Dienstag, 28. September 2010

Lesender Weise 3

Erinnerungen I

In zwei Tagen soll er David in dessen Wohnung in Wien treffen. Nicht nur die europäische Mutter war für diese Reise verantwortlich. David hatte seinen Teil dazu beigetragen.
David, der auf Vollkommenheit wert legte, hatte oft überlegt, ob er seinen biblischen Namen ablegen sollte, den seine Eltern ihm ungefragt zugewiesen hatten – welche Schmach, nur wegen des Tunnelblicks seines Gegners gesiegt zu haben. Doch aus Angst vor ihm unbekannten Assoziationen, hatte er ihn nie geändert.
David ähnelte sehr Arcimboldis Rudolph II., und betrachtete man ihn in seiner ganzen Gestalt, so fand man scheinbar Unvereinbares wunderbar vereint. Man sah es ihm an, daß er sich durch dauernde Kultivierung in Narziss verwandelt hatte. Er war der einzige Mensch, dessen Zehen sich Karl elegant neben silbernem Besteck vorstellen konnte. Sie waren lang und gepflegt wie die Finger von Karls väterlicher Großmutter, die die Form ihrer Nägel durch einen weißen Stift hervorzuheben pflegte, ganz anders als die Bäuerinnen auf Fyn, die in fingerlosen Handschuhen ihre Trauerränder zeigen mussten. Alles war in leicht grotesker Weise perfekt an David, allein für Düfte fehlte ihm das Augenmaß.
Er lebte im 4. Bezirk in einer kleinen Atelierwohnung, von derem Fenster man in Richtung des Belvedere blickte, ohne diesen sehen zu können. Er lebte von einem halben Ölberg, der ihm oberhalb von Patras vom elterlichen Erbe aus venezianischer Kollaboration zugefallen war. Gut Mitte dreißig, war er damals fast doppelt so alt wie Karl. Er war vor einigen Monaten nach Köln gekommen, da er auf halber Strecke die summa Europas zur Jahrhundertmitte zusammentragen wollte, wie ein Maler einen Apfel von seinem Kern bis zur Fäulnis in einem Gehäuse auf einer Leinwand, wie Jean Magnon, der in 200.000 Versen alle Bibliotheken überflüssig zu machen suchte. Köln war in diesem Falle nur Stockhausen, auf den er in einer kleinen Wohnung über einer Karnevalskneipe am Barbarossaplatz vergeblich wartete. Stockhausen war auf seiner Suche seinerseits in – Fragezeichen – Japan, Hentze war noch nicht Papst, sondern nur Teil der eiskalten intellektuellen Emotionalität, und da kein anderes Teil von Köln Anteil am 20. Jahrhundert hatte – E. W. Ney war in die Dekoration abgeglitten, und Böll hatte die Provinz noch nicht und nie verlassen – widmete sich David mit Distanz und kritischem Sinn dem verbleibenden Volksleben und dem damit verbundenen karnevalistischen Phänomen, über Konserven des eigenen Lachens noch einmal zu lachen.
Die Bekanntschaft ergab sich, wie in Karls Familie üblich, nicht durch spontane Kontaktaufnahme. Dazu war nur Karls Mutter auf fremdem Terrain in der Lage, die schluchzend einen Zug bestieg und sofort mit den fremden Menschen im Abteil sprach. Es war Nora, eine gemeinsame Bekannte aus väterlichen Kindheitstagen, die noch mit mit Zuckerwasser gestärkten Zöpfen auf dem Kutschbock zur Brautschau durch Böhmen gefahren worden war und geglaubt hatte, ein Kuss sei ein Heiratsversprechen, so wie die schwangere Lehrerin am Niederrhein entsetzt bekannt hatte, sie habe ihn als Vorsichtsmaßnahme doch gar nicht geküsst und die David zu Karls Familie steuerte, um ihm so einen Stützpunkt in unbekanntem Land zu verschaffen. Er kam einmal und immer häufiger. In den Augen von Karls Mutter war er ein Herr – ein Partner Elisabeth Bergners, eine ihrer wichtigsten akzeptablen Kategorien, obwohl er der erste Gast in ihrem Hause war, der behaart und gebräunt in blendend weißem Hemd ohne Jacke und Krawatte zum Frühstück erschien. Allen in der Familie gefiel Davids sprunghaft intellektuelle Art, seine Herkunft aus Musils Welt, mit dem man nicht nur über die Entstehung eines Gefühls diskutierte, sondern auch über das in einer Geste gespiegelte Portrait, und selbstverliebt ironisch zeigte ihnen David seine Lieblingsphotographie, auf der er elegant und souverän, vielleicht nachdenklich, dem Betrachter wie die Schwester Reynolds abgewandt in den herbstlichen Wald hineinschlenderte, nicht unterbewußt erschreckt wie Henrik Ibsen, als dieser nicht merkte, dass Carl Størmer ihn von hinten photographierte.
Wie später jemand zutreffend zu Karl sagen sollte, „Du bist gut in der Nachahmung,“ griff dieser die Selbstdarstellung Davids auf, hatte neidvolles Vergnügen daran, daß die „Gräfin“ im Rialto David begrüßte, als sei er ihr ständiger befreundeter Gast, während sie dem zu jungen Karl durch den Spion der Lokaltür mehr als einmal kritisch würdigend den Eintritt verwehrt hatte. Sie ließen die Welt hinter sich, wenn er Nachts David über die Wege des trüben Niederrheins fuhr, ihn tertiär an den eigenen sekundären Erfahrungen, dabeizusein und doch nicht dazuzugehören, an rheinischen Rauchzeichen und jungen Wilden teilhaben ließ, die wiederum überboten wurden durch Sitzungen in einem Großvaterschaukelstuhl eines Wiener ungewaschenen Ateliers und austauschbar waren. Und David war amüsiert sympathisch berührt und ein wenig boshaft, wenn er den weißen jungfräulichen Jungen eindringlich aufforderte, ihn und seine Freunde in Wien zu besuchen. Keineswegs unrichtig kündigte er ihn als beeinflussbar und als Spaß dort an und keinesfalls als Spross der Firma Zwilling. Nicht nur das, im kommenden Sommer ertrug er in Anlehnung an Rex Harrison halb gewollt die Verantwortung für Karl, nachdem er ihm gegen eine Bindehautentzündung unwissentlich Belladonna in die Augen geträufelt hatte, das Gelächter des erschreckt konsultierten Augenarztes ertragen und danach Karl und Katherine zum Essen bei Adam eingeladen hatte. Leicht angeekelt schaute er weg, wenn er Karl den sonnenverbrannten Rücken einreiben musste und ihm seine ältesten Hemden zum anschließenden Wegwerfen überließ. Er war es, der Karl in die italienisierende Athener Gesellschaft einführte, den dekadenten Nachkommen tüchtiger Piraten, die ihren literarischen Witz in absichtslosen Leserbriefen und Schreiben an die schwer- und selbstgefälligen Behörden bis zur Perfektion erschöpften. Er war es auch, der Karl, dessen Erfahrungen sich auf die vielen tausend Seiten von Fallstudien der Agnes von Krusenstjerna beschränkten, die seine Mutter ihm verbieten wollte, der Vater jedoch zugestand, seinem Bildungsschicksal mit olivfarbenen Homosexuellen überließ, dem bösen Palmisten Christos auslieferte, um zu sehen, wie Karl sich verhalten würde.
Zuerst aber würde er Karl in Wien in Empfang nehmen, ihn zu Nora bringen, in seinen Freundeskreis einführen. Er wollte ihn initiieren.

Jetzt war David mit dem Wagen eines Freundes auf dem Weg vom Genfer See nach Wien. Der Freund ist für die anderen in Wien und auch für Karl nur jemand, der einen Weinberg hat und guten Wein macht und mit dem man auf Seitenwegen darüber spricht. Lange ist man bereit, David seine Kennerschaft zuzuerkennen, wenn man selbst nicht merkt, daß ein Wein mit Hilfe von Gips geklärt worden ist. Näher ist die Frau des Freundes, Josephine, die neben ihm im Wagen sitzt und in souveräner Weise ihr eigenes Leben lebt. Auch sie wird in Wien zum Freundeskreis stoßen, sich vergnügen und alles von sich abperlen lassen, was sie zu ihrer eigenen Befriedigung tut. Sie ist eine vollkommene, gewissenlose Lilith vor dem Sündenfall, die ungerührt jeden versucht. Kein Abschied fällt ihr schwer, und so fällt ihre Abwesenheit nach kurzer Zeit nicht mehr auf. Doch hebt ihre Anwesenheit den Eigenwert.
Es ist David, der fährt und mit Josephine plaudert, in ihrer Nähe badet und sich aufführt wie ein konspirativer und damit gleichberechtigter Chauffeur. Er darf über die Sterne sprechen, über die Mode, ebenso wie über die Ausstellung in Blau von Yves Klein, und Josephine ordnet die Sterne nach Häusern und Konstellationen und setzt sich zurecht, als durchschreite sie die blau verhängte Rue de Rivoli unberührt von den „assassins!“ schreienden Anhängern der Jungfrau von Orléans, unberührt von Kosmogonien und Anthropometrien. Im Wagen schrumpft die Welt auf diesen Käfig zusammen, der Schneider Joseph auf Thera ist da, der ungeschickte Koch auf Hydra, der den Hummerpanzer mit dem Hammer zerschlug, die Kunst, die Literatur Europas von Island bis zu Kavavis‘ Alexandria und damit auch zu Marguerite Yourcenar. Und Josephine und David sind periphere, aber doch Beteiligte.
Die Fahrt selbst wird zum Spiel, die Belastungsfähigkeit zu testen, die Zeit zu fressen, um sagen zu können, es war wie eine Etappe von Paris nach Dakar oder nach Peking. Wir überquerten reißende Ströme, steinige, staubige Wüsten, die Orte der Eingeborenen unter brennender Sonne, stürzendem Regen und Schneesturm, einen Tag und eine Nacht. So war es, wenn David sich den Weg durch den Schneematsch Schweizer Landstraßen bahnt, ausdauernd, aber vorsichtig den Schnee am Arlberg durchpflügt, den auf sie einstürzenden Bergen im Inntal ausweicht und schließlich in aufklarender Dunkelheit durch die Voralpen nach Wien hineineilt, begleitet vom gemeinsamen Geplauder vor der schmatzenden, rauschenden und schlagenden Melodie der rollenden Reifen und der variierenden Monotonie des Motors. Ein schneller Blick, zu kurz, um unnötige Namen zu erfassen, genügt, um zu konstatieren, daß die Nummern der zu durchmessenden National- und Bundesstraßen die richtigen sind.
In Innsbruck machen sie Station, um zu Abend zu essen, beide heiter, keiner von beiden gehört zu den Menschen, die bereits nach kurzer oder auch langer Fahrt ausschauen, als wären sie noch nicht richtig aufgestanden, sondern vielmehr, als hätten sie sich nach einem anregenden Tag zum Höhepunkt des täglichen Genusses verabredet und hätten jetzt alle Zeit dieser Welt, sich bei einem Gastmahl darauf einzustellen, vermitteln den Nachbarn an den anderen Tischen im Restaurant das Bild entspannter Konzentration und Freude auf den anderen. Sie könnten dem Handbuch für Protokoll, Höflichkeiten und Überlieferungen Deutschlands der amerikanischen Armee entstammen, in dem der Handkuss so elegant beschrieben wurde: „In der klassischen Version beugt sich der galante Mann über den ausgestreckten Arm der Dame, die ihre Hand leicht erhebt und gegen diesen Druck eine trockene Berührung der Lippen empfängt.“ Weder David noch Josephine merkt man an, dass sie vor allem sich selbst lieb sind. Gäbe es nicht eine kleine Inkongruenz, bevor sie das Lokal verlassen, als David auf dem Rückweg von der Toilet¬te zu ihrem Tisch trotz seiner beeindruckenden Begleiterin einer jungen Frau mit allen kostenlosen Attributen ihrer Jugend mit einem unerfüllbar zugemurmelten „domani“ schmeichelnde verschwörerische Zustimmung abfordert. Er weiß nicht, wie ähnlich er damit dem prahlenden jugendlichen Obdachlosen aus der Düsseldorfer Aderstraße ist, der über seine zahllosen Eroberungen scheinbar gewissenhaft Buch führt und seine eigenen Notizen für beweiskräftig hält, dabei sein Marienbad noch nicht erreicht hat und keine Gelegenheit haben wird, die Liste der fünfhundertvierzehn Frauen zu Ende zu schreiben.
Es ist tiefe, frühlingskalte Nacht, als sie die einsame Mariahilfer Straße hinabglei-ten und hinüber in den 4. Bezirk kreuzen, um zu Davids Atelierwohnung zu ge-langen. Beeindruckend ist nach der Fahrt, nach den Strapazen, wie die verinnerlichte Höflichkeit David mit leichter Hand ein Bett für Josephine bereiten lässt, ihn veranlaßt, den Katalog möglicher Wünsche von einem Drink bis zu einem Bad abzufragen.

Die verschiedenen gemeinsamen Erinnerungen, vor allem das fast gleiche Gewicht der Erinnerungen, führten Karl und Hannelore zusammen, da überdies die indischen Erlebnisse, von denen sie sich losgesagt hatte und über die sie fast völlig schwieg, Hannelore in Deutschland hatten vereinsamen lassen, auch wenn sie nie nackt im Erlösungsrausch durch indische Straßen gerannt war.
Einen weiteren überraschenden gemeinsamen Kreuzweg gab es in Karls und Hannelores Leben. Es war Frau Münchbergs Patentante gewesen, der das Nachkriegsgut in Niedersachsen bei Gandersheim gehörte, wo Karl die Hähne der ganzen Welt als kleiner Junge gehört hatte. Immer noch lebte sie dort als einsame Dame, und der Mechanismus, mit dem Abends die Treppe zum ersten Stock wie eine Zugbrücke hochgezogen werden konnte, funktionierte immer noch. Und so mischten sich in die Erinnerungen an David ähnlich getrennt Gemeinsames aus der Jugend und Kindheit.
Wenig später durch Frau Münchberg angekündigt besuchte Karl die ältere Hannelore und traf eine mehr als neunzigjährige allmählich vergehende Dame in einem weißen hochgeschlossenen Kleid, die die letzten vierzig Jahre vor allem damit verbracht hatte, ihre Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen von der gutsherrlichen Energieversorgung bis zur Alterssicherung solange zu behaupten bis dieser selber zum Ergebnis gekommen war, dass er als Staat freilassen können müsse. Und sie hatte ihre literarische Polyglottie gepflegt. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre waren wacher bei ihr als bei Karl, und doch war es ein stiller Erfolg. Als ihr Testament nur zwei Jahre danach eröffnet wurde, hatte sie das Anliegen ihrer Patentochter zu dem ihren gemacht, und ihre niedersächsischen Ländereien wurden Stiftungsbesitz der im Aufbau begriffenen Universität.

Es war die Kindheit Karls gewesen, und die Welt, in der er lebte, war jung hinauf bis zu seiner Großmutter, und sie begann nicht mit grellen Stimmen, bösen Hand-lungen und schrillen Geschossen, sondern mit frühsommerlicher Stille, die in der eigenen Welt nur vom Gesang Karls und dem Trommeln seiner Füße gegen die Bretter eines weiteren Außenklos unterbrochen wurde. „Der Krieg ist aus. Der Krieg ist aus.“

Sonntag, 26. September 2010

Lesender Weise 2

Raststätte Gütersloh

Das letzte Mal, als Karl die Raststätte Gütersloh aufgesucht hatte, hatte eine Reisegruppe junger Männer auf dem WC untereinander die Schwänze verglichen. Seine Erinnerungen konnten nur einen Wandel zum Besseren erleben. In seinen Träumen war es vielleicht Gütersloh gewesen. Nun wurde es tatsächlich für eine letzte Lebensphase zum Lebensmittelpunkt, entzückend gefüllt mit realisierbaren Plänen für eine Eliteuniversität – vielleicht sogar gepaart mit der Hoffnung, ein Ideal zu verwirklichen, einen Klon zu etwas einzigartigem zu entwickeln, das vielleicht bezaubern könne, selbst wenn es um solche Fragen ging, wie die einzuführenden Propädeutika oder auch nicht, das Selbstlob, das irgendwann hoffentlich Fremdlob gebiert.

Karl erfuhr während eines ersten Anlaufs, worauf er sich einzustellen hatte, als er an einem nächsten Tag viele Jahre nach anderen Ereignissen zuerst beim Bürger-meister von Wien, dann im Rektorat der Universität aufkreuzte.
Seine Pläne galten der Erneuerung der Wiener Universität oder besser noch der Gründung einer neuen Universität unter Einschluss seiner Person – Mischlinge haben keine Tradition –, die alles bisher erdachte und geschaffene in den Schatten stellen sollte, Kreativität als Ordnungsinstrument mit dem Keim des Chaos. Fächergrenzen sollten aufgebrochen und gleichzeitig erhalten werden, die Innovation seit dem lateinischen Mittelalter sollte endlich eine ungehinderte Heimat finden. Mit Geld gegen Geltung und Macht wollte er sich einbringen. Und er hatte ein Feld gewählt, auf dem seine Welterfahrung im Verein mit seiner Überzeugungskraft zählte. Er gehörte zum Establishment. Das hatte er erlebt, als ihm Name und Stellung seines Vaters den Weg in ein akademisches Leben erleichterten. Die Gegenleistungen waren ihm billig gekommen. Nur wenn es die Höflichkeit gebot, musste er Taschen tragen. Er hatte in Erinnerung und unter Berufung auf David, inzwischen zunächst in Poona verschollen, aber nützlich wie am ersten Tag, die Überführung einiger Ikonen aus Meteora in das Eigentum eines Ministers mit einigen Gesprächen organisiert.
Nur war Wien genau so erstarrt wie die bestehenden deutschen Universitäten, wie jede Institution, die zum Selbstläufer wird. Intelligentere Traditionalisten vermuteten, Karl habe einen Gehirnschlag erlitten, verursacht durch zwei kleine Blutgerinsel auf beiden Seiten des Gehirns, dessen operative Heilung ihn obsessiv kreativ habe werden lassen. Und so sah sich Karl nach anderen Möglichkeiten um.
Er geriet zurück in die deutsche Heimat und traf bei allen politisch relevanten Gruppen, die auf sich hielten und an die nächsten Wahlen dachten, auf den Willen und die Überzeugung, Deutschland brauche eine Eliteuniversität, denn so sei es immer schon gewesen: Schon Erasmus hatte das Ei gelegt und Luther es lediglich ausgebrütet. Das Problem sei die Finanzierung, ob über Studiengebühren oder die Erbschaftssteuer, die politische voluntas für eine Gründung war unbedingt vorhan-den, weil alle Verantwortlichen das factum brutum anerkannten, daß das deutsche Bildungswesen nicht nur hinter Finnland, sondern auch hinter Großbritannien, der Türkei und den USA zurückgefallen sei. Neue Innovationsstrategien mußten ent-wickelt werden. Karl traf auf ein ideales Zeugungsklima.

Zurück in der deutschen Heimat zu diesem Behufe hatte Karl die desillusionierte Witwe Davids, aufgetaucht aus der Seelenvereinigung in Poona, Hannelore, die Tochter und alleinige Erbin des Bankiers Münchberg, zu einer Stiftung überreden können, da sie inzwischen klug und diesseitig romantisch meistens in ihrem Münchner Heim mit dem Blick auf den Englischen Garten saß. Lange hatte er sie aus den Augen verloren, weil er die Erinnerung der frühen Zeiten aus seinem Leben verbannt hatte. Ein bloßer Zufall führte sie wieder zusammen, nein, führte sie zum ersten Mal zusammen. Denn David war diese Verbindung nach der gemeinsamen Wiener Zeit eingegangen. In Berlin hatte Karl bei einer Gesellschaft mit dem physisch wie psychisch barocken österreichischen Professor Bartel Braegner aus der Heiligenstädter Straße Erinnerungen ausgetauscht, während dieser sein Bein nach einem universitären Fußballspiel auf einem Kissen ausruhte. Und bald war man zum Du gelangt, weil man mit dem Bartel an Wiener Reminiszenzen anknüpfen konnte, und es stellte sich heraus, daß man gemeinsam zeitversetzt die Annagasse und die Bewohner des Hauses Nummer 3 kannte. Mit vielen Verschweigungen war das so, so oder etwas anders gewesen, und beide schwelgten in süßer oder jugendlicher Erinnerung in zensierter Form. Wie viele Bekannte weitergelebt hatten, und selbst David tauchte in den Erzählungen beider auf, wenn auch beim Bartel nicht in der gleichen zentralen Rolle, sondern eher nur als müde Sternschnuppe im Vorüberziehn, doch deutlich genug wahrgenommen, so dass Karl erfuhr, dass er fast unbemerkt – sogar von ihm selbst – gestorben war – so passend zu David –, eine Witwe hatte, die jetzt in ihrer Heimatstadt München lebte. Selten nur ging diese aus, da sie nach mehreren Hautstraffungen das Lachen verlernt, aber an Neigung zu dieser Welt gewonnen hatte.
Nach mehr als dreißig Jahren gewannen die Erinnerungen an Bedeutung und an beruhigender Zärtlichkeit, und Karl machte sich die Mühe, Frau Münchberg ausfindig zu machen. Er hatte sie angerufen und gebeten, sie besuchen zu dürfen. Das waren die gefährlichen Momente des Lebens, wenn die Zärtlichkeit des Herzens auf die Zunge zu geraten drohte und die Erinnerung wirklicher war als die gegenwärtige Welt. Gemeinsam hatten sie das Bild Davids komplettiert, und manches wie Stockhausen und Musil hatte David in ihr gemeinsames Leben hinübergetragen, und Karl war in der Lage, drei Jahre eines vielfältigeren Lebens zum Bild Hannelores hinzuzufügen.

Lesender Weise

Das kleine Mädchen in „Hills Like White Elephants“ rief mir zu: „Would you please please please please please please stop talking“, und ich versuchte ihr zu erklären, dass es mit meiner vorhandenen Meditationsfähigkeit und meiner fehlenden Beobachtungsgabe zu tun habe, dass ich mit Wortkaskaden Präzision erschieße und Spannung erst gar nicht aufkommen lasse. Das ist es auch, das mich veranlasst, was ach so gern ein Roman wäre, in Comichäppchen allmählich von mir zu geben.

Danksagung

Mein Dank richtet sich vor allem an die Frankfurter Allgemeine Zeitung, über die ich die Welt und dann besonders durch die Beiträge von Jürgen Kaube und Heike Schmoll, selbst gestern noch versüßt durch Exzellenzbestrebungern, viele Jahre lesend wahrgenommen habe, obwohl vierzehn Tage – nicht wegen der FAZ – meinem Weltbild genügt hätten in ähnlicher Weise wie sechs Wochen im Teehaus am Shouxi-See in Yangzhou, vor fünfundzwanzig - inzwischen dreißig - Jahren, schweigend und allein mit einem gelangweilten Kellner, der es genoss, mich am Ende unserer gemeinsamen Sitzungen zu rügen, weil ich keinen anderen Platz für die aufgeknabberten Sonnenblumenkernschalen fand als den Boden. Ein faszinierender Dialog. Also mein Dank auch an diesen unvergessenen Anonymus.
Auslöser ist ein Artikel in der FAZ vom Montag, den 29. Januar 2001, S. 48: „Legt die Plakate nieder, ihr Streiter für Gerechtigkeit: Hier gibt es, was ihr fordert: Schon vor der Revolte von 1968 träumte die westdeutsche Gesellschaft von der Emanzipation.“ von Ulrich Herbert
Hinzu kommt jetzt: Nay, Ernst Wilhelm, „Lesebuch“. Selbstzeugnisse und Schriften 1931-1968. Zusammengestellt von Madalene Claesges. Mit einer Einführung von Elisabeth Nay-Scheibler. Köln: DuMont 2002 (Dazu: Eduard Beaucamp, „Trunkene Höhenflüge. Zum hundertsten Geburtstag: Die Schriften des Malers E. W. Nay“, in FAZ 11. Juni 2002, S. 48
An die so wunderschön leichtfertig bearbeitete website der Deutschen Forschungs-gemeinschaft.
An den Autor der Briefe über den Fortgang der Asiatischen Studien in Paris von einem der orientalischen Sprachen beflissenen jungen Deutschen, Zweite, vermehrte Ausgabe. Ulm: Bei W. Neubronner 1830 [1. Aufl. 1828]
An Herrn Wolfgang Büscher, dessen Dissertation Der Flugplatz Gütersloh im Wandel der Zeit: Chancen und Risiken für den Raum Gütersloh/Bielefeld durch die Schließung bzw. Umwandlung des britischen Royal Air Force Flughafens. Rheda-Wiedenbrück 1994 (Veröffentlichungen aus dem Kreisarchiv Gütersloh I,3) ich schmählich ausgebeutet habe und an andere Lokalhistoriker, die näher sind am Leben als... Und wenn jemand meint, er könnte Gedichte von Søren Egerod wiedererkennen, so täuscht er sich nicht. Sie stammen von den Seiten 13, 51 und 55 seines Bändchens Omvej til Laotse. Digte. København: Gyldendal 1975 und sind soweit verunstaltet, dass...
Natürlich ist die Liste der Zufälligkeiten und des Dankes um ein Vielfaches länger, ebenso die unabsichtlicher Absichtlichkeiten, so daß ich schließlich nicht mehr weiß, was gewollt und wer ungewollt sich in meine Erinnerungen drängt. Doch ist es immer wieder die FAZ ohne ihre gouvernantenhafte Strenge, die in der Regel nicht bis zum Feuilleton vordringt und die mir geholfen hat, die Außenwelt zu sehen – nicht zuletzt mit „Katia lesend“ des Malers Balthus auf S. 44 ihrer Ausgabe vom 15. Februar 2003, und selbst das verkümmerte Innenleben meiner Protagonisten ist oft nur eine Internalisierung der Außenwelt.
Sollte ich mich inzwischen auch bei den Zwiebeln des Günter Grass bedanken, die sich anders an den Nationalsozialismus erinnern als an die Adenauer-Zeit? Ich glaube, nein.

Mittwoch, 15. September 2010

The Lady

Putnam, Emily James[1865-1944]: The Lady. Studies of Certain Significant Phases of Her History. Illustrated. New York: Sturgis & Walton Company 1910 (Reprinted April 19, 1911) To A.L.S. (Reedited by University of Chicago Press 1970 with a foreword by Jeannette Mirsky.)
Ich wollte dieses Buch begraben, wegwerfen oder was auch immer, schließlich wurde im ganzen Buch, also auch nicht unter den Bluestockings, Letitia Barbauld erwähnt. Überdies kann ich mich erinnern, dass ich es gekauft habe, aber keineswegs, wo. Auch der Preis mit Bleistift auf dem vorderen inneren Einbanddeckel hilft mir nicht weiter, „24,-„ kann eigentlich nur norwegische Kronen bedeuten, weil ich Bücher, die mich nichts angingen in der Regel nicht kaufte, wenn sie mehr als 5 DM kosteten.
Jetzt aber, da der Erstdruck vom Oktober 1910 stammt, gibt es einen ersten guten Grund, sein hundertjähriges Jubiläum zu feiern, um so mehr als ich selten ein Buch gelesen habe, das so wenig gealtert und immer noch mit Gewinn, weil mit großem Vergnügen zu lesen ist. Und da ich Emily James Putnam nicht kannte – Schande über mich, wie ich nach dem Googlen sagen muss – war das Vergnügen um so größer, weil ich etwas für mich selbst entdecken konnte.

Emily James Smith (http://www.barnard.columbia.edu/president/search/leaders.html)

Credit: Barnard College Archives
Emily James Smith ca. 1897
“Twenty-nine-year-old Emily James Smith became the first dean of Barnard College in 1894 when it was still at its original location of 343 Madison Avenue. Her wise manner and strong determination aided her in setting the foundations for Barnard’s sound curriculum and its commitment to assembling a good academic staff.
Smith graduated from Bryn Mawr (, dessen inzwischen fast endloses Internet Journal mit Besprechungen überwiegend zur Altphilologie Bryn Mawr ebenfalls zur Ehre gereicht.) with its first class and went on to become one of the first women to study at Girton College of Cambridge, later becoming a distinguished scholar of Greek at the University of Chicago. Her mastery of the classics allowed her to become personally involved in the education of Barnard students, teaching Homer to first-years and Plato to sophomores. Through her interactions with students and her high involvement in the College’s everyday affairs, Smith successfully molded the school’s character, setting the pattern for its place in the larger university system.
Under Smith, the College moved to its current Morningside Heights location, with one block of land where Milbank, Fiske, and Brinckerhoff Halls were constructed. With this move, she fought for Barnard’s rights to offer classes that Columbia did not and in 1898, Smith was able to secure Barnard alumnae representation on the Board of Trustees at Columbia. Two years later, Smith renegotiated Barnard’s terms with Columbia, whereby Barnard was given representation on the University Council, Barnard faculty appointments were made by the University, which continued to grant all degrees, Barnard students were allowed to take some Columbia graduate courses, and Barnard could expand in any direction it saw fit. This agreement made Barnard the only women’s college in the county at the time that could act independently while allowing its students open access to an ivy-league university. Barnard was responsible for its own finances, and the College, like a modern woman, paid its own way.
Smith’s marriage to famed publisher George Haven Putnam proved that a woman was capable of successfully combining a happy marriage with a successful career and helped make her a role model to her students. Smith’s term as dean ended on February 1, 1900, when she resigned due to her pregnancy. She returned to the College as a part-time lecturer from 1914–30 and remained a presence in Barnard’s development.”

Es gibt Internetseiten mit einschlägigen Sprüchen, auf denen Emily James Putnam einmal mit so etwas wie einer Gender-Bemerkung aufgenommen worden ist. Das mag in Ordnung sein, nötig ist es nicht, wenn man das letzte Kapitel der „Lady“ liest, „Lady of the Slave States“, in dem sie u.a. die Bemerkung macht, dass es etwa 2.500 Jahre gedauert habe, bis die Lady zur Untätigkeit verdammt wurde, ohne dies allerdings auf die Dame der gehobenen Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts auszudehnen. Nicht nur reiht sie eine kluge und fast witzige Bemerkung an die andere und unterfüttert sie mit hinreichender, manchmal überzeugender Plausibilität, auch wenn ich den Stand der historischen „Wahrheit“ bei diesem Thema nicht kenne, sie zitiert auch unbefangen und selbstverständlich in den meisten westlichen Sprachen – Norwegisch ist verständlich nicht dabei – und kommt in den Kapiteln „The Lady Abbess“ und „The Lady of the Castle“ auch Herrn Grundemann um etwa ein halbes Jahrhundert zuvor, wenn sie von der literata versus den illiterati schreibt. Wenn an dieses scheinbar leichtgewichtige Buch liest, dann erkennt man einmal mehr die Torheit einer Bemerkung wie, „ich habe ein altes Buch gelesen. Es ist 1999 erschienen“.
Der Rede kurzer Sinn: Auch wenn mir das erste Kapitel „The Greek Lady“ am wenigsten inspirierend erscheint, zum Teil ihr Fachgebiet, ein solches Buch kann ich nicht zu den Zerlesenen, Auszusondernden, Wegzuwerfenden tun, und ich hoffe – sollte es natürlich nachprüfen – dass es nicht nur historisierend und zur Würdigung einer ehemaligen Professorin ihrer Universität 1970 wieder von der University of Chicago Press herausgegeben wurde.