Sonntag, 26. September 2010

Lesender Weise 2

Raststätte Gütersloh

Das letzte Mal, als Karl die Raststätte Gütersloh aufgesucht hatte, hatte eine Reisegruppe junger Männer auf dem WC untereinander die Schwänze verglichen. Seine Erinnerungen konnten nur einen Wandel zum Besseren erleben. In seinen Träumen war es vielleicht Gütersloh gewesen. Nun wurde es tatsächlich für eine letzte Lebensphase zum Lebensmittelpunkt, entzückend gefüllt mit realisierbaren Plänen für eine Eliteuniversität – vielleicht sogar gepaart mit der Hoffnung, ein Ideal zu verwirklichen, einen Klon zu etwas einzigartigem zu entwickeln, das vielleicht bezaubern könne, selbst wenn es um solche Fragen ging, wie die einzuführenden Propädeutika oder auch nicht, das Selbstlob, das irgendwann hoffentlich Fremdlob gebiert.

Karl erfuhr während eines ersten Anlaufs, worauf er sich einzustellen hatte, als er an einem nächsten Tag viele Jahre nach anderen Ereignissen zuerst beim Bürger-meister von Wien, dann im Rektorat der Universität aufkreuzte.
Seine Pläne galten der Erneuerung der Wiener Universität oder besser noch der Gründung einer neuen Universität unter Einschluss seiner Person – Mischlinge haben keine Tradition –, die alles bisher erdachte und geschaffene in den Schatten stellen sollte, Kreativität als Ordnungsinstrument mit dem Keim des Chaos. Fächergrenzen sollten aufgebrochen und gleichzeitig erhalten werden, die Innovation seit dem lateinischen Mittelalter sollte endlich eine ungehinderte Heimat finden. Mit Geld gegen Geltung und Macht wollte er sich einbringen. Und er hatte ein Feld gewählt, auf dem seine Welterfahrung im Verein mit seiner Überzeugungskraft zählte. Er gehörte zum Establishment. Das hatte er erlebt, als ihm Name und Stellung seines Vaters den Weg in ein akademisches Leben erleichterten. Die Gegenleistungen waren ihm billig gekommen. Nur wenn es die Höflichkeit gebot, musste er Taschen tragen. Er hatte in Erinnerung und unter Berufung auf David, inzwischen zunächst in Poona verschollen, aber nützlich wie am ersten Tag, die Überführung einiger Ikonen aus Meteora in das Eigentum eines Ministers mit einigen Gesprächen organisiert.
Nur war Wien genau so erstarrt wie die bestehenden deutschen Universitäten, wie jede Institution, die zum Selbstläufer wird. Intelligentere Traditionalisten vermuteten, Karl habe einen Gehirnschlag erlitten, verursacht durch zwei kleine Blutgerinsel auf beiden Seiten des Gehirns, dessen operative Heilung ihn obsessiv kreativ habe werden lassen. Und so sah sich Karl nach anderen Möglichkeiten um.
Er geriet zurück in die deutsche Heimat und traf bei allen politisch relevanten Gruppen, die auf sich hielten und an die nächsten Wahlen dachten, auf den Willen und die Überzeugung, Deutschland brauche eine Eliteuniversität, denn so sei es immer schon gewesen: Schon Erasmus hatte das Ei gelegt und Luther es lediglich ausgebrütet. Das Problem sei die Finanzierung, ob über Studiengebühren oder die Erbschaftssteuer, die politische voluntas für eine Gründung war unbedingt vorhan-den, weil alle Verantwortlichen das factum brutum anerkannten, daß das deutsche Bildungswesen nicht nur hinter Finnland, sondern auch hinter Großbritannien, der Türkei und den USA zurückgefallen sei. Neue Innovationsstrategien mußten ent-wickelt werden. Karl traf auf ein ideales Zeugungsklima.

Zurück in der deutschen Heimat zu diesem Behufe hatte Karl die desillusionierte Witwe Davids, aufgetaucht aus der Seelenvereinigung in Poona, Hannelore, die Tochter und alleinige Erbin des Bankiers Münchberg, zu einer Stiftung überreden können, da sie inzwischen klug und diesseitig romantisch meistens in ihrem Münchner Heim mit dem Blick auf den Englischen Garten saß. Lange hatte er sie aus den Augen verloren, weil er die Erinnerung der frühen Zeiten aus seinem Leben verbannt hatte. Ein bloßer Zufall führte sie wieder zusammen, nein, führte sie zum ersten Mal zusammen. Denn David war diese Verbindung nach der gemeinsamen Wiener Zeit eingegangen. In Berlin hatte Karl bei einer Gesellschaft mit dem physisch wie psychisch barocken österreichischen Professor Bartel Braegner aus der Heiligenstädter Straße Erinnerungen ausgetauscht, während dieser sein Bein nach einem universitären Fußballspiel auf einem Kissen ausruhte. Und bald war man zum Du gelangt, weil man mit dem Bartel an Wiener Reminiszenzen anknüpfen konnte, und es stellte sich heraus, daß man gemeinsam zeitversetzt die Annagasse und die Bewohner des Hauses Nummer 3 kannte. Mit vielen Verschweigungen war das so, so oder etwas anders gewesen, und beide schwelgten in süßer oder jugendlicher Erinnerung in zensierter Form. Wie viele Bekannte weitergelebt hatten, und selbst David tauchte in den Erzählungen beider auf, wenn auch beim Bartel nicht in der gleichen zentralen Rolle, sondern eher nur als müde Sternschnuppe im Vorüberziehn, doch deutlich genug wahrgenommen, so dass Karl erfuhr, dass er fast unbemerkt – sogar von ihm selbst – gestorben war – so passend zu David –, eine Witwe hatte, die jetzt in ihrer Heimatstadt München lebte. Selten nur ging diese aus, da sie nach mehreren Hautstraffungen das Lachen verlernt, aber an Neigung zu dieser Welt gewonnen hatte.
Nach mehr als dreißig Jahren gewannen die Erinnerungen an Bedeutung und an beruhigender Zärtlichkeit, und Karl machte sich die Mühe, Frau Münchberg ausfindig zu machen. Er hatte sie angerufen und gebeten, sie besuchen zu dürfen. Das waren die gefährlichen Momente des Lebens, wenn die Zärtlichkeit des Herzens auf die Zunge zu geraten drohte und die Erinnerung wirklicher war als die gegenwärtige Welt. Gemeinsam hatten sie das Bild Davids komplettiert, und manches wie Stockhausen und Musil hatte David in ihr gemeinsames Leben hinübergetragen, und Karl war in der Lage, drei Jahre eines vielfältigeren Lebens zum Bild Hannelores hinzuzufügen.

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