Monate nach den Bombenabwürfen. Eines ihrer Fundstücke war ein weißer Baumwollkimono, dessen hellrosa Ärmel mit grünen Blättern und roten Blumen bestickt waren. Dieser Kimono, den ein Mädchen etwa zwei Kilometer von der Abwurfstelle im Freien getragen hatte, war nicht verkohlt, aber auf der linken Schulter waren die Verzierungen verbrannt und hatten Löcher zurückgelassen. Auf einem größeren Stück an der Schulter waren die roten Blumen schneller und gründlicher verbrannt als die grünen Blätter. Der Leichnam des Mädchens wies die gleichen Brandspuren auf.
Die eigentliche Bedrohung kommt vom eigenen Herd. Prometheus ist an allem schuld. Als ob die Tiere, die roh verzehren, länger lebten. Und dann natürlich auch noch das Acrylnitril, des Rauchers Bannfluch, bestätigt durch gaschromatographische und massenspektrometrische Untersuchungen. Mit zunehmend verfeinerter Meßtechnik verschwinden die modernen Gefahren. Stattdessen sollten wir auf den Luxus verzichten, als Erbengeneration in den grünen, arsenhaltigen Tapeten William Russels zu leben und lernen, geweißten Decken zu mißtrauen, die in Rom die amerikanische Botschafterin Clare Booth-Luce erkranken ließen.
Eine Jüdin war im Unterricht im katholischen Gymnasium gewesen, hatte vom Schicksal ihres Volkes unter den Deutschen erzählt, und die Schüler hatten Probleme mit der Ausschließungsklausel des Vergebens, aber nicht Vergessens, obwohl dies eine sehr menschliche Formel war. Doch tritt auch dies trotz lauter gewordener Mahnungen immer weiter zurück in die Vergessenheit. Die Vergangenheit und Verstrickung der Eltern- und Lehrergeneration wurde nicht verschwiegen, aber sie hatte einen gedämpfteren Ton, weil eben diese die Spuren am eigenen Leibe trug. Es war die Generation, zu der der Mann im Pariser Café schweigend vor seinem Rest Zuckerwasser gehörte, der schließlich provoziert von einer lauten und bramabarsierenden Studentenschar aufstand, sein Hemd aufriß und die Merkzeichen von Ostrolenka zeigte. Ihm hat der norwegische Dichter Alexander Welhaven ein zeitloses Gedicht gewidmet, nicht, weil auf der einen Seite die Wahrheit war, sondern alle betroffen waren. Das Gymnasium war katholisch und doch ein geeigneter Spiegel der Schule David Copperfields in Canterbury oder des Internats in Pirna.
Damals wurden in Deutschland unbekannte Teile des 20. Jahrhunderts entdeckt, das in den ersten fünfzig Jahren scheinbar unterlegen war dem Aufbruch der Massen, der Überzeugungsmacht der schöpfungsstolzen Menge, dem homo politicus. Der schmale Strom von Phantasie und Schönheit hatte einen Atemzug eine Chance, weil man einen Augenblick nicht zur Welt gehörte, entdecken durfte, staunen, ohne sogleich wieder in die Wirklichkeit gestoßen zu werden oder umgekehrt wie die kindlichen Helden Arthur Ransomes oder Maurice Sendaks in der Wirklichkeit Schutz vor ausufernden und bedrohlichen Vorstellungen suchen konnten. Es war eine Zeit, in der sich Karl Radek mit den fiktionalen Schwalben und Amazonen schmerzlos vereinen ließ.
1950 verkündete der Elferrat, „jetzt tanzt das Funkemariechen mit einem Türken“, und die künftige kölsche Schwiegermutter bekam einen Schweißausbruch im Wissen um die folgende Podiumsrunde. 1952 konnte man norwegisch sprechen und wurde noch schnell auf die Zuschauertribünen vor dem Westtor des Domes verbannt. Der einzige Italiener auf dem Gymnasium war Mitte der fünfziger Jahre noch ein ganz normaler akzeptabler Exot, während kaum später ganze Straßenzüge in Grafenberg aus Protest gegen ein Itaker-Heim den noch bescheidenen Verkehr lahmlegten und sich der Deutschlehrer in jugendbewegtem Hemd und mit Jesuslatschen an den nackten Füßen an den Luftkampf über Italien und die feigen Spaghetttifresser erinnerte.
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