Dienstag, 11. September 2012

Lesender Weise 18



Die Universitätsbibliothek

Nachdem das Büro Ortner & Ortner aus Wien, nachdem verschiedene andere Pläne aufgegeben worden waren, mit kleinen Modifikationen den preisgekrönten Entwurf verwirklicht hatte, in dem das Bielefelder bzw. das Konstanzer oder Trierer Modell der Bereichsbibliotheken insgesamt lokalisiert und im Zentrum des Campus übernommen werden sollte, das sich in den Universitätsneugründungen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts so sehr bewährt hatte, größere Einheiten, die mit weniger ständigem Personal Öffnungszeiten von 24 Stunden zuließen, wurde dieser Bau, nein Komplex, im Beisein zahlloser Honoratioren, der Architektenelite, der Spitzen der nordrheinwestfälischen Kunstszene, der ersten Stifter, soweit sie noch lebten, und der größeren und mittleren Sponsoren mit einem feierlichen Festakt eröffnet, also wieder ein Ereignis, das der Lokalpresse hinreichend Platz wert war, der Frankfurter Allgemeinen immerhin noch eine Spalte, um einmal mehr über die moderne Architektur zu räsonnieren.
Da die Johannes-Universität noch jung war – es auch immer bleiben sollte –, be­rief man sich in den Reden einmal mehr auf die kleinere Bibliothek von Alexan­dria, auf die Schulen und Klöster, auf denen man aufbaute und weiter aufzubauen gedachte, wenn man auch das wichtigste Sammelgebiet nach Martin Luther, die Bibeln weitgehend außer acht ließ, im weiteren jedoch dessen Vorstellungen einer wissenschaftlichen Sammlung folgte. Die Bibliothek wurde als Kunstwerk inner­halb des gesamten universitären Ensembles herausgestrichen, und es wurde hoch­gerechnet, in welcher Zahl die nach der Moderne hungernden dort zusammen­strömen würden. Allein die Hülle hatte ihren humanistischen Wert. Wenn man aber dann bis zum Buch, dem Zeugnis des Geistes gelangte, dann verstand man das Herz der Universitas. Nichts trifft mehr die Bedeutung der Bibliothek als die Kernworte des Hauptredners: „Indem wir nun den Bau seiner Bestimmung übergeben können – er wird ein Ort des Lernens und Denkens, der Analyse und Reflexion sein –, indem wir hier in diesem Hirn im Kleinen das, was mit der Begründung des „deutschen Oxford“ in Gütersloh durch die Gründermütter und –väter intendiert war, geschaffen haben, haben wir die besten Voraussetzungen für die vernetzte Arbeit über Fach- und Strukturgrenzen hinweg gewährt, die heute für die Wissenschaft unabdingbar sind. Von diesem Anspruch sind auch die Clusters of Excellence getragen, die die Johannes-Universität entwickelt hat, um Antworten auf die Megatrends und Zukunftsprognosen für unsere Gesellschaft geben zu können.“ usw. usf.
Mit fünfhundert Gästen war es ein intimeres Ereignis als es die Gründungsfeier­lichkeiten gewesen waren, doch bis auf die Präsidenten des Bundes und der Länder war dieses Mal die Elite mehr unter sich und spöttelte voller Sympathie über die multitudo librorum. Daher gab es auch nur Croissants, Säfte und den durch seine Fernsehreklame verschönten, längst bis nach Westdeutschland gedrungenen Rot­käppchensekt. Es war eine dieser üblichen, ach, allzu seltenen Gelegenheiten zur Aussprache und zur Vorbereitung anderer Entscheidungen.Und die schönste Rede aus diesem Anlass hielt der mit Mühen gewonnene Bibliotheksdirektor, Professor Dr. Thomas Dibdin, für den man eine Ablösesumme hatte zahlen müssen, die der für brasilianische Fußballer kaum nachstand. Sein Preis war völlig gerechtfertigt.
Karl träumte von einer Mischung weiter Flächen und dichter begehbarer Buch­bestände, Diatheken, Videotheken, digitaler Archive und digitaler Zeitungen auf dem bei Philips entwickelten Papier, kurzum von die traditionellen Bücher ergän­zenden Mediatheken. Die Bibliothek sollte auch unmittelbar erlebbar in die Wis­senschaften hinübergreifen, und so wurden statt barocker Skelette Plastinationen eines kroatischen Reiters, eines Bären und eines Hirsches im kommunalen Bereich aufgestellt, damit sie den angeregt ernsthaften wissenschaftlichen Konversationen lauschen konnten. Nicht durchsetzen konnten sich Karl und van Groningen gegen die Lobby Frau Kim-Sebestyns, als sie den Plan lancierten, in der Eingangshalle „Viviane“ von Pia Stadtbäumer in etwas über Augenhöhe zu placieren. Während sie selbst, wie es sich gehört, an den Fragonard in der Wallace Collection dachten, sprach Frau Kim-Sebestyn begründet vom Preis, der den Bibliotheksetat doch allzu sehr belasten werde.
Doch keinesfalls sollte auf das klassische Buch verzichtet werden, im Gegenteil sollten in zahlreichen verstreuten Inseln im Bibliotheksbereich geschlossene wissenschaftliche Sammlungen oder Forschungscorpora unter dem Namen ihrer Stifter geschaffen werden, und er dachte an die Reihe seiner Freunde, die kurz vor ihrer endgültigen Senilität zu solchen Schenkungen bewogen werden könnten. Nicht nur die Bibliothek van Groningens, auch ganz unmittelbar kam ihm Frau Maria Schreiber aus Wörlitz in den Sinn, die ohne Familie, ohne Aufgabe nach der Pensionierung ihn häufig anrief und fragte, mit wem sie denn spreche. Sie war neben ihrer intensiven universitären Tätigkeit als Dekanin, Institutsdirektorin und vorgeschobene Galleonsfigur leicht wechselnder Mehrheiten, zu denen jedoch im­mer Professor Gordon gehörte, mit dem sie Nächte lang russischen Wodka getestet hatte, eine offensichtlich gebildete Dame. Sie war eine dieser sympathischen Grenzgängerinnen zwischen den Fächern, wenn sich dies auch weniger aus intel­lektuellem Impetus als aus Anhänglichkeit an einen professoralen Kollegen einer Nachbardisziplin ergeben hatte.
Und tatsächlich konnte Karl sie ohne weiteres überreden, ihre Bibliothek der Uni­versität Gütersloh zu überlassen, einmal mehr ohne „strings attached“. Dennoch gingen Karls Pläne dahin, die erwähnten Inseln für gestiftete wissenschaftliche Bibliotheken zu nutzen, sie in offenen, im Raum stehenden Rundbauten in Anleh­nung an klassizistische Gartentempel, Miniaturausgaben des berühmten Reading Rooms, aufzustellen und den Namen des Stifters im Tempelfries zu verewigen. Sie sollten ein wenig größer sehr wohl sein als die kuscheligen Rundtempel im Deutschen Historischen Museum im alten Zeughaus zu Berlin, abhängig natürlich von der Größe der jeweiligen Morgengabe So konnten diese Stiftungen als mäzenatisches Sponsoring von der Steuergesetzgebung profitieren. Einschließlich der Gesangbücher, der Romane Stindes und Spielhagens und der gewiß zu erwartenden Doubletten und geklauten Bücher sollte jeweils die gesamte ehema­lige Privatbibliothek aufgestellt werden, Rara sollten selbstverständlich der ein­schlägigen Forschung zur Verfügung stehen, doch diente der Erhalt des Ge­samtensembles vor allen Dingen der Erforschung des intellektuellen Umfelds, der erbrachten Leistungen und nicht zuletzt der geistigen nicht erfüllten Möglichkeiten des dort dokumentierten Wissenschaftlers, in dem gleichen Sinne, ob Luther je Kopernikus gelesen habe, oder eben als Teil nicht der Fußnoten-, sondern der Randnotizenforschung, zarte Striche mit dem Silberstift an wichtig erscheinenden Passagen, Bemerkungen in selbst kreierter Kurzschrift, Zorn, Begeisterung und Richtigstellungen hinzugefügt hätten.
Maria Schreiber war zu sehr mit dem täglichen Kampf mit der Hydra einer politi­sierten Universität nach 1968 beschäftigt gewesen, um schöpferisch wirklich zu wirken, und so gab es eine traurige, aber verständliche Zäsur bei den Büchern, mit denen sie sich umgab. Einmal hatte sie Teile der großbürgerlichen Bibliothek ihrer Eltern in ihr eigenes Leben überführt, die Sammlung Thule ebenso wie die sympathischen Tusculum-Bändchen, die alte Inselausgabe von Goethe, gehobene deutsche und französische Literatur mit einer leicht protestantischen Tendenz und natürlich die weniger vorsichtig gelesenen Bände vor allem älterer deutscher Trivi­alliteratur. Ein Juwel war die vom Vater Maria Schreibers angelegte fast vollstän­dige Sammlung der Publikationen des Georg Müller Verlages, ein weiteres überraschendes eine Sammlung aller bekannten Drucke griechischer, lateinischer und chinesischer Texte, die von Philipp Scheidemann gesetzt worden waren, weniger prominent eine umfangreiche (vollständige?) Sammlung der Erzeugnisse der lithographischen Anstalt Hermann Schmidt, Anklam, der lokal als Graf Litho bekannt war. Viele Jahre stammte aus ihrer Sammlung auch das schwerste Buch der Bibliothek Die Wartburg. Ein Denkmal Deutscher Geschichte und Kunst von 1907, das 24 Kilogramm wog. Zum anderen aber spiegelte der wissenschaftliche Teil ihrer Sammlung ihre doppelten, nie hinreichend öffentlich artikulierten Inter­essen in zwei Fächern wider, nämlich ihrer ersten Liebe, der Japanologie und später der Orientalistik und dies bis etwa 1970 in einer kenntnisreichen Systematik und offensichtlich das Buch liebenden Weise. Der Handapparat bestand aus den bis dahin verfügbaren gedruckten Quellen und wichtigen Hilfsmitteln, ihr Schwerpunkt der japanischen Geistesgeschichte der Heianzeit und später des orientalischen Christentums war überdeutlich erkennbar durch die Bücher, die sie bis zu diesem Zeitpunkt hierzu erworben hatte. Damals war sie etwa vierzig gewesen und hätte noch so viele Chancen gehabt. Später sprach sie mit verwirrtem Geist des Nachts die Vorübergehenden an, die sich dem meist erschrocken entzo­gen.
So waren ihre Bücher ein Denkmal und Beweis zugleich für ihre individuelle Begabung und für eine Vorahnung noch einzulösender, nicht eingelöster Ver­sprechen und für die Geschichte einer Gesellschaft. Es war auch nicht nötig, den Bestand durch reliefierte Büchertapeten wie sie der niedere englische Adel und der höchste österreichische gern benutzten zu erweitern, besonders platzfüllend die oeuvres complètes von Voltaire oder der unvollendete Zedler.
Dies waren jedoch keineswegs die einzigen Stiftungen. Eine kleinere Bibliothek eines Dorpater/Tartuer Arztes – je nach der gerade gängigen political correctness, der noch hatte den großen Dorpater Refraktor erleben dürfen und dessen Biblio­thek nicht nur die Flucht über Kösslin und Villingen, sondern auch zwei Genera­tionen von Erben glücklich überstanden hatte, zeigte die wissenschaftlichen Inter­essen eines strengen Arztes, der sich in der Erforschung der Nebenniere her­vorgetan hatte, mit Arbeiten ueber die Verwendbarkeit der Lippenschleimhaut zur tektonischen Keratoplastik und zur Technik der Iridektomie hervorgetreten war, der sich aber überdies dem faszinierenden Thema der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der Frage der Verbindung von Genie, Irrsinn und Ruhm, von Lombroso über Kretschmer bis Lange-Eichbaum, den Krankheiten Goethes und anderer Geistesgrößen zugewandt hatte und offensichtlich Erleichterung fand bei der Betrachtung der Bände von Stratz zur Schönheit des weiblichen Körpers. Die eigentliche Trouvaille dieser kleinen Sammlung war jedoch die zweite bisher un­bekannte Auflage der Mémoire sur le système nerveux du barbeau, deren erste, ein wenig bekanntere Auflage von 1835 vor einigen Jahren für 10.000 € bei Venator & Hanstein verkauft worden war.
Die größere Bibliothek eines Berliner Professors für anorganische Chemie hatte Karl ganz zufällig vor dem Müllcontainer retten können, als sein Haus in Dahlem an einen Unternehmer verkauft wurde mit langen Reihen von Sonderdrucken, die die Entwicklung des Faches bis etwa 1960 widerspiegelten. Nicht retten konnte Karl die langen Reihen ledergebundener Zeitschriftenjahrgänge, da sie bereits das Wohnzimmer des neuen Eigentümers möblierten. Retten konnte er die Pfade, die dieser Professor in seinem Leben gewandert war. Spuren finden sich jetzt in den Bücherregalen wieder, die Reiseführer von Berlin, vom Rhein, von Straßburg, Pa­ris und Florenz, die inzwischen mehr als achtzig Jahre alt sind und eine erkennbare, wenn auch alt erscheinende und schäbig gewordene Welt zeigen. Sie zeigen die Restaurationsversuche und Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts, grau und bereits wieder ein wenig verfallen auf schlechten Schwarzweiß­photos. Sie sind die Erinnerung, die von den Bemühungen von vor zwanzig, dreißig Jahren überlagert werden, wie der Kölner Dom sich von einem leicht erhöhten Hügel auf die Domplatte gesenkt hat. Und diese Neuheit erleidet einmal mehr das gleiche Schicksal, dem Auge vertraut zu werden und zu ermüden, bis man dann plötzlich wieder die abblätternde Farbe, schmutzige Ränder und immer weiter zerfressene Skulpturen, die zum Fossil einer Melusine geworden sind, erkennt. Die alten Museumskataloge reihen die Nummern mit Kurzbeschreibungen und selten mit Abbildungen aneinander, so wie sich die Objekte in Nischen und Vitrinen befinden. An manche Fibel oder Tanagrafigur kann man sich nicht erinnern oder hat sie nie wahrgenommen. Dann aber reicht eine Beschreibung aus, um zu wissen, dass dieses Stück Teil meines Fundus ist.
Weitere Stiftungen standen in Aussicht, so z.B. die Bibliothek und das Archiv Rolf Hochhuts, der als Lesezeichen meist seine Fahrscheine aus den öffentlichen Verkehrsmitteln von Berlin bis Stuttgart der letzten fünfzig Jahre benutzt hatte, eine unerschöpfliche Quelle zur Rekonstruktion seiner Bewegungen und zugleich eine wirtschaftshistorische Quelle zur Preisentwicklung auf Straßen-, U-Bahnen und Bussen, also im öffentlichen Nahverkehr. Und manchmal ertappte sich Karl bei dem Gedanken, er sei nichts anderes als ein auf Zugewinn bedachter Direktor eines gehobenen Altenstifts, der auch vor Erbschleicherei nicht zurückscheut, als ihm z.B. das Widmungsexemplar Lewis Carrolls für sein College, das seit langem verschollen gewesen war, angeboten wurde Dann aber tröstete er sich wieder mit der Entschuldigung, dass er die Stiftungen in eine corporate identity einbringe und träumte, dass er seine eigenen Bücher verschenke, jeweils an den, der ein spe­zielles Interesse zeigte. Und dennoch gegen alle Gewissensbisse wurde zuge­schlagen und nicht selber als Sponsor gehandelt, als das Historische Archiv der Stadt Köln die Abteilung „Sammlungen und Nachlässe“ aufgeben sollte. Mit einem Schlag wurde Gütersloh neben Marbach zu einem Hort deutscher kultureller Erinnerung. Langsam, aber stetig wurde die Bibliothek zu einer Sammlung von in illa parte rara, und sie wurde zu einer philologischen Rekonstruktion des Metaphysischen. Wurde der legale Erwerb von Rara zu kompliziert – so erwarb die Bibliothek eine Sammlung von topographischen Stahlstichwerken, darunter etliche Inkunabeln des Stahlstichs, in tausend Bänden für mehr als 600.000 € bei einer Auktion in Königstein –, halfen einzelne Bibliothekare aus den Stockholmer und Kopenhagener königlichen Bibliotheken, nachdem sie ältere Besitzvermerke entfernt oder die gewünschten Bücher qua Amt offiziell aus dem heimischen Bestand ausgeschieden hatten. Auf diese Weise sammelten sich in Gütersloh Erstausgaben von Tycho Brahe, Johannes Kepler, Martin Luther, Thomas Moore, John Milton und Immanuel Kant zusammen mit langen Reihen seltener mathema­tischer Arbeiten aus dem 15. Jahrhundert. Die Unschuld der Johannes-Universität blieb jeder Zeit beweisbar, auch wenn die Universitätsbibliothek jeden Markt­räusper sorgfältig registrierte und auf Notverkäufe der Library of Congress rea­gierte.

Selber als Sponsor trat das Rektorat erst auf, als Frau Grebenstein den Nutzen erkannte, der daraus erwuchs, wenn man den westfälischen Volkssport des Turnierreitens förderte. Dies fiel um so leichter, als im Laufe der Jahre sich immer mehr Amazonen in den Vordergrund ritten und mit Leslie Gun eine fast charismatische Führerpersönlichkeit die öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Bald auch stieg das Gütersloher universitäre Turnier in die oberste Rangklasse der Weltcup-Turniere auf mit den entsprechenden Gewinnsummen und der diesen entsprechenden Beteiligung. Und nichts war schöner als die Augenblicke, in denen die Lokalmatadorin und längst Ehrendoktorin der Universität, Leslie Gun, ihr heimisches Turnier gewann.
Vorläufig nur Idee war der Wunsch, das Gesamtœuvre des Bertelsmannverlages von seinen Anfängen bis heute in der Universitätsbibliothek für dokumentarische und wissenschaftliche Zwecke zu hüten, wenn möglich auch die Betreuung des Verlagsarchivs zu übernehmen. Sehr früh auch übernahm man für Deutschland die Aufgabe der British Library, indem ein digitales Archiv mit den e-mails berühmter Professoren und Hans-Magnus Enzensbergers begründet wurde, wo selbst uralte Bänder auf den Tonbandgeräten der Firma Grundig aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts abgespielt werden konnten.
Doch waren dies wie gesagt nur Inseln, nein, vielmehr waren sie begehbare Bü­cher in einer sonst auf die modernen Bedürfnisse ausgerichteten Bibliothek, digitalisiert, mit hinreichend zahlreichen und hervorragend ausgestatteten PC-Arbeitsplätzen, der Erfassung aller nur erdenklichen Datenträger und Zugang zu allen wichtigen Datenbanken unserer globalen Welt, für die vor allem Bertelsmann sorgen sollte, auch wenn es sich um die biographischen Unternehmungen des K.G. Saur-Verlags handelte, in die aber fraglos auch eine erkleckliche Summe der verfügbaren und hoffentlich noch zu akquirierenden Gelder fließen mußte, in das vierundzwanzig Stunden am Tag pulsierende Herz der Universität. Diese Ausstat­tung mit den modernsten Kommunikationssystemen hatte zur Folge, dass die Schätze der Goethe-Institute und Max-Müller-Bhavans aus aller Welt hier in Gütersloh versammelt wurden, während man in Reikjavik oder Bangalore virtuell seine Wünsche abrufen konnte, zum Teil mit dem Medium der Volltextsuche, zum Teil in der klassischen Form, wie man früher Kataloge und Bibliographien als Bibliothek des armen Mannes nutzte. Dennoch wuchs die Bibliothek derart, dass man manche Bücher nur noch kosten konnte, und als Bildungserfahrung kam her­aus, dass man sich hoffentlich vieler Namen erinnern konnte und gelegentlich auch, warum man sich an sie erinnerte. Eine Schlangengrube wurde geschaffen, obwohl das eigentliche Ziel gewesen war, Laokoon vor der Verstrickung in den Quellen zu bewahren.
Hundert Jahre nach den großen Aufkaufunternehmungen der reichen amerika­nischen Universitäten betrat eben auch die Johannes-Universität mit den Möglich­keiten, die ihr ihr akkumuliertes Stiftungsvermögen gewährte, die Bühne als Hort und Bewahrer des universalen Geistes, und so gelangte auch zu einem späteren Zeitpunkt, inzwischen nicht mehr auf verschlungenen Pfaden, sondern schlicht durch die Macht des Geldes, die Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck in das Eigentum der Universitätsbibliothek.
Ein Großereignis erlebte Karl nicht mehr während seiner Zeit der Gründungs­euphorie, die Entdeckung der eingemauerten Marienfelder Klosterbibliothek, da mehr als zwei Jahrhunderte die merkwürdige Verkürzung des Chores zwischen Abtei und Stiftskirche niemandem aufgefallen war. Vor allen Dingen in den Handschriften fand sich die Eintragung iste liber pertinet monasterio Mariae camporis. Offensichtlich war die Bibliothek bereits 1447 angelegt worden, als die Böhmen bis nach Westfalen vordrangen. Damals waren keineswegs alle Schätze nach Ravensberg in Sicherheit gebracht worden, sondern hier versteckt worden, in einem Versteck, das auch während des Dreißigjährigen Krieges und dann zuletzt 1803 genutzt wurde. Auch der letzte Mönch des Klosters, Heinrich Duengheuft, der 1861 als Vikar der Kreuzkirche zu Stromberg starb, hatte Schweigen bewahrt, und selbst der große Brand von 1915, der erhebliche Reparaturen am Kloster erforderlich machte, hatte das Geheimnis nicht zu lüften vermocht. Dadurch vergrößerte sich der erhaltene Bestand aus den westfälischen Klöstern um etwa 20%, auch wenn einige seltene Doubletten wie Francesco Orazio della Pennas Missio Apostolica Thibetano-Seraphica darunter waren oder Lamberto Palmarts Furs e ordinacions fetes par los gloriosos Reys de Arragon. Valencia 1482, womit zum ersten Mal ein Exemplar dieses Werkes rechtsrheinisch nachgewiesen werden konnte. Dies hätte Don Vincente noch mehr aus der Fassung gebracht als das Exemplar im Louvre. Ein besonderer Schatz waren die über zwei Jahrhunderte versteckt vor der offiziellen Kirche angelegte Sammlung von Galileiana und die vollständigen Werke von Pierre Bersuire, Nicolas Oresme und Clément Marot. Wie ein erkennender Blick in die Zukunft erschien nachträglich der Passus der Rede des Stiftungspräsidenten anläßlich der Gründung, in dem er den Vergleich mit der Accademia dei Lincei gewagt hatte, denn viele der verloren geglaubten oder ungemein seltenen Titel trugen das ex libris des Fürsten Cesi, des Gründers der Accademia, darunter die Dioptrice Keplers, die Manuskripte des Dialogo und der Discorsi, daneben unbekannte apologetische Schriften der Jesuiten ultramarinos. Damit stieg die Bibliothek der Johannes-Universität endgültig in die höchste Liga deutscher und internationaler Bibliotheken auf.
Ein einmaliger geisteshistorischer Fund war jedoch bei dieser Gelegenheit die Entdeckung eines Manuskripts von Ciceros verlorengeglaubtem Demetrius, das im Einband einer spätmittelalterlichen Psalmenabschrift als Palimpsest unter Homi­lien verborgen war und aufgrund von Indizien als aus dem Besitz Hermann von Soests stammend identifiziert werden konnte. Also hatte doch nicht die Detmolder Familie Schmerheim den ganzen Handschriftenbestand um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert übernommen. Im Gegenteil veranlaßte dieser Fund alle Verantwortlichen, diese kostbare mittelalterliche Bibliothek wieder zusammen­zuführen, wo anders als eben hier. Damit wurde Gütersloh zum Mekka der Cicero-Kenner der Welt. Symposien wurden veranstaltet, viele Bände veröffentlicht. Die International Society for Research on Demetrius führte die obligatorische website. Und keineswegs zuletzt wurde nach zwei Jahren, nach der ersten Etappe zahlloser Forschungsprojekte, eine große Ausstellung zum Bilde Ciceros seit der Antike in den öffentlichen Teilen und im Freihandmagazin der Universitätsbibliothek veranstaltet. Einen Ehrenplatz erhielt Vincenzo Foppas „The Young Cicero Reading“ aus der Wallace Collection, das so viel anrührender früher als ein Kin­derbildnis Gian Galeazzo Sforzas den Demetrius lesend identifiziert worden war.
Mit jeder neuen Entdeckung, das einzige Buch, das Kardinal Pamphilio in seiner Jugend vom Maler DuMoustier gestohlen hatte, jeder neuen Schenkung durch westfälische Ptolemäer näherte sich die Universitätsbibliothek ihrem Vorbild, dem hellenistischen Alexandria. Gütersloh wurde auf diese Weise kosmopolitisch und bot nurmehr ad Germaniam und in ihrer übersichtlichen Weitläufigkeit einige Jahre nach der Frankfurter Buchmesse Platz für eine Modenschau Valentin Ju­daschkins und Mascha Tsigals, alles jedoch wohldosiert, um nicht die Gütersloher Gesellschaft in ähnlicher Weise intellektuell zu überfüttern wie die Berliner.
In die Verantwortung der Bibliothek fiel gemeinsam mit dem universitären Re­chenzentrum auch das akademische Fernsehen in Anlehnung an ähnliche Versuche des MIT, des Vega Science Trusts in Brighton und der Universität Warschau. Eitelkeit und Schamgefühl verbunden mit der Exzellenz der Gütersloher Dozenten führten dazu, dass die Lehre und ganz besonders die universitäre Didaktik einen ganz speziellen Stellenwert bekamen, allein schon deshalb, weil man sich dem big brother ausgesetzt fühlte und nicht so recht wußte, wie man der Kamera entgehen konnte.
In der von den Verantwortlichen nicht erahnten Endphase der Universität litten zunächst nicht so sehr die altmodischen Bücher, sondern die seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten verschiedenen magnetischen und elek­tronischen Datenträger. Sie begannen, in den Magazinen zu verstauben, waren dem einsickernden Grundwasser ausgesetzt, so dass sie nur mit Mühe in einer wieder besseren Zeit hätten vorsichtig restauriert werden können. Unschätzbar wa­ren die Verluste an künstlerischen Installationen, an langen Feldforschungs­sequenzen, an längst in ihren Urzustand zerbröselten Archivbeständen einschließ­lich aller Sicherheitskopien, die von den Inkunabeln und Wiegendrucken dieser Welt angefertigt worden waren.

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