Die Universitätsbibliothek
Nachdem das Büro
Ortner & Ortner aus Wien, nachdem verschiedene andere Pläne aufgegeben
worden waren, mit kleinen Modifikationen den preisgekrönten Entwurf
verwirklicht hatte, in dem das Bielefelder
bzw. das Konstanzer oder Trierer Modell der Bereichsbibliotheken insgesamt
lokalisiert und im Zentrum des Campus übernommen werden sollte, das sich in den
Universitätsneugründungen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts so
sehr bewährt hatte, größere Einheiten, die mit weniger ständigem Personal
Öffnungszeiten von 24 Stunden zuließen, wurde dieser Bau, nein Komplex, im
Beisein zahlloser Honoratioren, der Architektenelite, der Spitzen der
nordrheinwestfälischen Kunstszene, der ersten Stifter, soweit sie noch lebten,
und der größeren und mittleren Sponsoren mit einem feierlichen Festakt
eröffnet, also wieder ein Ereignis, das der Lokalpresse hinreichend Platz wert
war, der Frankfurter Allgemeinen immerhin noch eine Spalte, um einmal mehr über
die moderne Architektur zu räsonnieren.
Da die
Johannes-Universität noch jung war – es auch immer bleiben sollte –, berief
man sich in den Reden einmal mehr auf die kleinere Bibliothek von Alexandria,
auf die Schulen und Klöster, auf denen man aufbaute und weiter aufzubauen
gedachte, wenn man auch das wichtigste Sammelgebiet nach Martin Luther, die
Bibeln weitgehend außer acht ließ, im weiteren jedoch dessen Vorstellungen
einer wissenschaftlichen Sammlung folgte. Die Bibliothek wurde als Kunstwerk
innerhalb des gesamten universitären Ensembles herausgestrichen, und es wurde
hochgerechnet, in welcher Zahl die nach der Moderne hungernden dort zusammenströmen
würden. Allein die Hülle hatte ihren humanistischen Wert. Wenn man aber dann
bis zum Buch, dem Zeugnis des Geistes gelangte, dann verstand man das Herz der
Universitas. Nichts trifft mehr die Bedeutung der Bibliothek als die Kernworte
des Hauptredners: „Indem wir nun den Bau seiner Bestimmung übergeben können –
er wird ein Ort des Lernens und Denkens, der Analyse und Reflexion sein –,
indem wir hier in diesem Hirn im Kleinen das, was mit der Begründung des
„deutschen Oxford“ in Gütersloh durch die Gründermütter und –väter intendiert
war, geschaffen haben, haben wir die besten Voraussetzungen für die vernetzte
Arbeit über Fach- und Strukturgrenzen hinweg gewährt, die heute für die
Wissenschaft unabdingbar sind. Von diesem Anspruch sind auch die Clusters of
Excellence getragen, die die Johannes-Universität entwickelt hat, um Antworten
auf die Megatrends und Zukunftsprognosen für unsere Gesellschaft geben zu können.“
usw. usf.
Mit fünfhundert Gästen
war es ein intimeres Ereignis als es die Gründungsfeierlichkeiten gewesen
waren, doch bis auf die Präsidenten des Bundes und der Länder war dieses Mal
die Elite mehr unter sich und spöttelte voller Sympathie über die multitudo librorum. Daher gab es auch
nur Croissants, Säfte und den durch seine Fernsehreklame verschönten, längst
bis nach Westdeutschland gedrungenen Rotkäppchensekt. Es war eine dieser
üblichen, ach, allzu seltenen Gelegenheiten zur Aussprache und zur Vorbereitung
anderer Entscheidungen.Und die schönste Rede aus diesem Anlass hielt der mit Mühen
gewonnene Bibliotheksdirektor, Professor Dr. Thomas Dibdin, für den man eine
Ablösesumme hatte zahlen müssen, die der für brasilianische Fußballer kaum
nachstand. Sein Preis war völlig gerechtfertigt.
Karl träumte von einer
Mischung weiter Flächen und dichter begehbarer Buchbestände, Diatheken, Videotheken,
digitaler Archive und digitaler Zeitungen auf dem bei Philips entwickelten
Papier, kurzum von die traditionellen Bücher ergänzenden Mediatheken. Die
Bibliothek sollte auch unmittelbar erlebbar in die Wissenschaften
hinübergreifen, und so wurden statt barocker Skelette Plastinationen eines
kroatischen Reiters, eines Bären und eines Hirsches im kommunalen Bereich
aufgestellt, damit sie den angeregt ernsthaften wissenschaftlichen
Konversationen lauschen konnten. Nicht durchsetzen konnten sich Karl und van
Groningen gegen die Lobby Frau Kim-Sebestyns, als sie den Plan lancierten, in
der Eingangshalle „Viviane“ von Pia Stadtbäumer in etwas über Augenhöhe zu
placieren. Während sie selbst, wie es sich gehört, an den Fragonard in der
Wallace Collection dachten, sprach Frau Kim-Sebestyn begründet vom Preis, der
den Bibliotheksetat doch allzu sehr belasten werde.
Doch keinesfalls sollte
auf das klassische Buch verzichtet werden, im Gegenteil sollten in zahlreichen
verstreuten Inseln im Bibliotheksbereich geschlossene wissenschaftliche
Sammlungen oder Forschungscorpora unter dem Namen ihrer Stifter geschaffen
werden, und er dachte an die Reihe seiner Freunde, die kurz vor ihrer
endgültigen Senilität zu solchen Schenkungen bewogen werden könnten. Nicht nur
die Bibliothek van Groningens, auch ganz unmittelbar kam ihm Frau Maria
Schreiber aus Wörlitz in den Sinn, die ohne Familie, ohne Aufgabe nach der
Pensionierung ihn häufig anrief und fragte, mit wem sie denn spreche. Sie war
neben ihrer intensiven universitären Tätigkeit als Dekanin, Institutsdirektorin
und vorgeschobene Galleonsfigur leicht wechselnder Mehrheiten, zu denen jedoch
immer Professor Gordon gehörte, mit dem sie Nächte lang russischen Wodka
getestet hatte, eine offensichtlich gebildete Dame. Sie war eine dieser
sympathischen Grenzgängerinnen zwischen den Fächern, wenn sich dies auch
weniger aus intellektuellem Impetus als aus Anhänglichkeit an einen professoralen
Kollegen einer Nachbardisziplin ergeben hatte.
Und tatsächlich konnte
Karl sie ohne weiteres überreden, ihre Bibliothek der Universität Gütersloh zu
überlassen, einmal mehr ohne „strings attached“. Dennoch gingen Karls Pläne
dahin, die erwähnten Inseln für gestiftete wissenschaftliche Bibliotheken zu
nutzen, sie in offenen, im Raum stehenden Rundbauten in Anlehnung an
klassizistische Gartentempel, Miniaturausgaben des berühmten Reading Rooms,
aufzustellen und den Namen des Stifters im Tempelfries zu verewigen. Sie
sollten ein wenig größer sehr wohl sein als die kuscheligen Rundtempel im
Deutschen Historischen Museum im alten Zeughaus zu Berlin, abhängig natürlich
von der Größe der jeweiligen Morgengabe So konnten diese Stiftungen als mäzenatisches
Sponsoring von der Steuergesetzgebung profitieren. Einschließlich der
Gesangbücher, der Romane Stindes und Spielhagens und der gewiß zu erwartenden
Doubletten und geklauten Bücher sollte jeweils die gesamte ehemalige Privatbibliothek
aufgestellt werden, Rara sollten selbstverständlich der einschlägigen
Forschung zur Verfügung stehen, doch diente der Erhalt des Gesamtensembles vor
allen Dingen der Erforschung des intellektuellen Umfelds, der erbrachten
Leistungen und nicht zuletzt der geistigen nicht erfüllten Möglichkeiten des
dort dokumentierten Wissenschaftlers, in dem gleichen Sinne, ob Luther je
Kopernikus gelesen habe, oder eben als Teil nicht der Fußnoten-, sondern der
Randnotizenforschung, zarte Striche mit dem Silberstift an wichtig
erscheinenden Passagen, Bemerkungen in selbst kreierter Kurzschrift, Zorn,
Begeisterung und Richtigstellungen hinzugefügt hätten.
Maria Schreiber war zu
sehr mit dem täglichen Kampf mit der Hydra einer politisierten Universität
nach 1968 beschäftigt gewesen, um schöpferisch wirklich zu wirken, und so gab
es eine traurige, aber verständliche Zäsur bei den Büchern, mit denen sie sich
umgab. Einmal hatte sie Teile der großbürgerlichen Bibliothek ihrer Eltern in
ihr eigenes Leben überführt, die Sammlung Thule ebenso wie die sympathischen
Tusculum-Bändchen, die alte Inselausgabe von Goethe, gehobene deutsche und
französische Literatur mit einer leicht protestantischen Tendenz und natürlich
die weniger vorsichtig gelesenen Bände vor allem älterer deutscher Trivialliteratur.
Ein Juwel war die vom Vater Maria Schreibers angelegte fast vollständige
Sammlung der Publikationen des Georg Müller Verlages, ein weiteres überraschendes
eine Sammlung aller bekannten Drucke griechischer, lateinischer und
chinesischer Texte, die von Philipp Scheidemann gesetzt worden waren, weniger
prominent eine umfangreiche (vollständige?) Sammlung der Erzeugnisse der lithographischen
Anstalt Hermann Schmidt, Anklam, der lokal als Graf Litho bekannt war. Viele
Jahre stammte aus ihrer Sammlung auch das schwerste Buch der Bibliothek Die Wartburg. Ein Denkmal Deutscher
Geschichte und Kunst von 1907, das 24 Kilogramm wog. Zum anderen aber
spiegelte der wissenschaftliche Teil ihrer Sammlung ihre doppelten, nie
hinreichend öffentlich artikulierten Interessen in zwei Fächern wider, nämlich
ihrer ersten Liebe, der Japanologie und später der Orientalistik und dies bis
etwa 1970 in einer
kenntnisreichen Systematik und offensichtlich das Buch liebenden Weise. Der
Handapparat bestand aus den bis dahin verfügbaren gedruckten Quellen und
wichtigen Hilfsmitteln, ihr Schwerpunkt der japanischen Geistesgeschichte der
Heianzeit und später des orientalischen Christentums war überdeutlich erkennbar
durch die Bücher, die sie bis zu diesem Zeitpunkt hierzu erworben hatte. Damals
war sie etwa vierzig gewesen und hätte noch so viele Chancen gehabt. Später
sprach sie mit verwirrtem Geist des Nachts die Vorübergehenden an, die sich dem
meist erschrocken entzogen.
So waren ihre Bücher
ein Denkmal und Beweis zugleich für ihre individuelle Begabung und für eine
Vorahnung noch einzulösender, nicht eingelöster Versprechen und für die
Geschichte einer Gesellschaft. Es war auch nicht nötig, den Bestand durch
reliefierte Büchertapeten wie sie der niedere englische Adel und der höchste
österreichische gern benutzten zu erweitern, besonders platzfüllend die oeuvres
complètes von Voltaire oder der unvollendete Zedler.
Dies
waren jedoch keineswegs die einzigen Stiftungen. Eine kleinere Bibliothek eines
Dorpater/Tartuer Arztes – je nach der gerade gängigen political correctness,
der noch hatte den großen Dorpater Refraktor erleben dürfen und dessen Bibliothek
nicht nur die Flucht über Kösslin und Villingen, sondern auch zwei Generationen
von Erben glücklich überstanden hatte, zeigte die wissenschaftlichen Interessen
eines strengen Arztes, der sich in der Erforschung der Nebenniere hervorgetan
hatte, mit Arbeiten ueber die Verwendbarkeit der Lippenschleimhaut zur
tektonischen Keratoplastik und zur Technik der Iridektomie hervorgetreten war,
der sich aber überdies dem faszinierenden Thema der Jahrhundertwende vom 19.
zum 20. Jahrhundert, der Frage der Verbindung von Genie, Irrsinn und Ruhm, von
Lombroso über Kretschmer bis Lange-Eichbaum, den Krankheiten Goethes und
anderer Geistesgrößen zugewandt hatte und offensichtlich Erleichterung fand bei
der Betrachtung der Bände von Stratz zur Schönheit des weiblichen Körpers. Die
eigentliche Trouvaille dieser kleinen Sammlung war jedoch die zweite bisher unbekannte
Auflage der Mémoire sur le système
nerveux du barbeau, deren erste, ein wenig bekanntere Auflage von 1835 vor
einigen Jahren für 10.000 € bei Venator & Hanstein verkauft worden war.
Die
größere Bibliothek eines Berliner Professors für anorganische Chemie hatte Karl
ganz zufällig vor dem Müllcontainer retten können, als sein Haus in Dahlem an
einen Unternehmer verkauft wurde mit langen Reihen von Sonderdrucken, die die
Entwicklung des Faches bis etwa 1960 widerspiegelten. Nicht retten konnte Karl
die langen Reihen ledergebundener Zeitschriftenjahrgänge, da sie bereits das
Wohnzimmer des neuen Eigentümers möblierten. Retten konnte er die Pfade, die
dieser Professor in seinem Leben gewandert war. Spuren finden sich jetzt in den
Bücherregalen wieder, die Reiseführer von Berlin, vom Rhein, von Straßburg, Paris
und Florenz, die inzwischen mehr als achtzig Jahre alt sind und eine erkennbare,
wenn auch alt erscheinende und schäbig gewordene Welt zeigen. Sie zeigen die
Restaurationsversuche und Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
grau und bereits wieder ein wenig verfallen auf schlechten Schwarzweißphotos.
Sie sind die Erinnerung, die von den Bemühungen von vor zwanzig, dreißig Jahren
überlagert werden, wie der Kölner Dom sich von einem leicht erhöhten Hügel auf
die Domplatte gesenkt hat. Und diese Neuheit erleidet einmal mehr das gleiche
Schicksal, dem Auge vertraut zu werden und zu ermüden, bis man dann plötzlich
wieder die abblätternde Farbe, schmutzige Ränder und immer weiter zerfressene
Skulpturen, die zum Fossil einer Melusine geworden sind, erkennt. Die alten
Museumskataloge reihen die Nummern mit Kurzbeschreibungen und selten mit
Abbildungen aneinander, so wie sich die Objekte in Nischen und Vitrinen
befinden. An manche Fibel oder Tanagrafigur kann man sich nicht erinnern oder
hat sie nie wahrgenommen. Dann aber reicht eine Beschreibung aus, um zu wissen,
dass dieses Stück Teil meines Fundus ist.
Weitere Stiftungen
standen in Aussicht, so z.B. die Bibliothek und das Archiv Rolf Hochhuts, der
als Lesezeichen meist seine Fahrscheine aus den öffentlichen Verkehrsmitteln
von Berlin bis Stuttgart der letzten fünfzig Jahre benutzt hatte, eine
unerschöpfliche Quelle zur Rekonstruktion seiner Bewegungen und zugleich eine
wirtschaftshistorische Quelle zur Preisentwicklung auf Straßen-, U-Bahnen und
Bussen, also im öffentlichen Nahverkehr. Und manchmal ertappte sich Karl bei
dem Gedanken, er sei nichts anderes als ein auf Zugewinn bedachter Direktor
eines gehobenen Altenstifts, der auch vor Erbschleicherei nicht zurückscheut,
als ihm z.B. das Widmungsexemplar Lewis Carrolls für sein College, das seit
langem verschollen gewesen war, angeboten wurde Dann aber tröstete er sich
wieder mit der Entschuldigung, dass er die Stiftungen in eine corporate
identity einbringe und träumte, dass er seine eigenen Bücher verschenke,
jeweils an den, der ein spezielles Interesse zeigte. Und dennoch gegen alle
Gewissensbisse wurde zugeschlagen und nicht selber als Sponsor gehandelt, als
das Historische Archiv der Stadt Köln die Abteilung „Sammlungen und Nachlässe“
aufgeben sollte. Mit einem Schlag wurde Gütersloh neben Marbach zu einem Hort
deutscher kultureller Erinnerung. Langsam, aber stetig wurde die Bibliothek zu
einer Sammlung von in illa parte rara,
und sie wurde zu einer philologischen Rekonstruktion des Metaphysischen. Wurde
der legale Erwerb von Rara zu kompliziert – so erwarb die Bibliothek eine
Sammlung von topographischen Stahlstichwerken, darunter etliche Inkunabeln des
Stahlstichs, in tausend Bänden für mehr als 600.000 € bei einer Auktion in
Königstein –, halfen einzelne Bibliothekare aus den Stockholmer und Kopenhagener
königlichen Bibliotheken, nachdem sie ältere Besitzvermerke entfernt oder die
gewünschten Bücher qua Amt offiziell aus dem heimischen Bestand ausgeschieden
hatten. Auf diese Weise sammelten sich in Gütersloh Erstausgaben von Tycho
Brahe, Johannes Kepler, Martin Luther, Thomas Moore, John Milton und Immanuel
Kant zusammen mit langen Reihen seltener mathematischer Arbeiten aus dem 15.
Jahrhundert. Die Unschuld der Johannes-Universität blieb jeder Zeit beweisbar,
auch wenn die Universitätsbibliothek jeden Markträusper sorgfältig
registrierte und auf Notverkäufe der Library of Congress reagierte.
Selber als Sponsor trat
das Rektorat erst auf, als Frau Grebenstein den Nutzen erkannte, der daraus
erwuchs, wenn man den westfälischen Volkssport des Turnierreitens förderte.
Dies fiel um so leichter, als im Laufe der Jahre sich immer mehr Amazonen in
den Vordergrund ritten und mit Leslie Gun eine fast charismatische
Führerpersönlichkeit die öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Bald auch stieg
das Gütersloher universitäre Turnier in die oberste Rangklasse der
Weltcup-Turniere auf mit den entsprechenden Gewinnsummen und der diesen
entsprechenden Beteiligung. Und nichts war schöner als die Augenblicke, in
denen die Lokalmatadorin und längst Ehrendoktorin der Universität, Leslie Gun,
ihr heimisches Turnier gewann.
Vorläufig nur Idee war
der Wunsch, das Gesamtœuvre des Bertelsmannverlages von seinen Anfängen bis
heute in der Universitätsbibliothek für dokumentarische und wissenschaftliche
Zwecke zu hüten, wenn möglich auch die Betreuung des Verlagsarchivs zu
übernehmen. Sehr früh auch übernahm man für Deutschland die Aufgabe der British
Library, indem ein digitales Archiv mit den e-mails berühmter Professoren und
Hans-Magnus Enzensbergers begründet wurde, wo selbst uralte Bänder auf den
Tonbandgeräten der Firma Grundig aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts
abgespielt werden konnten.
Doch waren dies wie
gesagt nur Inseln, nein, vielmehr waren sie begehbare Bücher in einer sonst
auf die modernen Bedürfnisse ausgerichteten Bibliothek, digitalisiert, mit
hinreichend zahlreichen und hervorragend ausgestatteten PC-Arbeitsplätzen, der
Erfassung aller nur erdenklichen Datenträger und Zugang zu allen wichtigen
Datenbanken unserer globalen Welt, für die vor allem Bertelsmann sorgen sollte,
auch wenn es sich um die biographischen Unternehmungen des K.G. Saur-Verlags
handelte, in die aber fraglos auch eine erkleckliche Summe der verfügbaren und
hoffentlich noch zu akquirierenden Gelder fließen mußte, in das vierundzwanzig
Stunden am Tag pulsierende Herz der Universität. Diese Ausstattung mit den
modernsten Kommunikationssystemen hatte zur Folge, dass die Schätze der Goethe-Institute
und Max-Müller-Bhavans aus aller Welt hier in Gütersloh versammelt wurden,
während man in Reikjavik oder Bangalore virtuell seine Wünsche abrufen konnte,
zum Teil mit dem Medium der Volltextsuche, zum Teil in der klassischen Form,
wie man früher Kataloge und Bibliographien als Bibliothek des armen Mannes nutzte.
Dennoch wuchs die Bibliothek derart, dass man manche Bücher nur noch kosten
konnte, und als Bildungserfahrung kam heraus, dass man sich hoffentlich vieler
Namen erinnern konnte und gelegentlich auch, warum man sich an sie erinnerte.
Eine Schlangengrube wurde geschaffen, obwohl das eigentliche Ziel gewesen war,
Laokoon vor der Verstrickung in den Quellen zu bewahren.
Hundert Jahre nach den großen
Aufkaufunternehmungen der reichen amerikanischen Universitäten betrat eben
auch die Johannes-Universität mit den Möglichkeiten, die ihr ihr akkumuliertes
Stiftungsvermögen gewährte, die Bühne als Hort und Bewahrer des universalen
Geistes, und so gelangte auch zu einem späteren Zeitpunkt, inzwischen nicht
mehr auf verschlungenen Pfaden, sondern schlicht durch die Macht des Geldes,
die Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck in das Eigentum der Universitätsbibliothek.
Ein Großereignis erlebte Karl nicht
mehr während seiner Zeit der Gründungseuphorie, die Entdeckung der
eingemauerten Marienfelder Klosterbibliothek, da mehr als zwei Jahrhunderte die
merkwürdige Verkürzung des Chores zwischen Abtei und Stiftskirche niemandem
aufgefallen war. Vor allen Dingen in den Handschriften fand sich die Eintragung
iste liber pertinet monasterio Mariae
camporis. Offensichtlich war die Bibliothek bereits 1447 angelegt worden,
als die Böhmen bis nach Westfalen vordrangen. Damals waren keineswegs alle
Schätze nach Ravensberg in Sicherheit gebracht worden, sondern hier versteckt
worden, in einem Versteck, das auch während des Dreißigjährigen Krieges und
dann zuletzt 1803 genutzt wurde. Auch der letzte Mönch des Klosters, Heinrich
Duengheuft, der 1861 als Vikar der Kreuzkirche zu Stromberg starb, hatte
Schweigen bewahrt, und selbst der große Brand von 1915, der erhebliche Reparaturen
am Kloster erforderlich machte, hatte das Geheimnis nicht zu lüften vermocht.
Dadurch vergrößerte sich der erhaltene Bestand aus den westfälischen Klöstern
um etwa 20%, auch wenn einige seltene Doubletten wie Francesco Orazio della
Pennas Missio Apostolica Thibetano-Seraphica
darunter waren oder Lamberto Palmarts Furs
e ordinacions fetes par los gloriosos Reys de Arragon. Valencia 1482, womit
zum ersten Mal ein Exemplar dieses Werkes rechtsrheinisch nachgewiesen werden
konnte. Dies hätte Don Vincente noch mehr aus der Fassung gebracht als das
Exemplar im Louvre. Ein besonderer Schatz waren die über zwei Jahrhunderte
versteckt vor der offiziellen Kirche angelegte Sammlung von Galileiana und die
vollständigen Werke von Pierre Bersuire, Nicolas Oresme und Clément Marot. Wie
ein erkennender Blick in die Zukunft erschien nachträglich der Passus der Rede
des Stiftungspräsidenten anläßlich der Gründung, in dem er den Vergleich mit
der Accademia dei Lincei gewagt hatte, denn viele der verloren geglaubten oder
ungemein seltenen Titel trugen das ex libris des Fürsten Cesi, des Gründers der
Accademia, darunter die Dioptrice
Keplers, die Manuskripte des Dialogo
und der Discorsi, daneben unbekannte
apologetische Schriften der Jesuiten ultramarinos. Damit stieg die Bibliothek
der Johannes-Universität endgültig in die höchste Liga deutscher und
internationaler Bibliotheken auf.
Ein einmaliger geisteshistorischer
Fund war jedoch bei dieser Gelegenheit die Entdeckung eines Manuskripts von
Ciceros verlorengeglaubtem Demetrius,
das im Einband einer spätmittelalterlichen Psalmenabschrift als Palimpsest
unter Homilien verborgen war und aufgrund von Indizien als aus dem Besitz
Hermann von Soests stammend identifiziert werden konnte. Also hatte doch nicht
die Detmolder Familie Schmerheim den ganzen Handschriftenbestand um die Wende
vom 16. zum 17. Jahrhundert übernommen. Im Gegenteil veranlaßte dieser Fund
alle Verantwortlichen, diese kostbare mittelalterliche Bibliothek wieder
zusammenzuführen, wo anders als eben hier. Damit wurde Gütersloh zum Mekka der
Cicero-Kenner der Welt. Symposien wurden veranstaltet, viele Bände veröffentlicht.
Die International Society for Research on Demetrius führte die obligatorische
website. Und keineswegs zuletzt wurde nach zwei Jahren, nach der ersten Etappe
zahlloser Forschungsprojekte, eine große Ausstellung zum Bilde Ciceros seit der
Antike in den öffentlichen Teilen und im Freihandmagazin der Universitätsbibliothek
veranstaltet. Einen Ehrenplatz erhielt Vincenzo Foppas „The Young Cicero
Reading“ aus der Wallace Collection, das so viel anrührender früher als ein Kinderbildnis
Gian Galeazzo Sforzas den Demetrius lesend identifiziert worden war.
Mit jeder neuen Entdeckung, das
einzige Buch, das Kardinal Pamphilio in seiner Jugend vom Maler DuMoustier
gestohlen hatte, jeder neuen Schenkung durch westfälische Ptolemäer näherte
sich die Universitätsbibliothek ihrem Vorbild, dem hellenistischen Alexandria.
Gütersloh wurde auf diese Weise kosmopolitisch und bot nurmehr ad Germaniam und in ihrer übersichtlichen
Weitläufigkeit einige Jahre nach der Frankfurter Buchmesse Platz für eine
Modenschau Valentin Judaschkins und Mascha Tsigals, alles jedoch wohldosiert,
um nicht die Gütersloher Gesellschaft in ähnlicher Weise intellektuell zu
überfüttern wie die Berliner.
In die Verantwortung der Bibliothek
fiel gemeinsam mit dem universitären Rechenzentrum auch das akademische
Fernsehen in Anlehnung an ähnliche Versuche des MIT, des Vega Science Trusts in
Brighton und der Universität Warschau. Eitelkeit und Schamgefühl verbunden mit
der Exzellenz der Gütersloher Dozenten führten dazu, dass die Lehre und ganz
besonders die universitäre Didaktik einen ganz speziellen Stellenwert bekamen,
allein schon deshalb, weil man sich dem big brother ausgesetzt fühlte und nicht
so recht wußte, wie man der Kamera entgehen konnte.
In der von den Verantwortlichen
nicht erahnten Endphase der Universität litten zunächst nicht so sehr die
altmodischen Bücher, sondern die seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts
entwickelten verschiedenen magnetischen und elektronischen Datenträger. Sie
begannen, in den Magazinen zu verstauben, waren dem einsickernden Grundwasser
ausgesetzt, so dass sie nur mit Mühe in einer wieder besseren Zeit hätten
vorsichtig restauriert werden können. Unschätzbar waren die Verluste an
künstlerischen Installationen, an langen Feldforschungssequenzen, an längst in
ihren Urzustand zerbröselten Archivbeständen einschließlich aller Sicherheitskopien,
die von den Inkunabeln und Wiegendrucken dieser Welt angefertigt worden waren.
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