Im Rollstuhl
In einer Nacht träumte
er, dass ihm die Augen aus dem Kopf fielen. Mit schmerzenden Höhlen gelangte
er zu einem Arzt, der sich weigerte, ihn zu behandeln, weil ihm etwas ganz
anderes fehle als das ganz natürliche Alzheimer nach vierzig Jahren in der
sengenden Sonne Indiens.
Karl las an einem Abend
die alten Briefe, die er an Katherine geschrieben, aber zum Glück nie
abgeschickt hatte, voller Schamröte und Trauer über ihre Hilflosigkeit
gegenüber den Bedürfnissen Katherines. An die abgesandten Briefe konnte er sich
nicht mehr erinnern, hoffentlich zeigten sie nur ein wenig mehr Menschlichkeit.
Die, die er zurückbehalten hatte, warf er an diesem Abend fort, als könne ihn
dies von seiner Schalheit befreien. Schuldgefühle und Entschuldigungsgründe
mischten sich.
Wie
in so vielen kitschigen Romanen flüsterte die eine Stimme „zu jung!“, „unfähig
zu lieben!“, und dazwischen schaltete sich sein Selbsterhaltungstrieb, die
Vorstellung der Eigenverantwortung und schließlich die Überlegung, dass Cannabis
eine latente Schizophrenie befördert und zum Ausbruch gebracht habe. Karl war
immer mit seinem und anderer Leben leichtfertig umgegangen, er hatte, nachdem
er eingeweiht war, mitgeraucht – mit schönen geschlechtlosen in weiß eintauchenden
Phantasien, nicht unähnlich der Philadelphia-Reklame im Fernsehen, jedoch ohne
so konkret alberne Engel, doch hatte er nach der letzten Abfahrt vom
Westbahnhof nie wieder eine der „handgemachten“ Zigaretten geraucht. Das war
die eine Seite, die andere, dass er sich nie wirklich von der Liebesvorstellung
des Minnesangs emanzipiert hatte, den Reiz des Unerfüllten liebte, die
nebelhafte Begierde, 1968 verschlafen hatte. Und doch war es viel einfacher: er
war zu selbstsüchtig, zu introvertiert, zu schnell gelangweilt, um zu lieben.
Viel zu spät war er bereit und hoffte gegen die Wirklichkeit, sie würde vor der
Tür stehen, ihn lieben und mit einer Tüte ersticken.
In der späten
Erinnerung waren auch seine Eltern zu Menschen geworden, die geliebt, gehurt
und gesündigt hatten, Gutes und Böses verursacht. Karl erinnerte sich an die
treibenden Ängste, mit denen er kurz nach der Wiedervereinigung im Bundesarchiv
in Potsdam sich durch Bruchteile des Aktenbreis gearbeitet hatte, um sein Bild
von seinem Vater bestätigt zu finden, und er glaubte, es unter dem zeitgenössischen
Jargon entdeckt zu haben. Noch später fand er sich in einem Aufsatz Inez
Jentners bestätigt, die weder den Pragmatismus noch die vorsichtige Menschenliebe
des Vaters zu deuten wußte. Er erinnerte sich an die Fähigkeit des Vaters zuzuhören.
Und doch konnte er dies auch jüngeren Menschen, die er auf recht neutrale Weise
mochte, nicht vermitteln, tat es schließlich ab mit der nicht ganz ungerechtfertigten
Annahme von jugendlicher Hybris und Selbstgerechtigkeit, die bei ehrlichen
Menschen allmählich in verständnisvolle Erkenntnis abgleiten würde. Alle
anderen waren unheilbar und schufen nur irrelevante Gegenwelten.
Auch andere Handlungen entsprachen dieser Entwicklung. So
träumte er von einem Strand mit verkohltem Sand und verkohlten Menschen, und
auf der Flucht aus dieser Landschaft brach er immer wieder ein. Wenn er wie
Kreislers Tanten nicht schlafen konnte, halfen ihm nicht mehr die alten
herbeizitierten Träume sexueller Befriedigung. Weder rührte sich sein Unterleib
noch genügten sie, ihn in den erwünschten Schlaf zu lullen, vielmehr träumte er
davon, wie er versuchte festzustellen, dass Frauen Hoden zwischen den Beinen
hätten, und dann wandte er sich gelangweilt von diesen Gehirnblasen fort.
Besser war es dann schon, zu Henry Millers Opus
Pistorum zu greifen, denn genüßlicher und realer war diese sekundäre Art
des Voyeurismus, und doch quälte er sich nach sattsam bekannten Passagen aus
dem Bett, um zu onanieren und um das Büchlein ins Regal zurückzustellen, eine
Geste der Verschleierung, falls er am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen
sollte. Wie viele Nächte waren es inzwischen, in denen er in den schlaflosen
Stunden darum betete, nicht mehr aufzuwachen oder wie einen Rosenkranz ein „ich
will nicht mehr“ immer wieder wiederholte? Denn von den Fixierungen seines
Kopfes war er auch jetzt nicht befreit – war er noch lebendig? – da ihm die
Juniorminister ihrer britischen Majestät einfielen, die in Damenunterwäsche
und mit Strapsen tot in ihrer Küche gefunden wurden. Schrecklich und unwürdig
genug, nackt und tot unter der Dusche gefunden zu werden, oder wie eine alte
schöne Dame mit weißem weitkrempigen Hut und weißem BH gedankenverloren und
erwartungsvoll in einem Parkpavillon tanzend. Und doch fragte er den ihn
behandelnden Arzt, den man ihm gegen seinen Willen aufgedrängt hatte: „Sie
wollen mich heilen, wovon?“ Es bereitete ihm Vergnügen, den Arzt zu bitten, ihm
seinen Vorschlag, ihm den granulozytenkoloniestimulierenden Faktor zu spritzen,
auch wenn dadurch der linksventrikuläre Blutauswurf nicht verbessert wurde,
doch aufzuschreiben, damit er diese Wörter auf der Zunge zergehen lassen könne.
Und jeden Morgen fluchte er, wenn er beim Aufwachen merkte: er war noch da.
Auch 24% Herzleistung waren immer noch genug. Dennoch hatte er Angst, wenn der
Schmerz in einer Nachtstunde zu groß wurde. Wenn dem nicht so war, starrte er
auf das große leuchtende Display des digitalen Weckers. Alle Schnapszahlen
nächtlicher Stunden von 0:00 an hatte er beobachtet, nur 6:66 erreichte er nie,
weil er entweder schließlich doch einschlief oder aber längst aufgestanden war.
Der nächste Akt bestand darin, seiner angeblich interessierten Umgebung
Arztbesuche vorzuspielen, Diagnosen zu erfinden, um nicht in die quälenden
Mühlen der Fürsorglichkeit zu geraten. Er begann seinen Körper immer genauer zu
beobachten, da er nicht mehr den Druck des Urinstrahls spürte, keinen kleinen
Mond mehr formte, sondern ihn bis zum langsam versickernden Ende beobachten
mußte. Er betäubte jeden physischen Schmerz mit der Bemerkung: „Du willst es
doch so.“ Der vorletzte Akt war dann aber, die eigene Schwäche nicht mehr
überwinden zu können, so dass er allzu früh wieder wie ein altes Auto
zusammengeflickt wurde. Er hatte irgendwie nicht begriffen, dass die heutige Medizin
den alternden Menschen nicht in Ruhe verschwinden lassen konnte. Das merkte er
erst später, als er sich bereits der Suada eines Arztes über die telemetrischen
Kontrollmöglichkeiten im Krankenhaus gebeugt hatte und sich noch nicht darüber
klar war, dass herausgerutschte Verbindungskabel nur für den Betroffenen nicht
belanglos waren. Aber selbst war er zu feige, aus dem Fenster zu springen.
Stundenlang starrte er hinaus und stellte sich vor, wie ein Körper mit seinem
Schmerzempfinden im Fall auf die die Wandverkleidung tragenden Stahlträger
aufschlug. Er hätte sich schließlich weh tun können.
Es gab auch Versuche der Annäherung
an Menschen, denen er angeblich etwas bedeutete, die er anlog, um noch größeren
Belastungen zu entgehen. Einmal mehr und zum letzten Mal träumte er von seinem
Vater mit Hut und Lodenmantel. Er war mit Irene Bluntschli verabredet, gelangte
aber mit dem Wagen auf einen Feldweg, der immer schwieriger zu befahren war,
bis er schließlich gar nicht mehr weiter konnte. Links von sich wußte er von
einer Straße, die zu Menschen führte. Er war aber von ihr durch einen
unüberwindlichen Maschendrahtzaun getrennt, so dass er immer weiter laufen
mußte, immer weiter weg von allen, bis der Zaun schließlich ein Ende nahm und
er auf der asphaltierten Straße zurücktraben konnte. Er gelangte zuletzt in
einen Ort, der einer französischen Kleinstadt glich, vielleicht war es Aix. Der
erste Mensch, dem er begegnete, war sein Vater, der ihn neugierig fragte, ob
jetzt alles in Ordnung sei. Da erinnerte Karl sich daran, dass er die Aufgabe
gehabt hatte, eine geborstene Beziehung zu reparieren. Und so log er selbst im
Traum weiter und sagte: „Ja, alles ist wieder in Ordnung.“ Gleichzeitig wurde
ihm bewußt, dass der kleine Ort mit Menschen gefüllt war, die er kannte und die
ihn gleiches fragen würden. In immer größerer Panik zwang er sich aufzuwachen.
Wie lange muß man auf den Tod warten?
Karl war nicht mehr in der Lage, auf
Gefühle anderer zu reagieren. Endgültig war er an dem Punkt angelangt, an dem
er nurmehr das Ideal liebte und den Kurzschluß aller Realitäten haßte. Er
sehnte sich danach, allein zu sein, hockte schweigend in Gesellschaft, kehrte
immer wieder zu seinen Gedanken zurück, denen er freien Lauf ließ und die
dennoch immer wieder in die Vergangenheit zurückkehrten.
Im Rollstuhl oder im Bett, wenn ihn sein Körper zur
temporären Rettung aus der Schlafapnoe herausholte und er dann jedesmal
neidvoll an alle diejenigen dachte, die der Schlaf nicht mehr verließ, tauchte
neben ihm der Kopf Katherines auf, blaßhäutig gegen ihr leicht nach innen
gewelltes halblanges Haar. Karl versuchte die Phantasien und Träume
herbeizuzwingen, in denen er mit ihr hätte zuammen sein können, doch gelang es
ihm nicht. Jede Berührung griff durch sie durch, und es war ein unerfülltes
Beisammensein jeden Abend, jede Nacht. Dann verwirrten sich die Erinnerungen.
Er war seine Mutter auf dem Dampfschiff nach Bergen voll unerfüllter Sehnsucht
wie der Gesang vom roten Rubin nach dem allzu ernsthaften Mann, der seine
Sünden im Urchristentum und einem Interesse am Buddhismus verbarg. Er war sein
Vater, der ein Photo aufbewahrt hatte, auf dessen Rückseite die junge Frau
geschrieben hatte: „– und sie wartet auf jemand“. Sie ist eine melancholische
Schönheit. Er hatte auch ein Photo seiner Freundin Helène bewahrt, über eine
Näharbeit gebeugt. Auf der Rückseite beider Photographien hat die Mutter mit
alter zorniger Hand selbstquälerisch die Namen der Frauen vermerkt, in einer
Schrift, die schuldig wirkte, als hätte die Schreiberin eine von ihnen der nationalsozialistischen
Geheimen Staatspolizei überlassen. Er schaute auch auf die Universität, die er
mit der Hilfe und den Geldern Hannelore Münchbergs wohl doch sogar errichtet
hatte. Ohne ihn wäre sie nicht zu Stande gekommen. Er erinnerte sich daran,
wie er langsam beiseite geschoben wurde. Zunächst hatte man nur vergessen, ihn
zu unterrichten, dann insinuierte man ihm, seine Entscheidung sei in bestimmten
Fällen doch gar nicht erforderlich. Es dauerte, aber dann dauerte es doch nicht
gar so arg lang, dass man eilends an ihm vorbei zu universitären Sitzungen
hastete. Ein paar der Gesichter der ersten Stunde spielten noch immer und jetzt
sogar die entscheidende Rolle, auch wenn sich diese mit einem Legitimationswall
Unbekannter, Unbedarfter, mit Quotenjugendlichen, unverantwortlichen zwanzigjährigen
Genies umgeben hatten, die nie zu einer Gefahr für sie werden konnten, weil sie
sich nicht nur zum Dank verpflichtet fühlten, sondern wie Michael Kippert und
Katja Leuting sich zur diskreten Wahrnehmung ihrer Lebenspartnerschaft
gezwungen sahen. Viele Nächte später spürte er aber doch entgegen seiner
Überzeugung, dass sich Katherine über ihn neige. Nach einem frühen Anfall von
Panik überzeugte er sich selbst: Das ist es, was du dir gewünscht hast. Und da
das Ende nicht kommen wollte, verloren die Erinnerungen immer mehr an Wert,
wurden zu einer Abfolge gescheiterter Momente. Es war nicht Freude oder Traurigkeit,
die sich angesammelt hatten, sondern nur Enttäuschungen.
Nächte
später putzte Karl mehrmals die Zähne im Traum und spuckte jedes Mal eine
schwarzbraune Flüssigkeit aus, doch schien es nicht merkwürdig zu sein, denn
jemand schaute ihm über die Schulter ins Waschbecken hinein und bemerkte nichts
dazu. Die letzte Nacht während eines letzten Aufenthalts in London träumte er
intensiv von Katherine, in der Gegenwart, in Berlin. Sie wohnte in der Zimmermannstr.
34, aber es war nicht die Zimmermannstraße, sondern ein im Winkel freistehendes
Jugendstilhaus, wo sie im ersten Stock direkt über dem Eingangsportal hinter
einem Blumenfenster mit Gardinen wohnte, von wo sie ihn bemerkte, ihm zuwinkte
und herunterkam. In die Wohnung gelangte er nicht. Aber es fing anders an: Er
fand ihre Telephonnummer und rief sie an, und sie verabredeten sich. Karl
wohnte bereits allein und dachte dennoch, in der Zimmermannstraße müsse er vorsichtig
sein, seiner Frau nicht zu begegnen, eine Begegnung, die nur in dem unsympathischen
Satz „Du hast recht und ich hab‘ ma Ruh“ einen unbefriedigenden Abschluß
gefunden hätte. Doch wie so oft hatte er die Hausnummer vergessen und suchte
Katherine zuerst in Nr. 31, das eine Art Wohngemeinschaft war, zu der sie kaum
noch gehören konnten. Er erinnere sich, dass er ein junges Mädchen nach Katherine
fragte und sie ihn verständnislos anstarrte. Später dann, als er Katherine
gefunden hatte, kam sie herunter zusammen mit ihrem schwarzen liebenswerten
Bastardhund, einer Mischung aus Labrador und Terrier könnte man sagen. Katherine
selbst trug einen weißen Pullover, den er noch nie an ihr gesehen hatte, ihre
Haut aber war brüchig und durchsichtig wie er sie kannte, und sie war älter geworden.
Es war eben heute: Beide waren sie älter oder so alt wie sie heute halt sind.
Und sie machten einen Spaziergang hinter dem Haus den Berg hinauf, ein
Zusammensein von schmerzhafter Schönheit für beide, ohne zusammenkommen zu
können. Natürlich mischen sich hier andere Besuche, Schuldgefühle, Liebe etc.
Und Karl erwachte voller Begierde nach einem unerfüllten Traum.
Karl hatte keine Eile.
Wie gleichgültig ist ihm Wien. Er hat noch keine Erinnerungen, die er wieder
erfahren könnte, nicht an die Annagasse mit der Wendeltreppe in der
Hausmeisterwohnung, deren Bewegung er später mit Katherine kopierte. Dorthin zu
Freunden zogen sie sich zurück, weil es keinen anderen Ort zur ausschließlichen
Vereinigung gab. Er konnte noch nicht an die kommenden ersten Wochen, an eine
begriffsstutzige lichtlose Nacht in der Herrengasse auf einem durchgesessenen
Sofa mit Knieberührung denken, an das Wachsen einer scheiternden Liebe, an den
von Georg Kreisler besungenen Hausmeister aus eben dieser Hausanlage,
durchtanzte, durchrauchte Nächte in der Adebar, Zweiliterflaschen vom Faß aus
dem Augustinerkeller und Krautsalatorgien. Es ist nicht das Ziel, das er sich
erwünscht hat. Seine Mutter, die Europäerin aus dem Norden – fast jenseits von
Feuerland, die mit Deutschland Versöhnungsbesessene seit ihrer Schulzeit nach
dem Versailler Vertrag mit ihrem aus dem Gymnasium bewahrten Deutschlehrbuch,
aus dem sie ebenso gern schmetterte „sie sollen ihn nicht haben, den freien
deutschen Rhein“ wie sie mit Pathos Mussets „Nous l‘avons eu, votre Rhin
allemand“ vortrug und mit leidenschaftlicher Rührung von der Überführung
Napoleons in den Invalidendom berichtete, Napoleon zum strahlenden Sieger von
Austerlitz machte und zum tragischen Helden von Waterloo, er sich mit dem
Schicksal Boabdil el Chicos mischte, den Narben, die man im Pariser Exil
zeigte, und aus dem Karl in die träumenden fünfziger Jahre Heines Gedichte, die
noch nicht wieder, und „Was ist des Deutschen Vaterland“, das angeblich nicht
mehr im deutschen Bücherschrank stand, in die eigene Schulzeit hineintrug, hat
ihn überredet, hat ihn gezwungen, der Vater hat die Bleibe organisiert bei
Bekannten seit der Vorkriegszeit in der östlichsten Hauptstadt unseres Europas.
Vielleicht stimmt es, als Karl auf den Perron im Westbahnhof hinabsteigt. Er
kennt noch nicht, die tote Tram nach Pressburg, dass man einmal im Café in
Bratislava saß, des Nachts den Hang durch die Altstadt von Posonyi zur Burg
hinaufstolperte hinter den verhallenden Schritten Patrick Leigh Fermours so wie
später auch in Esztergom oder Hermannstadt, das Spiel im Seewinkel, mit
Gewehrschüssen ungarische Mienen zur Explosion zu bringen, dass in Mörbisch die
Welt zu Ende zu sein scheint und nur die Salami aus Oedenburg ihn das
vorkolumbianische Weltbild verstehen läßt: die Erde ist flach und einmal zu
Ende, doch woher kommt der verführerische Pfeffer? Dieses Gefühl verstärken die
endlosen Schilfwiesen mit den einsamen im See endenden Stegen, auf denen man
niemanden trifft, doch immer angstvoll die ersten Einwohner von Brobrignag erwartet.
Wie mit den Phöniziern nach Ultima Thule und in die spiegelverkehrte Welt des
südlichen Afrikas ist er Hans Zehrers Percy Brown bis nach Bukarest gefolgt, um
seine Lisaweta zu treffen. Doch ist dies nur eine vague Erinnerung, da er doch
München, Köln und Augustdorf kennt. Ist es nicht vielmehr so, dass jenseits der
bekannten flachen Welt die geschichtslosen Völker wohnen, denen die ägyptischen
Pyramiden und vielleicht häßliche Pharaonen Gegenwart sind wie der Zug
Alexanders, der Tritt der römischen Legionen, wo apud pastores Romanorum anders
als hier, diesseits der Mauer um Gog und Magog, nur mehr acht Orte Heiligen,
aber fünfunddreißig des Satans gedenken. Vergeblich war hier die Hoffnung Papst
Urbans VIII.: „Per vos, mei Rutheni, Orientem concertendum esse spero.“ Hier
und noch weiter östlich im Katharinenkloster auf dem Sinai rupften die Teufel
die Hoffnungsvollen von der Himmelsleiter. Und doch waren es von Menschen
errichtete künstliche Grenzen, denn von jenseits der Grenze wurde die
Geschichte in ein Europa getragen, zu dem Lund so gehörte wie St. Petersburg
und Wilna im Nordosten, Jassy und das gegenüberliegende Kolchis im
entsprechenden Süden. Vielleicht sollte man nur die Huzulen ausnehmen, zu sehr
entstammen sie einem Märchen. Heute aber schnürten selbst die Wölfe von jenseits
der Weichsel und Donau nach Westen bis in den Battersea-Park hinein und die
deutsche Sprache von Czernowitz aus. Und fährt man anders nach Osten durch ein
weiteres Tor Europas, dann scheint die russische, italienische, niederländische
und deutsche Mischung in St. Petersburg unser heimliches Vergnügen an der
Barbarei zu befriedigen – oder werden wir auf den Arm genommen? –, die Bauten
wie Marzipantorten und bunt wie die Einheitsstoffe der Zentralasiatinnen, die
Atlantiden in Zarskoje Selo untereinander identisch wie Massenprodukte, nicht
mit den Nuancen des Lächelns auf den Lippen der Sphingen im Garten des
Belvedere. Doch wären wir von dort wie Edith Södergran, dann würden wir uns an
die Zeit vor den tiefen Verletzungen und vor den gewaltigen Narben erinnern und
würden wissen, dass seine Menschen aus dem fernen Osten kommen, wo selbst die
grauesten, stillsten und traurigsten Steppen für den Wind offen sind, dass
diese Stadt sanft sein kann wie eine Heilige, wenn die verzauberte Fahne der
Kindheit von den Türmen flattert. Dann bekommt St. Petersburg den gleichen Wert
wie Gdingen in einem alten deutschen Lesebuch, weil es das Zuhause ist.
Andere Leute gehen auf
Tramp nach Tunis oder wollen nach Persien und sprechen wie Olearius: „dass auch
in der Barbarey, Alles nicht barbarisch sey“, oder sie haben sich in Island
durch die Vorräte der Schutzhütten gefressen. Auch Karl hat sich die Karte
angesehen. Soweit will er gar nicht. Nach ein paar Tagen als Feigenblatt wird
er über Graz, grantelnd, kratzig – von hier aus läßt sich die Welt so schön
beschimpfen mit dem folgenden Rückzug in den resignierenden Ort, nach
Oberitalien fahren, noch nie war er diesseits der Alpen, ohne Prätendentenbart,
von dort nach Südfrankreich, zuerst etwas neues sehen, dann aber wieder am
Marktplatz in Aix Pernod trinken, eine Anspielung auf kokette Jugendsünden.
Sünden meint er, um so den verpaßten Gelegenheiten hinter den warmen nächtlichen
Felsen am Strand im vergangenen Sommer einen vertretbaren Namen zu geben.
Später dann wird er den Spuren der vier Gerechten von Edgar Wallace folgen und
Rilke im Hotel Reina Victoria entdecken, in Mindos gegenüber von Bodrum die
Fußspuren Herodots erkennen, aber nicht wieder über den endlosen Perron des
Westbahnhofs marschieren, die unsichtbare Seele hinter sich her schleifend.
Karl hatte noch keine
Lust, seine Leute aufzusuchen. Trotz seiner öden Länge ist der Perron noch
neutrales Gelände, der ihn den anderen gleich macht. Dann aber tritt er in die
große Bahnhofshalle, ein Bühnenauftritt, bei dem er allein seine Rolle nicht
beherrscht. Und so fühlt er sich, als werde er ausgesondert, so als wäre es
einer der vielen Schulwechsel, vor denen er sich früher so gefürchtet hatte. Es
geht darum, die schützende Anonymität so lange wie möglich zu bewahren, und er
flüchtet in den Waschraum, wo er von einem gewaltigen Mann als Waschfrau empfangen
wird, der wie Toilettenfrauen sonst seine Thermosflasche und sein Frühstück
neben sich hat. Der Mann erklärt ihm den Türmechanismus, aber Karl ist ein schlechter
Kunde. Er mietet kein Handtuch, benutzt nicht die behördliche Seife und
verweigert so dem Toilettenmann seine Prozente. Aber seine Ratlosigkeit, als er
sich rasieren will, macht alles mehr als gut. Der Toilettenmann wird umständlich,
fürsorglich, macht seinen Beruf zur Berufung, nimmt Karl an seine aufgeschwollene
Hand und führt ihn in die Damentoilette, liebevoll, verständnisvoll, denn dort
gibt es einen Anschluß für den Staubsauger und überdies gleich drei
Toilettenfrauen, zwei mit ihren zwischen ihre Knie geklemmten Scheuerbesen, deren
graue, unregelmäßig erscheinende Lappen zwei Pfützen um die dick gewordenen
Füße ihrer Besitzerinnen bilden. Auch der Mann bleibt, um sich an der Unterhaltung
über Familie und Kundschaft zu beteiligen. Sie ziehen Karl in ihr Gespräch und
fragen ihn „gehören Sie auch zu den jungen Leuten, die in Wien feriieren
wollen, sich jeden Morgen auf dem Bahnhof waschen und ihr Gepäck in einem
Schließfach aufbewahren?“ Dies führt zu einem zuneigungsähnlichen Gefühl. Sie
akzeptieren ihn. Sie nehmen ihn auf in eine verschworene Gemeinschaft. Er kann
ihnen erzählen, dass Wien schön sei, und am liebsten würde er sich mit einem
Handkuß verabschieden, mit einer körperlichen Berührung, mit einen Kuß auf die
Stirn, um sein Gefühl der Zärtlichkeit für sie wieder los zu werden. Der
Toilettenbereich und die jungen Leute haben ihm ein Zugehörigkeitsgefühl gewährt,
so dass er als spezifische Handlung seinen Koffer einem Schließfach anvertraut
als ersten Schritt zur Eroberung Wiens.
Er lächelt den
Bankbeamten an, bei dem er einige Schillinge einwechselt, die Frau vom Trafik,
die ihm sagt, dass sie amerikanische Zigaretten nicht lose verkaufe. Am Modell
eines Ozeandampfers vorbei, der in der Halle Reklame für ein Reisebüro macht
als gehöre Triest noch zu Österreich. Auf der allzu freien Fläche büßt Karl
seine Sicherheit wieder ein. Er gehört doch nicht dazu, so sehr er auch protestiert.
Als er sich entschließt, seine Leute aus dem Telephonbuch herauszusuchen, hat
er bereits wieder gegen die Stadt verloren. Er flüchtet in ein Taxi und zum 14.
Bezirk. Und wie schön ist Höflichkeit: „Wir haben Sie schon zum Frühstück erwartet.“
Kein Gast ist ihnen willkommener als Karl. Verstärkt wird diese Annehmlichkeit
durch die erfrischende Direktheit der beiden kleinen Söhne, die ihn „Bleeder,
G‘scheßter!“ rufen. Was will man mehr. Später wird Karl erfahren, dass solche
Titeleien den Charme des Wieners ausmachen, aber sie sind Anlaß, die Jungen
anzulachen, auch wenn er sie nicht auf der Schaukel anschubsen darf, zu groß
ist, um mit ihnen Fußball zu spielen.
Von diesem Ankerplatz
aus traut sich Karl, mit der Tram in die Stadt zu rattern, und vor dem Ring muß
er sie verlassen und diesen überspringen in das Wien, das er später auf dem
Hinterhof des Hochhauses in der Herrengasse, von einem Pensionsfenster
gegenüber dem bunten Dach des Stephan, in der Seilergasse und beim Griechen in
der Dorotheengasse so eben wahrnimmt mit seltenen Ausflügen in den 3. und 4.
Bezirk. Er überquert den weiten Platz vor der Burg, liest heimlich die Namen,
ohne ihre Bedeutung, touristisch und für sein Leben, zu kennen, den Michaelerplatz,
Kohlmarkt und Graben. Am liebsten möchte er umkehren, den Rückweg erkunden,
einen Zipfel Vertrautheit erwerben. Doch dann stürzt er sich mutig in die Enge
der Kärntnerstraße, als sie noch nicht zur verwechselbaren Fußgängerzone
verkommen war, berühmt und ihm unbekannt wie der Bund in Shanghai, als bloßer
Name Metapher der Weltstadt, wo Herren ihr letztes Windspiel, Damen nicht ihr
letztes Baby ausführen, exklusiv wie die deutsche Philosophie, wenn man sie
sich in Indien erliest, nie nach China fährt, weil man die Tang-Poesie verehrt.
Fahre nicht hin zu den Orten, die Du zu lieben glaubst, sonst erfüllst Du nicht
die Aufforderung, die im kommenden Sommer Dir Anna fast sehnsüchtig neidisch
sagen wird, indem ihre spitzen Brüste in Kußnähe zu Dir heruntertropfen: „Don‘t
spoil your youth,“ „gib nicht Deine Erwartungen auf.“ Sonst rücken nämlich die
Gebäude in der Kärntnerstraße noch enger zusammen, werden noch dunkler und was
man riecht, sind die Ausscheidungen der Menschen und Häuser.
An der Oper angelangt,
betritt Karl nur mit Angst die Rolltreppe hinunter in die noch geschichtslose
Passage, obwohl er hier Teil eines Neuanfangs sein könnte. Stattdessen
vollendet er das Carrée durch die Augustinerstraße, den Josephsplatz, biegt vom
Michaelerplatz wieder ein in den Kohlmarkt, versteckt sich in einem Café hinter
einem Aquarium, nicht im berühmten Dehmel, bevor sein späterer Besitzer versuchte,
Lloyds zu betrügen.
Noch hängt diese Welt
an der Nabelschnur, die zu den Bekannten im 14. Bezirk führt.
Das Alter ließ ihn die Dezenz vergessen, die ihn und die
nur mehr empirischen Personen vor Indiskretionen schützte, und dies führte zu
den Verirrungen der Wahrheit. Kein Bild wollte ihm mehr gelingen. Ganz privat
und endlich sprach er nichts als die Wahrheit, ungeschminkt und kein bißchen
weiser. Doch nur er selbst hatte an Katherine den Mord begangen, den jeder
begeht, ohne Lächeln, weil er sich nie hatte hingeben können. Nicht aber die
faulen Ausreden gab er auf, wenn er angeblich, um die finsteren Seiten des
Surrealismus zu erkennen, Les onze milles
verges diskret kaufte und sich schließlich selbst eingestehen mußte, dass
unter den dort beschriebenen Aktivitäten unterhalb der Gürtellinie nicht eine
einen Funken versprühte. Eines Abends wanderte er einige Schritte neben einer
großen stattlichen zornigen Frau, größer als er, schwerer als er, aber auch
immer noch fester im Fleisch als er. Er sprach kein Wort mit ihr, hatte keinen
Namen, und doch spürte er im Halbschlaf in der Nacht, wie ihre Knie gegen seine
nackte Brust drückten. Gelegentlich war er den Tränen nahe, wenn er selbst
seine törichten Fixierungen bemerkte, es wollte, doch sich nicht von ihnen
lösen konnte, es nicht mehr schaffte, die tägliche Routine leichthändig zu
durchbrechen. Die Feuchtigkeit sammelte sich hinter seinen Augen, selbst wenn
er nur an einsamen Abenden glaubte, die Stimmungen von Forrest Gump einzufangen
oder mit Katherine das Vergnügen unter Kokospalmen zu teilen. Wenn er
buchhalterisch abrechnete, war sehr wenig auf der Habenseite des Lebens zu
buchen, wenig an Fähigkeiten, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen,
wenig davon, sich selber Ausdruck zu verleihen, Leben zu geben. Als er
seinerzeit in Wien angekommen, telephonierte und erfuhr, dass Katherine tot
war, verbrachte er einen halben Tag wie bewusstlos. Wenn er ein Gefühl hatte,
war es am ehesten eines von Selbstmitleid. Er telegraphierte seiner
norwegischen Studienfreundin Petra, und tatsächlich empfing sie ihn auf dem
Bahnhof, als er gerädert dem Nachtzug aus Wien entstieg. Schweigend begleitete
sie ihn über einen warmen Frühsommertag hinweg, und mit mit Enttäuschung
gepaartem Bedauern wehrte sie auf einem Deichhang am Rhein seine fingernden
Bemühungen unter ihrem Rock ab, vertröstete ihn auf ein anderes Mal, das bei
aller wachsenden gegenseitigen Zuneigung doch nie kam.
Er konnte einen der vielen Nachrufe
Robert Louis Stevensons für sich reklamieren: „Here lies a man who never did
anything but what he was bid; who lived his life in paltry ease, and died of
commonplace disease,“ oder er konnte dem norwegisch-dänischen Dichter Wessel
folgen, der aß und trank und niemals froh geworden war, seine Stiefelabsätze
abgelaufen hatte und zuletzt nicht einmal mehr zu leben vermochte. Und
schließlich träumte er nur noch, dass er schliefe.
Er mußte zugeben, dass er nicht
gefunden, was er nicht gesucht hatte, sich nicht mehr an das erinnerte, an das
er sich nicht erinnern wollte. Die Speicherprozesse seines Denkens und
Erfahrens hatten sich selbständig gemacht, und die gesellschaftliche Torheit
überlagerte alles, was einmal eine Chance für das Leben gewesen war. Und aus
dem Spiel um der Kindheit willen, in das er sich zeitweilig gerettet hatte,
schließlich sehr bald nicht mehr kontrollieren konnte, wurde drohender ungewollter
blutiger Ernst. Er wurde der
alte Maler Surprised by a Naked Admirer.
Zu ihm gesellte sich der alte Herr
Professor Mann, der in seinen Erinnerungen zwischen den Tränen um seine
kürzlich nach mehr als fünfzig Jahren Ehe verstorbene Frau, der eigenen
erfolgreichen Schlitzohrigkeit und dem mit Karl geteilten, aus eigenen
Erfahrungen gewonnenen Zorn auf Inez Jentner schwelgte, die vor gut dreißig
Jahren einen liberalen und zugänglichen, daher der Revolution gefährlichen
Kollegen vernichtet hatte. Und so wanderten die Gedanken noch weiter zurück an
Schüler, die ihre schuldlos schuldig gewordenen Meister an den Pranger
stellten, weil sie die Flucht zum Cembalo oder zur Orgel nicht verstanden,
sondern mit rigoroser Zweidimensionalität den Menschen nur als soziales Wesen
sahen, den eigenen sechzigsten Geburtstag jedoch als kostbares persönliches Ereignis
zelebrieren ließen. Und Karl und Professor Mann klagten gemeinsam über die
wachsende Willkür der Entscheidungsträger und die immer ausgeprägtere
Servilität und Dekadenz der Betroffenen. Bis sie schließlich beide in
öffentliches Schweigen ausbrachen. Sie vereinten sich unter der
Außenbeobachtung, dass hier nur zwei senile Zyniker sich entäußerten, deren
Denkvermögen durch zu hohen Blutdruck getrübt worden war. Wahrscheinlicher war,
dass sich über ihre Züge vor der Zeit der Risus sardonicus gelegt hatte, und
keine Finger waren bereit, ihren Ausdruck zu glätten. Das frühere
Identifikationsobjekt Karls traf nicht mehr zu. Er konnte sich nicht mehr mit
Mirós „Hund, den Mond anbellend“ vergleichen.
Daraus entwickelte sich eine stille,
nicht mehr entwicklungsfähige Freundschaft, in der Karl und Mann miteinander
sprachen, ohne dass der andere zuhörte, weil mit der Altershörschwäche die
Lärmempfindlichkeit schmerzhaft zugenommen hatte, wußten, dass sie vom anderen
verstanden wurden. Bei Karl führte die Hörschwäche dazu, dass er außer im
Schlaf in seinem Kopf ein ständiges nicht unbedingt unangenehmes
Vogelgeschwitzer aus einer überbevölkerten Voliere hörte und überlegte, ob er
nicht eigentlich die elektrischen Ströme seines Gehirns wahrnehme – mit den
dazugehörigen Kurzschlüssen. Um festzustellen, wenn eine Autopsie unmöglich war
– dabei musste er immer an eine früher mit ihm befreundete Familie denken, auf
deren Toilette ein Schild hing „Nur Schweine pinkeln im Stehen“, ob er
überhaupt Wasser lasse, musste Karl den Urin über seine Hand laufen lassen, nur
sehr entfernt ein erotisches Erlebnis, eigentlich nur die Notwendigkeit zu
erfahren,wann er seine Notdurft beendet hatte. Sie sprachen voll Duldsamkeit
von ihren Gebrechen, die keine waren, sondern nur die Schwächen des Alters, die
Hörhilfen, die sie nie recht einzustellen wußten und deshalb kaum benutzten.
Mann hatte im Gegensatz zu Karl vor fast vierzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört,
aber beide sprachen bei ihren Besuchen beim Hausarzt meist nur von Malereien,
die sie liebten, nicht von den Schmerzen, denen sie entfliehen wollten, doch
aufrechterhielten, um einen Grund für geforderte Sterbehilfe zu konstruieren,
doch nicht unter der Wirkung von Placebos oder Vergessenspillen zu verdrängen.
Beide sahen in Acetylcholinesterase-Hemmern die Waffe des Bösen gegen die
Schönheit des Vergessens. Um der Palliativmedizin zu entgehen, entzogen sie
sich jeder klaren Diagnose und kokettierten mit der Hypochondrie, die ihnen die
Muße des Alters erlaubte und die Angst vor einer schrecklicheren Realität
eingab. Mit niemandem, auch nicht untereinander, da sie davon wußten, sprachen
sie von den tausend Toden zwischen Schlafen und Wachen in den kleinen
Nachtstunden, wenn die Brust sich zusammenschnürte und die Erstickung übte,
vielleicht sprachen sie davon, dass sie bald in die gleiche Erinnerungslosigkeit
wie vor ihrer Geburt hinabtauchen würden. Sie konnten über das Sterben
scherzen, lange Reihen von Argumenten vorbringen, welcher Zeitpunkt der geeignete
sei, vor oder nach der Rasur. Der Vorteil des früheren Zeitpunkts war die Horizontale
gegenüber dem elenden zusammengesunkenen auszusortierenden Häuflein auf den
Badezimmerfliesen. Vor oder nach einer Auftragsarbeit: Sollte man ein letztes
Gutachten unbedingt noch vollenden?
Und Karl wußte sehr bald, dass die
protestantische Prüderie Manns diesen zwar nie daran gehindert hatte, von
Studentinnen eine Art ius primae noctis,
aber selbstverständlich ausschließlich auf freiwilliger Basis, sonst hätte es
nicht Freude bereitet, einzufordern, ihn aber sicherlich abstoßen würde, käme
es zur Sprache, oder erörterte man mit ihm die Frage, ob eine sterbende
achtzigjährige Frau glücklicher werden würde, wenn man ihr den wochenlangen, hoffnungslosen
und schließlich schmerzhaften Ständer in der Hose ihretwegen vor vielen, kaum
noch zu zählenden Jahren gestehen würde.
Es wirkte wie ein Spiel, ein Tänzeln
um den vom goldenen Kalb befreiten Sockel und war doch Ergebnis des Wissens und
der Angst, die durchschnittliche Lebenserwartung der Elterngeneration von 46
Jahren übererfüllen zu müssen. Voller Duldsamkeit sprachen sie von der Moral
der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, wenn ein Bridgeabend in
Quedlinburg in fremden Betten endete, was sie selbst kaum in den sechziger
Jahren erlebt hatten, wenn der Wirt des Kölner Operncafés Karl beim Skat
hilfreich zu nahe kam oder van Groningen, wenn er zufällig tagsüber in seine
Studentenbude kam und seine Wirtin nackt zwischen seinen Laken fand. Was Herr
Mann nie schaffte, schaffte Karl auf seine alten Tage, gegen die zur eigenen gewordenen
Familientradition Parteien zu wählen nur, weil sie näher an Volkes Stimme
waren. Weiter jedoch ging auch er nicht. Er war keine Innocenza Cabri, die noch
mit neunundneunzig Jahren für ihre Sozialisten kandidierte. Er war eher der
aus Galizien stammende k.u.k. Bauingenieur, der von einer vollkommenen
Universität geträumt hatte, die nun zur Spielwiese einer Generation verkommen
war.
Sie waren nicht allein. Für sich
erlebte der ursprünglich so quicke Geist Manoilescus, als er von außen auf
sich herniedersah, dass niemand zwei Tage lang merkte, dass er längst tot war,
in der ihm charakteristischen Haltung scheinbar brütend über einem Manskript,
nicht unähnlich einem finnischen Steuerbeamten. Man merkte es erst, als Eva
Pambach sich wieder einmal in Berlin freimachen konnte und ihn mit ihrem Besuch
überraschen wollte. Danach verlor sie den kleinen Rest Befriedigung an ihrer
Tätigkeit und fiel als Koordinatorin zwischen Politik und Universität aus. Sie
floh nach Zürich, als sei einmal mehr die Schweiz das einzige Refugium Europas.
Mit einem Nachruf auf ihren geliebten Kanaken Ion Manoilescu, geboren in Jassy,
zur Schule gegangen im Nicolas-Lenau-Gymnasium in Temesvar/Timişoara, Organist
in allen Dorfkirchen Rumäniens, der Schweiz und Deutschlands und Stehgeiger bei
allen Festen, an denen er teilnahm, auf den unschuldigen Spötter, den ehrlichen
Empörer, der von Deutschland aus in Bacau für Nicoleta Bichescu eine Grabstätte
auf dem städtischen Friedhof kaufte, auf den immer mehr resignierenden, Lachen
und Gelächter bewahrenden Ion Manoilescu. Sie entdeckte neu seine
Magisterarbeit über Giambattista Vico, und Sie begann zu schreiben, vor allem
von seiner lebenslangen Liebe zur Musik, von der er nur die Äußerlichkeiten
seiner Umgebung preisgegeben hatte. Eine seiner letzten Vergnügungen war
gewesen, wie man vom Blatt automatisch Töne generieren könne, die wie Musik
klangen. Passanten konnten unter seinem Bürofenster beeindruckende Versuche
hören, aber entweder hatte er es nicht gewollt, oder er hatte keine Zeit mehr
gefunden, diese Versuche rekonstruierbar zu notieren. Obwohl zunächst niemand
ihn vermißt hatte, übernahm Eva Pambach die Rolle der Times und ihrer Nachrufe mit ähnlichem Erfolg wie diese, und
außerhalb Güterslohs erhielt Manoilescu postum übermenschliche und dennoch
unspektakuläre und dezente Größe. Sie bewahrte sich das Glück weniger Jahre.
Nachdem Professor Mann und Karl
einander bei der Verabschiedung eines Schülers und Kollegen, der ebenfalls alt
geworden war, kennengelernt hatten, trafen sie einige seltene Male zusammen, zu
selten, wenn man nicht wußte, wie lange man dies noch könne, und ob es einem
nicht gehen könne, wie dem niedersächsischen Rentnerpärchen, das nach einem
Kaffekränzchen fast zu Hause erst nach 400 Kilometern merkte, dass es sich auf
dem Rückweg verfahren hatte. Einmal allerdings rappelten sie sich aus ihren
Kissen und anderen Hilfsmitteln und saßen kichernd, wie nur alte Männer es
vermögen, gemeinsam im ICE nach Heidelberg. Den Kongreß der Biogerontologen
wollten sie sich nicht entgehen lassen, wollten unbefangene Floskeln wie
„Leben verlängern ist Leben retten“ und „Was sollte eigentlich Unmoralisches
daran sein, ewig leben zu wollen“ authentisch genießen. Sie sagten nichts,
dachten an Ernest Hemingway und David Kelly und verströmten nur den die Gemeinschaft
störenden Geruch der Antipathie gegenüber dem Begriff „Anti-Ageing“, entdeckten
vague, ohne sich dies einzugestehen, ihre Ehrfurcht vor einer göttlichen
Entscheidung, die sie autonom nicht aufzuhalten versuchten. Das Altern ließ
sich auch an äußerlichen Dingen festmachen, dass man als Baby am großen Zeh
nuckeln konnte, viele Jahre andere Körperteile in befriedigender Weise erreichte,
schließlich aber im Alter nicht einmal mehr die Schnürsenkel. Und Karl verwies
auf die zunächst entstehenden finanziellen Lasten durch das Rauchen, das dann
aber durch den statistisch früheren Tod die Soziallasten erheblich senke,
wichtiger aber noch, die Langeweile eines langsamen Todes vertreibe. Darüber
aber mußte man selbst sich selbst Schweigepflicht verordnen, um nicht unnötiges
gespieltes Entsetzen zu provozieren. Und doch war es wie ein vergeblicher Eselsritt
zu San Tiago.
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