Aufräumen ist schwer genug, aber wegwerfen ist viel schlimmer. Bei
solchen Räumarbeiten verbunden mit dem Unwort der möglichen Entsorgung fielen
mir gestern zwölf auf Din A5 gefaltete und geheftete Seiten in die Hände „St.
Dubricius Church Porlock. A Brief History with Dateline of Social and
Historical Growth 460 AD. – 2000 AD. Specially produced for the Flower Festival
2001 [by R.R. Higgins 2001 A.D.].“ Auf dem Titelblatt befindet sich zusätzlich
so etwas wie das Siegel der Kirchengemeinde „[von links nach rechts:] Stoke
Pero – Porlock – Porlock Weir“, alles ergooglebar – notwendig angesichts der
dürren und sparsamen Informationen bei Pevsner, Nikolaus, The Buildings of England. South and West Somerset. Harmondsworth 1958
(Penguin Books BE 14), S. 275-276 –, wenn Stoke Pero auch eher schwachbrüstig
und durch einen Esel, der die Kirche ins Dorf brachte, mit
Bonus-Sympathiepunkten ausgestattet ist. Und dann werden bei der Lektüre die
Assoziationsketten immer dichter. Von drei Namen hatte ich einen halbwegs
internalisiert, den Reverend Dr. Stephen Hale ob meiner Neigung für den Typ des
Neugierigen in einer spätbarocken Zeit, der als einziger Gemeindepfarrer von
Porlock in Westminster Abbey verewigt worden ist. Den Gemeindepfarrer von
1872-1899, Walter Hook, der aus ungenannten Gründen in Algerien starb, kannte
ich nicht, biographisch konnte ich ihn nicht erschließen, aber er erschien
nicht allzu selten im Internet als Autor einer Lokalgeschichte Porlocks. Der
spannendste dürfte aber der Schotte Adam Bellenden sein, der nach den genannten
Seiten Gemeindepfarrer von 1642-1647 war, nachdem er Schottland wegen
religiöser Auseinandersetzungen hatte verlassen müssen. Darüber hinaus mag er
der Urheber für die Rahmenhandlung von Lorna
Doone (R.D. Blackmore 1869) gewesen sein, indem er einen Klienten aus
Schottland namens Doone oder Doune mitbrachte, der nach dem Tode seines Herrn
sich der unfreundlichen englischen Umgebung in die Wildnis von Exmoor entzog.
Vielleicht könnte man auf einigen schottischen websites das Todesjahr 1647 und
seinen letzten Wirkungsort Porlock, auch wenn man sich dafür in die englische
Wüstenei begeben muss, ergänzen. Kann es sein, dass er für manche Schotten
schon tot war, als er Schottland verlassen musste?
Von Sankt Dubricius wusste ich auch nichts: "Dubricius, 6th-century Briton Saint who evangelised Ergyng (now Archenfield) and much of South-East Wales; his body was transferred to Llandaff Cathedral in 1120". (Meine PC-Kenntnisse sind so begrenzt, dass ich nicht weiß wie ich ein schönes layout hinbekomme und gleichzeitig von Internetseiten kopiere, nicht klauen will, aber offensichtlich den Vorgang verbergen.) So heißt es nämlich auf einer der zahlreichen ihn direkt oder indirekt betreffenden websites. Und wenn man Angst hat, allzu sehr ins Anekdotische zu verfallen, dann liest man vielleicht auch noch Williams, A.H., An Introduction to the History of Wales. Vol, I: Prehistoric Times to 1063 A.D. Cardiff: University of Wales Press 1949, S. 89. Doch führte mich Dubricius ganz andere Wege. Eigentlich hätte ich gern gewusst, wie viele Kirchen und Kapellen in Britannien nach ihm benannt sind, wurde aber nicht bequem fündig. Dafür aber gelangte ich zur Kathedrale von Llandaff: "On the evening of 2 January 1941 during World War II the cathedral was severely damaged when a landmine was dropped near it during the Cardiff Blitz, blowing the roof off the nave, south aisle and chapter house. The top of the spire also had to be reconstructed and there was also damage to the organ. Of British cathedrals, only Coventry Cathedral was damaged more, during the infamous Coventry Blitz. Major restorations and reconfigurations were carried out under architect George Pace of York, and the building was back in use in June 1958. The Queen attended a service celebrating the completion of the restoration on 6 August 1960. The Welch Regiment memorial chapel was constructed, and Sir Jacob Epstein created the figure of Christ in Majesty which is suspended above the nave on a concrete arch designed by George Pace."
Ich fuhr im August 1958 - das Jahr stimmt, der Monat ist wahrscheinlich - ahnungslos durch Wales, durchquerte auch Cardiff, besuchte aber nicht die Kathedrale von Llandaff, obwohl Epsteins Grab von Oscar Wilde auf dem Père Lachaise (ohne zu küssen), der Lazarus in der Kapelle des New College in Oxford und die Madonna mit dem Kind am Cavendish Square bei mir so viel Zuneigung zu diesem Bildhauer geweckt hatten, dass ich eigentlich..., und ich hatte sogar einen Zeitungsausschnitt - wahrscheinlich aus Die Welt - vom Dienstag, den 16. April 1957 mit einem zugegebener Maßen qualitativ schlechteren Photo der Epsteinschen "Majestas" in eben dieser Kirche aufgehoben. Die Bildunterschrift besagt: "Die über fünf Meter hohe Christusfigur aus Aluminium, an der der 76jährige Künstler achtzehn Monate lang gearbeitet hat, wurde jetzt in der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Kathedrale von Llandaff (Wales) angebracht." So kenne ich dieses Werk nur von Abbildungen und kann nicht sagen, ob sich meine geringere Begeisterung lediglich aus der Zweidimensionalität eines Photos ergibt. Allerdings sind meine Kenntnisse, was Kirchenfenster von Marc Chagall in Frankreich anbelangt (Metz und?), noch schlechter.
So gelangte ich von Porlock auf die andere Seite des Bristol
Kanals und zu Jacob Epstein.
In
der Wikipedia-Eintragung zu Porlock fand sich dann aber auch noch einen Satz,
der diesen Ort immer vertrauter werden ließ: „
Legend has it that
the area beyond Culbone towards Lynmouth
where Glenthorne is now situated is
where Jesus may have alighted on a trip with Joseph of Arimathea. This is said to
have inspired a passage from William Blake's
famous poem, Milton: "And did those feet in ancient time
/
Walk upon England’s mountains green? / And was the Holy Lamb
of God / On England’s pleasant pastures seen? / And did the countenance divine
/ Shine forth upon our clouded hills? / And was Jerusalem builded here / Among
these dark satanic mills?" (...).
Unter der Wikipedia Eintragung "And did those feet in ancient time" hieß es dann noch: "The poem was inspired by the apocryphal story that a young Jesus, accompanied by his uncle Joseph of Arimathea, a tin merchant, travelled to the area that is now England and visited Glastonbury during Jesus' lost years. The legend is linked to an idea in the Book of Revelation (3:12 and 21:2) describing a Second Coming, wherein Jesus establishes a new Jerusalem. The Christian Church in general, and the English Church in particular, used Jerusalem as a metaphor for Heaven, a place of universal love and peace."
Dabei wurde der Beweis für meine Unwissenheit immer schlagender und peinlicher, nicht gewusst zub haben, dass dies in der Vertonung von Hubert Parry so etwas wie die englische (britische?) Nationalhymne geworden ist, aber auch die Hymne der Frauenbewegung. Aber wie das so geht: Mindestens in zwei Feuilletonartikeln der Faz vom 26. September 2012 wird William Blake genannt oder zitiert, in Kaube, Jürgen, "Wider die Einspießerung der Intellektuellen" zu Heinz Bohrer, der Blake zitiert und Bartetzko, Dieter, "Wenn die Vernunft schläft" zu Schwarze Romantik von Goya bis Max Ernst im Städel Museum, in der Blake prominent auftritt. Namen können durch die Luft schwirren wie Pollen.
Zurück zu Jesus: Um nach Glastonbury zu gelangen, wo für uns Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jhs. die Verwirrung ihren Anfang nahm, scheint dies ein nicht ungeeigneter Landplatz gewesen zu sein, doch gilt das auch für die Zinn-Minen in Cornwall, dem Objekt der Begierde Joseph von Arimatheas? Zu allem Überfluss sollen es auch noch die Ding Dong Minen im äußersten Westen Cornwalls gewesen sein. (Near the mine ruins can be found the Bronze Age Nine Maidens Stone Circle, the Men-an-Tol and Lanyon Quoit and the Ding Dong mines themselves. These are reported to be the oldest in the West of England dating back to prehistoric times. There is a legend that Joseph of Arimathea visited the area, and that he brought the young Jesus to address the miners, although there is no evidence to support this. An old miner told Alfred Kenneth Hamilton Jenkin (1900-1980) "Why, they do say there's only one mine in Cornwall older than Dolcoth, and that's Ding Dong, which was worked before the time of Jesus Christ." (http://en.wikipedia.org/wiki/Ding_ Dong_mines (aufgerufen am 25.9.2012)
Weniger solide, was die Minen anbelangt, könnten die Zinnminen in den Mendips - nun tatsächlich nicht zu weit von Porlock - gemeint sein (c.f. Traditions of Glastonbury, by E. Raymond Capt), obwohl dann wiederum in römischer Zeit Glastonbury - noch näher - ein Seehafen gewesen sein soll. Und schließlich wird als Landeplatz auch noch St. Michael genannt, was den Weg zur Ding Dong Mine erheblich verkürzen würde.
Was macht man mit so vielen Traditionen? Wegen ihrer Häufung könnte man sagen: Es muss doch etwas dran sein - und nicht zu vergessen der tatsächliche Fernhandel. Wegen der Streuung gleicher oder ähnlicher Traditionen spricht viel für eine Motivwanderung durch einen Märchenindex. Vor allem ist aber ärgerlich, dass der junge Jesus die Minenarbeiter in ihrer Arbeit unterwiesen haben soll, ein typischer Topos, der auftritt, wenn Angehörige von tatsächlichen oder selbsternannten Kulturvölkern auf Besuch bei lernwilligen Barbaren sind.
Unsere Ferien im Jahre 1956 in Rowberow Manor, etwa zehn Kilometer von Wells in Somerset entfernt, veranlassten uns nicht nur zu Exkursionen in die Mendip Hills und zu den von einem Oberst im Ruhestand zubereiteten Steaks in the Miner's Arms und in die Cheddar Gorges, sondern auch zu Ausflügen über Wells hinaus nach Longleat und Bath, einmal in die andere Richtung nach Bristol und eben oft und immer wieder nach Glastonbury, wo wir falls es das damals schon gab - nach den Reklamephotos glaube ich mich zu erinnern - in den Abbey Tea Rooms auf der Magdalene Street High Tea zu uns nahmen, die Ruinen - ich glaube damals in der guten alten Zeit ohne Eintrittsgeld wie auch Stonehenge auf dem Weg - immer wieder abschritten, uns Avalon vorstellten und meine Mutter in ihrer Begeisterung darin unterstützten, nicht so ganz wohl fundierte Literatur zu sichten, vielleicht zu kaufen und zu sammeln. Das Ergebnis war damals:
Dobson, Cyril
Comyn, Did Our Lord Visit Britain as they
say in Cornwall and Somerset. Seventh ed. London: The Covenant Publishing
1955 (1. Aufl. 1936).
Elder,
Isabel Hill, Celt, Druid and Culdee.
Third ed. London: The Covenant Publishing 1947
Lewis,
Lionell Smithett [late Vicar of Glastonbury], St. Joseph of Arimathea at Glastonbury or The Apostolic Church of
Britain. London James Clark 1955
Morgan,
Richard William [1814-1899], St. Paul in
Britain: or, The Origin of British as Opposed to Papal Christianity. Tenth
ed. London: Covenant Publishing 1948 [Vorwort 1860]
Sehr viel
später kam
Jowett,
George F., The Drama of the Lost
Disciples. London: Covenant Publishin 1970 [1. Aufl. 1961]
Und
noch später
Gibbs,
Ray, The Legendary XII Hides of
Glastonbury. Edited by Derek Bryce. Second ed. Felinfach: Llanerch
Publishers 1995 [1. Aufl. 1988] hinzu.
Eine
kleine Leseprobe aus Jowett, S. 69:
„In
the traditions of Cornwall, Devon, Somerset, Wiltshire and Wales, it has ever
been believed and definitely claimed, that Jesus as a boy accompanied His uncle
to Britain on at least one of his many seafaring trips; then later as a young
man. During those silent years preceding His ministry it is avowed that Jesus,
after leaving India, journeyed to Britain and there founded a retreat, building
a wattle altar to the glory of God.
The
ancient wise men of India assert that He had dwelt among them. It is mentioned
in the Vishnu Purana that Jesus had
visited the Himalayan Kingdom of Nepal. Moreover the religious teachers of
India were familiar with the Isles of Britain. Wilford states that the books of
old India describe them as „The Sacred Isles of the West“. One of the books
refers to „Britashtan, the seat of religious learning“ They employed the term
used by Isaiah and others: „Isles of the West“, „Isles of the Sea.“ The British
Isles are the only islands lying to far west of Palestine.“
Ein
einschlägig beschäftigter englischer Freund – nicht aus dieser Gegend und daher
unvertraut mit diesen Traditionen – überlegte, ob man Jesus als den ersten (namentlich
bekannten) Doppelagenten bezeichnen könne, zwischen Rom und den damals
unterjochten Völkern.
Ein anderes Vergnügen
(Morgan, S. 32) ist die Abstammung von Brutus, dem Urvater britischer Könige,
von Aeneas, womit die unmittelbare Verwandtschaft mit den Römern angenommen
werden darf. Meine Mutter entdeckte hier ihre oder eine Liebe zu den Kelten.
Ein
Bekannter von mir hatte sein eigenes Hobby: Er suchte die Tingplätze in
Nordost-Deutschland.