Dienstag, 11. September 2012

Lesender Weise 23



Im Rollstuhl

In einer Nacht träumte er, dass ihm die Augen aus dem Kopf fielen. Mit schmer­zenden Höhlen gelangte er zu einem Arzt, der sich weigerte, ihn zu behandeln, weil ihm etwas ganz anderes fehle als das ganz natürliche Alzheimer nach vierzig Jahren in der sengenden Sonne Indiens.
Karl las an einem Abend die alten Briefe, die er an Katherine geschrieben, aber zum Glück nie abgeschickt hatte, voller Schamröte und Trauer über ihre Hilflosig­keit gegenüber den Bedürfnissen Katherines. An die abgesandten Briefe konnte er sich nicht mehr erinnern, hoffentlich zeigten sie nur ein wenig mehr Menschlich­keit. Die, die er zurückbehalten hatte, warf er an diesem Abend fort, als könne ihn dies von seiner Schalheit befreien. Schuldgefühle und Entschuldigungsgründe mischten sich.
Wie in so vielen kitschigen Romanen flüsterte die eine Stimme „zu jung!“, „un­fähig zu lieben!“, und dazwischen schaltete sich sein Selbsterhaltungstrieb, die Vorstellung der Eigenverantwortung und schließlich die Überlegung, dass Canna­bis eine latente Schizophrenie befördert und zum Ausbruch gebracht habe. Karl war immer mit seinem und anderer Leben leichtfertig umgegangen, er hatte, nach­dem er eingeweiht war, mitgeraucht – mit schönen geschlechtlosen in weiß eintau­chenden Phantasien, nicht unähnlich der Philadelphia-Reklame im Fernsehen, je­doch ohne so konkret alberne Engel, doch hatte er nach der letzten Abfahrt vom Westbahnhof nie wieder eine der „handgemachten“ Zigaretten geraucht. Das war die eine Seite, die andere, dass er sich nie wirklich von der Liebesvorstellung des Minnesangs emanzipiert hatte, den Reiz des Unerfüllten liebte, die nebelhafte Begierde, 1968 verschlafen hatte. Und doch war es viel einfacher: er war zu selbst­süchtig, zu introvertiert, zu schnell gelangweilt, um zu lieben. Viel zu spät war er bereit und hoffte gegen die Wirklichkeit, sie würde vor der Tür stehen, ihn lieben und mit einer Tüte ersticken.

In der späten Erinnerung waren auch seine Eltern zu Menschen geworden, die ge­liebt, gehurt und gesündigt hatten, Gutes und Böses verursacht. Karl erinnerte sich an die treibenden Ängste, mit denen er kurz nach der Wiedervereinigung im Bun­desarchiv in Potsdam sich durch Bruchteile des Aktenbreis gearbeitet hatte, um sein Bild von seinem Vater bestätigt zu finden, und er glaubte, es unter dem zeit­genössischen Jargon entdeckt zu haben. Noch später fand er sich in einem Aufsatz Inez Jentners bestätigt, die weder den Pragmatismus noch die vorsichtige Men­schenliebe des Vaters zu deuten wußte. Er erinnerte sich an die Fähigkeit des Va­ters zuzuhören. Und doch konnte er dies auch jüngeren Menschen, die er auf recht neutrale Weise mochte, nicht vermitteln, tat es schließlich ab mit der nicht ganz ungerechtfertigten Annahme von jugendlicher Hybris und Selbstgerechtigkeit, die bei ehrlichen Menschen allmählich in verständnisvolle Erkenntnis abgleiten würde. Alle anderen waren unheilbar und schufen nur irrelevante Gegenwelten.
Auch andere Handlungen entsprachen dieser Entwicklung. So träumte er von einem Strand mit verkohltem Sand und verkohlten Menschen, und auf der Flucht aus dieser Landschaft brach er immer wieder ein. Wenn er wie Kreislers Tanten nicht schlafen konnte, halfen ihm nicht mehr die alten herbeizitierten Träume sexueller Befriedigung. Weder rührte sich sein Unterleib noch genügten sie, ihn in den erwünschten Schlaf zu lullen, vielmehr träumte er davon, wie er versuchte festzustellen, dass Frauen Hoden zwischen den Beinen hätten, und dann wandte er sich gelangweilt von diesen Gehirnblasen fort. Besser war es dann schon, zu Hen­ry Millers Opus Pistorum zu greifen, denn genüßlicher und realer war diese sekun­däre Art des Voyeurismus, und doch quälte er sich nach sattsam bekannten Passa­gen aus dem Bett, um zu onanieren und um das Büchlein ins Regal zurückzu­stellen, eine Geste der Verschleierung, falls er am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen sollte. Wie viele Nächte waren es inzwischen, in denen er in den schlaflosen Stunden darum betete, nicht mehr aufzuwachen oder wie einen Rosenkranz ein „ich will nicht mehr“ immer wieder wiederholte? Denn von den Fixierungen seines Kopfes war er auch jetzt nicht befreit – war er noch lebendig? – da ihm die Juniorminister ihrer britischen Majestät einfielen, die in Damen­unterwäsche und mit Strapsen tot in ihrer Küche gefunden wurden. Schrecklich und unwürdig genug, nackt und tot unter der Dusche gefunden zu werden, oder wie eine alte schöne Dame mit weißem weitkrempigen Hut und weißem BH gedankenverloren und erwartungsvoll in einem Parkpavillon tanzend. Und doch fragte er den ihn behandelnden Arzt, den man ihm gegen seinen Willen aufge­drängt hatte: „Sie wollen mich heilen, wovon?“ Es bereitete ihm Vergnügen, den Arzt zu bitten, ihm seinen Vorschlag, ihm den granulozytenkoloniestimulierenden Faktor zu spritzen, auch wenn dadurch der linksventrikuläre Blutauswurf nicht verbessert wurde, doch aufzuschreiben, damit er diese Wörter auf der Zunge zergehen lassen könne. Und jeden Morgen fluchte er, wenn er beim Aufwachen merkte: er war noch da. Auch 24% Herzleistung waren immer noch genug. Dennoch hatte er Angst, wenn der Schmerz in einer Nachtstunde zu groß wurde. Wenn dem nicht so war, starrte er auf das große leuchtende Display des digitalen Weckers. Alle Schnapszahlen nächtlicher Stunden von 0:00 an hatte er beobachtet, nur 6:66 erreichte er nie, weil er entweder schließlich doch einschlief oder aber längst aufgestanden war. Der nächste Akt bestand darin, seiner angeblich interessierten Umgebung Arztbesuche vorzuspielen, Diagnosen zu erfinden, um nicht in die quälenden Mühlen der Fürsorglichkeit zu geraten. Er begann seinen Körper immer genauer zu beobachten, da er nicht mehr den Druck des Urinstrahls spürte, keinen kleinen Mond mehr formte, sondern ihn bis zum langsam versickernden Ende beobachten mußte. Er betäubte jeden physischen Schmerz mit der Bemerkung: „Du willst es doch so.“ Der vorletzte Akt war dann aber, die eigene Schwäche nicht mehr überwinden zu können, so dass er allzu früh wieder wie ein altes Auto zusammengeflickt wurde. Er hatte irgendwie nicht begriffen, dass die heutige Medizin den alternden Menschen nicht in Ruhe verschwinden lassen konnte. Das merkte er erst später, als er sich bereits der Suada eines Arztes über die telemetrischen Kontrollmöglichkeiten im Krankenhaus gebeugt hatte und sich noch nicht darüber klar war, dass herausgerutschte Verbindungskabel nur für den Betroffenen nicht belanglos waren. Aber selbst war er zu feige, aus dem Fenster zu springen. Stundenlang starrte er hinaus und stellte sich vor, wie ein Körper mit seinem Schmerzempfinden im Fall auf die die Wandverkleidung tragenden Stahlträger aufschlug. Er hätte sich schließlich weh tun können.
Es gab auch Versuche der Annäherung an Menschen, denen er angeblich etwas bedeutete, die er anlog, um noch größeren Belastungen zu entgehen. Einmal mehr und zum letzten Mal träumte er von seinem Vater mit Hut und Lodenmantel. Er war mit Irene Bluntschli verabredet, gelangte aber mit dem Wagen auf einen Feld­weg, der immer schwieriger zu befahren war, bis er schließlich gar nicht mehr weiter konnte. Links von sich wußte er von einer Straße, die zu Menschen führte. Er war aber von ihr durch einen unüberwindlichen Maschendrahtzaun getrennt, so dass er immer weiter laufen mußte, immer weiter weg von allen, bis der Zaun schließlich ein Ende nahm und er auf der asphaltierten Straße zurücktraben konnte. Er gelangte zuletzt in einen Ort, der einer französischen Kleinstadt glich, vielleicht war es Aix. Der erste Mensch, dem er begegnete, war sein Vater, der ihn neugierig fragte, ob jetzt alles in Ordnung sei. Da erinnerte Karl sich daran, dass er die Auf­gabe gehabt hatte, eine geborstene Beziehung zu reparieren. Und so log er selbst im Traum weiter und sagte: „Ja, alles ist wieder in Ordnung.“ Gleichzeitig wurde ihm bewußt, dass der kleine Ort mit Menschen gefüllt war, die er kannte und die ihn gleiches fragen würden. In immer größerer Panik zwang er sich aufzuwachen. Wie lange muß man auf den Tod warten?
Karl war nicht mehr in der Lage, auf Gefühle anderer zu reagieren. Endgültig war er an dem Punkt angelangt, an dem er nurmehr das Ideal liebte und den Kurz­schluß aller Realitäten haßte. Er sehnte sich danach, allein zu sein, hockte schwei­gend in Gesellschaft, kehrte immer wieder zu seinen Gedanken zurück, denen er freien Lauf ließ und die dennoch immer wieder in die Vergangenheit zurückkehr­ten.
Im Rollstuhl oder im Bett, wenn ihn sein Körper zur temporären Rettung aus der Schlafapnoe herausholte und er dann jedesmal neidvoll an alle diejenigen dachte, die der Schlaf nicht mehr verließ, tauchte neben ihm der Kopf Katherines auf, blaßhäutig gegen ihr leicht nach innen gewelltes halblanges Haar. Karl versuchte die Phantasien und Träume herbeizuzwingen, in denen er mit ihr hätte zuammen sein können, doch gelang es ihm nicht. Jede Berührung griff durch sie durch, und es war ein unerfülltes Beisammensein jeden Abend, jede Nacht. Dann verwirrten sich die Erinnerungen. Er war seine Mutter auf dem Dampfschiff nach Bergen voll unerfüllter Sehnsucht wie der Gesang vom roten Rubin nach dem allzu ernsthaften Mann, der seine Sünden im Urchristentum und einem Interesse am Buddhismus verbarg. Er war sein Vater, der ein Photo aufbewahrt hatte, auf dessen Rückseite die junge Frau geschrieben hatte: „– und sie wartet auf jemand“. Sie ist eine me­lancholische Schönheit. Er hatte auch ein Photo seiner Freundin Helène bewahrt, über eine Näharbeit gebeugt. Auf der Rückseite beider Photographien hat die Mutter mit alter zorniger Hand selbstquälerisch die Namen der Frauen vermerkt, in einer Schrift, die schuldig wirkte, als hätte die Schreiberin eine von ihnen der na­tionalsozialistischen Geheimen Staatspolizei überlassen. Er schaute auch auf die Universität, die er mit der Hilfe und den Geldern Hannelore Münchbergs wohl doch sogar errichtet hatte. Ohne ihn wäre sie nicht zu Stande gekommen. Er erin­nerte sich daran, wie er langsam beiseite geschoben wurde. Zunächst hatte man nur vergessen, ihn zu unterrichten, dann insinuierte man ihm, seine Entscheidung sei in bestimmten Fällen doch gar nicht erforderlich. Es dauerte, aber dann dauerte es doch nicht gar so arg lang, dass man eilends an ihm vorbei zu universitären Sitzungen hastete. Ein paar der Gesichter der ersten Stunde spielten noch immer und jetzt sogar die entscheidende Rolle, auch wenn sich diese mit einem Legitima­tionswall Unbekannter, Unbedarfter, mit Quotenjugendlichen, unverantwortlichen zwanzigjährigen Genies umgeben hatten, die nie zu einer Gefahr für sie werden konnten, weil sie sich nicht nur zum Dank verpflichtet fühlten, sondern wie Mi­chael Kippert und Katja Leuting sich zur diskreten Wahrnehmung ihrer Lebens­partnerschaft gezwungen sahen. Viele Nächte später spürte er aber doch entgegen seiner Überzeugung, dass sich Katherine über ihn neige. Nach einem frühen Anfall von Panik überzeugte er sich selbst: Das ist es, was du dir gewünscht hast. Und da das Ende nicht kommen wollte, verloren die Erinnerungen immer mehr an Wert, wurden zu einer Abfolge gescheiterter Momente. Es war nicht Freude oder Trau­rigkeit, die sich angesammelt hatten, sondern nur Enttäuschungen.
Nächte später putzte Karl mehrmals die Zähne im Traum und spuckte jedes Mal eine schwarzbraune Flüssigkeit aus, doch schien es nicht merkwürdig zu sein, denn jemand schaute ihm über die Schulter ins Waschbecken hinein und bemerkte nichts dazu. Die letzte Nacht während eines letzten Aufenthalts in London träumte er intensiv von Katherine, in der Gegenwart, in Berlin. Sie wohnte in der Zimmer­mannstr. 34, aber es war nicht die Zimmermannstraße, sondern ein im Winkel frei­stehendes Jugendstilhaus, wo sie im ersten Stock direkt über dem Eingangsportal hinter einem Blumenfenster mit Gardinen wohnte, von wo sie ihn bemerkte, ihm zuwinkte und herunterkam. In die Wohnung gelangte er nicht. Aber es fing anders an: Er fand ihre Telephonnummer und rief sie an, und sie verabredeten sich. Karl wohnte bereits allein und dachte dennoch, in der Zimmermannstraße müsse er vor­sichtig sein, seiner Frau nicht zu begegnen, eine Begegnung, die nur in dem un­sympathischen Satz „Du hast recht und ich hab‘ ma Ruh“ einen unbefriedigenden Abschluß gefunden hätte. Doch wie so oft hatte er die Hausnummer vergessen und suchte Katherine zuerst in Nr. 31, das eine Art Wohngemeinschaft war, zu der sie kaum noch gehören konnten. Er erinnere sich, dass er ein junges Mädchen nach Katherine fragte und sie ihn verständnislos anstarrte. Später dann, als er Katherine gefunden hatte, kam sie herunter zusammen mit ihrem schwarzen liebenswerten Bastardhund, einer Mischung aus Labrador und Terrier könnte man sagen. Kathe­rine selbst trug einen weißen Pullover, den er noch nie an ihr gesehen hatte, ihre Haut aber war brüchig und durchsichtig wie er sie kannte, und sie war älter ge­worden. Es war eben heute: Beide waren sie älter oder so alt wie sie heute halt sind. Und sie machten einen Spaziergang hinter dem Haus den Berg hinauf, ein Zusammensein von schmerzhafter Schönheit für beide, ohne zusammenkommen zu können. Natürlich mischen sich hier andere Besuche, Schuldgefühle, Liebe etc. Und Karl erwachte voller Begierde nach einem unerfüllten Traum.
Karl hatte keine Eile. Wie gleichgültig ist ihm Wien. Er hat noch keine Erinnerun­gen, die er wieder erfahren könnte, nicht an die Annagasse mit der Wendeltreppe in der Hausmeisterwohnung, deren Bewegung er später mit Katherine kopierte. Dorthin zu Freunden zogen sie sich zurück, weil es keinen anderen Ort zur aus­schließlichen Vereinigung gab. Er konnte noch nicht an die kommenden ersten Wochen, an eine begriffsstutzige lichtlose Nacht in der Herrengasse auf einem durchgesessenen Sofa mit Knieberührung denken, an das Wachsen einer scheitern­den Liebe, an den von Georg Kreisler besungenen Hausmeister aus eben dieser Hausanlage, durchtanzte, durchrauchte Nächte in der Adebar, Zweiliterflaschen vom Faß aus dem Augustinerkeller und Krautsalatorgien. Es ist nicht das Ziel, das er sich erwünscht hat. Seine Mutter, die Europäerin aus dem Norden – fast jenseits von Feuerland, die mit Deutschland Versöhnungsbesessene seit ihrer Schulzeit nach dem Versailler Vertrag mit ihrem aus dem Gymnasium bewahrten Deutschlehrbuch, aus dem sie ebenso gern schmetterte „sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“ wie sie mit Pathos Mussets „Nous l‘avons eu, votre Rhin allemand“ vortrug und mit leidenschaftlicher Rührung von der Überführung Napoleons in den Invalidendom berichtete, Napoleon zum strahlenden Sieger von Austerlitz machte und zum tragischen Helden von Waterloo, er sich mit dem Schicksal Boabdil el Chicos mischte, den Narben, die man im Pariser Exil zeigte, und aus dem Karl in die träumenden fünfziger Jahre Heines Gedichte, die noch nicht wieder, und „Was ist des Deutschen Vaterland“, das angeblich nicht mehr im deutschen Bücherschrank stand, in die eigene Schulzeit hineintrug, hat ihn überredet, hat ihn gezwungen, der Vater hat die Bleibe organisiert bei Bekannten seit der Vorkriegszeit in der östlichsten Hauptstadt unseres Europas. Vielleicht stimmt es, als Karl auf den Perron im Westbahnhof hinabsteigt. Er kennt noch nicht, die tote Tram nach Pressburg, dass man einmal im Café in Bratislava saß, des Nachts den Hang durch die Altstadt von Posonyi zur Burg hinaufstolperte hinter den verhallenden Schritten Patrick Leigh Fermours so wie später auch in Esztergom oder Hermannstadt, das Spiel im Seewinkel, mit Gewehrschüssen ungarische Mienen zur Explosion zu bringen, dass in Mörbisch die Welt zu Ende zu sein scheint und nur die Salami aus Oedenburg ihn das vorkolumbianische Weltbild verstehen läßt: die Erde ist flach und einmal zu Ende, doch woher kommt der verführerische Pfeffer? Dieses Gefühl verstärken die endlosen Schilfwiesen mit den einsamen im See endenden Stegen, auf denen man niemanden trifft, doch immer angstvoll die ersten Einwohner von Brobrignag erwartet. Wie mit den Phöniziern nach Ultima Thule und in die spiegelverkehrte Welt des südlichen Afrikas ist er Hans Zehrers Percy Brown bis nach Bukarest gefolgt, um seine Lisaweta zu treffen. Doch ist dies nur eine vague Erinnerung, da er doch München, Köln und Augustdorf kennt. Ist es nicht vielmehr so, dass jenseits der bekannten flachen Welt die geschichtslosen Völker wohnen, denen die ägyptischen Pyramiden und vielleicht häßliche Pharaonen Gegenwart sind wie der Zug Alexanders, der Tritt der römischen Legionen, wo apud pastores Romanorum anders als hier, diesseits der Mauer um Gog und Magog, nur mehr acht Orte Heili­gen, aber fünfunddreißig des Satans gedenken. Vergeblich war hier die Hoffnung Papst Urbans VIII.: „Per vos, mei Rutheni, Orientem concertendum esse spero.“ Hier und noch weiter östlich im Katharinenkloster auf dem Sinai rupften die Teufel die Hoffnungsvollen von der Himmelsleiter. Und doch waren es von Menschen errichtete künstliche Grenzen, denn von jenseits der Grenze wurde die Geschichte in ein Europa getragen, zu dem Lund so gehörte wie St. Petersburg und Wilna im Nordosten, Jassy und das gegenüberliegende Kolchis im entsprechenden Süden. Vielleicht sollte man nur die Huzulen ausnehmen, zu sehr entstammen sie einem Märchen. Heute aber schnürten selbst die Wölfe von jenseits der Weichsel und Donau nach Westen bis in den Battersea-Park hinein und die deutsche Sprache von Czernowitz aus. Und fährt man anders nach Osten durch ein weiteres Tor Europas, dann scheint die russische, italienische, niederländische und deutsche Mischung in St. Petersburg unser heimliches Vergnügen an der Barbarei zu befriedigen – oder werden wir auf den Arm genommen? –, die Bauten wie Marzipantorten und bunt wie die Einheitsstoffe der Zentralasiatinnen, die Atlantiden in Zarskoje Selo untereinander identisch wie Massenprodukte, nicht mit den Nuancen des Lächelns auf den Lippen der Sphingen im Garten des Belvedere. Doch wären wir von dort wie Edith Södergran, dann würden wir uns an die Zeit vor den tiefen Verletzungen und vor den gewaltigen Narben erinnern und würden wissen, dass seine Menschen aus dem fernen Osten kommen, wo selbst die grauesten, stillsten und traurigsten Steppen für den Wind offen sind, dass diese Stadt sanft sein kann wie eine Heilige, wenn die verzauberte Fahne der Kindheit von den Türmen flattert. Dann bekommt St. Petersburg den gleichen Wert wie Gdingen in einem alten deutschen Lesebuch, weil es das Zuhause ist.
Andere Leute gehen auf Tramp nach Tunis oder wollen nach Persien und sprechen wie Olearius: „dass auch in der Barbarey, Alles nicht barbarisch sey“, oder sie ha­ben sich in Island durch die Vorräte der Schutzhütten gefressen. Auch Karl hat sich die Karte angesehen. Soweit will er gar nicht. Nach ein paar Tagen als Fei­genblatt wird er über Graz, grantelnd, kratzig – von hier aus läßt sich die Welt so schön beschimpfen mit dem folgenden Rückzug in den resignierenden Ort, nach Oberitalien fahren, noch nie war er diesseits der Alpen, ohne Prätendentenbart, von dort nach Südfrankreich, zuerst etwas neues sehen, dann aber wieder am Marktplatz in Aix Pernod trinken, eine Anspielung auf kokette Jugendsünden. Sünden meint er, um so den verpaßten Gelegenheiten hinter den warmen nächt­lichen Felsen am Strand im vergangenen Sommer einen vertretbaren Namen zu ge­ben. Später dann wird er den Spuren der vier Gerechten von Edgar Wallace folgen und Rilke im Hotel Reina Victoria entdecken, in Mindos gegenüber von Bodrum die Fußspuren Herodots erkennen, aber nicht wieder über den endlosen Perron des Westbahnhofs marschieren, die unsichtbare Seele hinter sich her schleifend.
Karl hatte noch keine Lust, seine Leute aufzusuchen. Trotz seiner öden Länge ist der Perron noch neutrales Gelände, der ihn den anderen gleich macht. Dann aber tritt er in die große Bahnhofshalle, ein Bühnenauftritt, bei dem er allein seine Rolle nicht beherrscht. Und so fühlt er sich, als werde er ausgesondert, so als wäre es einer der vielen Schulwechsel, vor denen er sich früher so gefürchtet hatte. Es geht darum, die schützende Anonymität so lange wie möglich zu bewahren, und er flüchtet in den Waschraum, wo er von einem gewaltigen Mann als Waschfrau em­pfangen wird, der wie Toilettenfrauen sonst seine Thermosflasche und sein Früh­stück neben sich hat. Der Mann erklärt ihm den Türmechanismus, aber Karl ist ein schlechter Kunde. Er mietet kein Handtuch, benutzt nicht die behördliche Seife und verweigert so dem Toilettenmann seine Prozente. Aber seine Ratlosigkeit, als er sich rasieren will, macht alles mehr als gut. Der Toilettenmann wird umständ­lich, fürsorglich, macht seinen Beruf zur Berufung, nimmt Karl an seine aufge­schwollene Hand und führt ihn in die Damentoilette, liebevoll, verständnisvoll, denn dort gibt es einen Anschluß für den Staubsauger und überdies gleich drei Toilettenfrauen, zwei mit ihren zwischen ihre Knie geklemmten Scheuerbesen, de­ren graue, unregelmäßig erscheinende Lappen zwei Pfützen um die dick geworde­nen Füße ihrer Besitzerinnen bilden. Auch der Mann bleibt, um sich an der Unter­haltung über Familie und Kundschaft zu beteiligen. Sie ziehen Karl in ihr Ge­spräch und fragen ihn „gehören Sie auch zu den jungen Leuten, die in Wien feriieren wollen, sich jeden Morgen auf dem Bahnhof waschen und ihr Gepäck in einem Schließfach aufbewahren?“ Dies führt zu einem zuneigungsähnlichen Ge­fühl. Sie akzeptieren ihn. Sie nehmen ihn auf in eine verschworene Gemeinschaft. Er kann ihnen erzählen, dass Wien schön sei, und am liebsten würde er sich mit einem Handkuß verabschieden, mit einer körperlichen Berührung, mit einen Kuß auf die Stirn, um sein Gefühl der Zärtlichkeit für sie wieder los zu werden. Der Toilettenbereich und die jungen Leute haben ihm ein Zugehörigkeitsgefühl ge­währt, so dass er als spezifische Handlung seinen Koffer einem Schließfach anver­traut als ersten Schritt zur Eroberung Wiens.
Er lächelt den Bankbeamten an, bei dem er einige Schillinge einwechselt, die Frau vom Trafik, die ihm sagt, dass sie amerikanische Zigaretten nicht lose verkaufe. Am Modell eines Ozeandampfers vorbei, der in der Halle Reklame für ein Reise­büro macht als gehöre Triest noch zu Österreich. Auf der allzu freien Fläche büßt Karl seine Sicherheit wieder ein. Er gehört doch nicht dazu, so sehr er auch prote­stiert. Als er sich entschließt, seine Leute aus dem Telephonbuch herauszusuchen, hat er bereits wieder gegen die Stadt verloren. Er flüchtet in ein Taxi und zum 14. Bezirk. Und wie schön ist Höflichkeit: „Wir haben Sie schon zum Frühstück er­wartet.“ Kein Gast ist ihnen willkommener als Karl. Verstärkt wird diese An­nehmlichkeit durch die erfrischende Direktheit der beiden kleinen Söhne, die ihn „Bleeder, G‘scheßter!“ rufen. Was will man mehr. Später wird Karl erfahren, dass solche Titeleien den Charme des Wieners ausmachen, aber sie sind Anlaß, die Jungen anzulachen, auch wenn er sie nicht auf der Schaukel anschubsen darf, zu groß ist, um mit ihnen Fußball zu spielen.
Von diesem Ankerplatz aus traut sich Karl, mit der Tram in die Stadt zu rattern, und vor dem Ring muß er sie verlassen und diesen überspringen in das Wien, das er später auf dem Hinterhof des Hochhauses in der Herrengasse, von einem Pen­sionsfenster gegenüber dem bunten Dach des Stephan, in der Seilergasse und beim Griechen in der Dorotheengasse so eben wahrnimmt mit seltenen Ausflügen in den 3. und 4. Bezirk. Er überquert den weiten Platz vor der Burg, liest heimlich die Na­men, ohne ihre Bedeutung, touristisch und für sein Leben, zu kennen, den Micha­elerplatz, Kohlmarkt und Graben. Am liebsten möchte er umkehren, den Rück­weg erkunden, einen Zipfel Vertrautheit erwerben. Doch dann stürzt er sich mutig in die Enge der Kärntnerstraße, als sie noch nicht zur verwechselbaren Fußgänger­zone verkommen war, berühmt und ihm unbekannt wie der Bund in Shanghai, als bloßer Name Metapher der Weltstadt, wo Herren ihr letztes Windspiel, Damen nicht ihr letztes Baby ausführen, exklusiv wie die deutsche Philosophie, wenn man sie sich in Indien erliest, nie nach China fährt, weil man die Tang-Poesie verehrt. Fahre nicht hin zu den Orten, die Du zu lieben glaubst, sonst erfüllst Du nicht die Aufforderung, die im kommenden Sommer Dir Anna fast sehnsüchtig neidisch sagen wird, indem ihre spitzen Brüste in Kußnähe zu Dir heruntertropfen: „Don‘t spoil your youth,“ „gib nicht Deine Erwartungen auf.“ Sonst rücken nämlich die Gebäude in der Kärntnerstraße noch enger zusammen, werden noch dunkler und was man riecht, sind die Ausscheidungen der Menschen und Häuser.
An der Oper angelangt, betritt Karl nur mit Angst die Rolltreppe hinunter in die noch geschichtslose Passage, obwohl er hier Teil eines Neuanfangs sein könnte. Stattdessen vollendet er das Carrée durch die Augustinerstraße, den Josephsplatz, biegt vom Michaelerplatz wieder ein in den Kohlmarkt, versteckt sich in einem Café hinter einem Aquarium, nicht im berühmten Dehmel, bevor sein späterer Be­sitzer versuchte, Lloyds zu betrügen.
Noch hängt diese Welt an der Nabelschnur, die zu den Bekannten im 14. Bezirk führt.

Das Alter ließ ihn die Dezenz vergessen, die ihn und die nur mehr empirischen Personen vor Indiskretionen schützte, und dies führte zu den Verirrungen der Wahrheit. Kein Bild wollte ihm mehr gelingen. Ganz privat und endlich sprach er nichts als die Wahrheit, ungeschminkt und kein bißchen weiser. Doch nur er selbst hatte an Katherine den Mord begangen, den jeder begeht, ohne Lächeln, weil er sich nie hatte hingeben können. Nicht aber die faulen Ausreden gab er auf, wenn er angeblich, um die finsteren Seiten des Surrealismus zu erkennen, Les onze milles verges diskret kaufte und sich schließlich selbst eingestehen mußte, dass unter den dort beschriebenen Aktivitäten unterhalb der Gürtellinie nicht eine einen Funken versprühte. Eines Abends wanderte er einige Schritte neben einer großen stattlichen zornigen Frau, größer als er, schwerer als er, aber auch immer noch fe­ster im Fleisch als er. Er sprach kein Wort mit ihr, hatte keinen Namen, und doch spürte er im Halbschlaf in der Nacht, wie ihre Knie gegen seine nackte Brust drückten. Gelegentlich war er den Tränen nahe, wenn er selbst seine törichten Fi­xierungen bemerkte, es wollte, doch sich nicht von ihnen lösen konnte, es nicht mehr schaffte, die tägliche Routine leichthändig zu durchbrechen. Die Feuchtigkeit sammelte sich hinter seinen Augen, selbst wenn er nur an einsamen Abenden glaubte, die Stimmungen von Forrest Gump einzufangen oder mit Katherine das Vergnügen unter Kokospalmen zu teilen. Wenn er buchhalterisch abrechnete, war sehr wenig auf der Habenseite des Lebens zu buchen, wenig an Fähigkeiten, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, wenig davon, sich selber Ausdruck zu verleihen, Leben zu geben. Als er seinerzeit in Wien angekommen, telephonierte und erfuhr, dass Katherine tot war, verbrachte er einen halben Tag wie bewusstlos. Wenn er ein Gefühl hatte, war es am ehesten eines von Selbstmitleid. Er telegraphierte seiner norwegischen Studienfreundin Petra, und tatsächlich empfing sie ihn auf dem Bahnhof, als er gerädert dem Nachtzug aus Wien entstieg. Schweigend begleitete sie ihn über einen warmen Frühsommertag hinweg, und mit mit Enttäuschung gepaartem Bedauern wehrte sie auf einem Deichhang am Rhein seine fingernden Bemühungen unter ihrem Rock ab, vertröstete ihn auf ein anderes Mal, das bei aller wachsenden gegenseitigen Zuneigung doch nie kam.

Er konnte einen der vielen Nachrufe Robert Louis Stevensons für sich reklamieren: „Here lies a man who never did anything but what he was bid; who lived his life in paltry ease, and died of commonplace disease,“ oder er konnte dem norwegisch-dänischen Dichter Wessel folgen, der aß und trank und niemals froh geworden war, seine Stiefelabsätze abgelaufen hatte und zuletzt nicht einmal mehr zu leben vermochte. Und schließlich träumte er nur noch, dass er schliefe.
Er mußte zugeben, dass er nicht gefunden, was er nicht gesucht hatte, sich nicht mehr an das erinnerte, an das er sich nicht erinnern wollte. Die Speicherprozesse seines Denkens und Erfahrens hatten sich selbständig gemacht, und die gesell­schaftliche Torheit überlagerte alles, was einmal eine Chance für das Leben gewe­sen war. Und aus dem Spiel um der Kindheit willen, in das er sich zeitweilig ge­rettet hatte, schließlich sehr bald nicht mehr kontrollieren konnte, wurde drohender ungewollter blutiger Ernst. Er wurde der alte Maler Surprised by a Naked Admirer.
Zu ihm gesellte sich der alte Herr Professor Mann, der in seinen Erinnerungen zwischen den Tränen um seine kürzlich nach mehr als fünfzig Jahren Ehe verstorbene Frau, der eigenen erfolgreichen Schlitzohrigkeit und dem mit Karl geteilten, aus eigenen Erfahrungen gewonnenen Zorn auf Inez Jentner schwelgte, die vor gut dreißig Jahren einen liberalen und zugänglichen, daher der Revolution gefährlichen Kollegen vernichtet hatte. Und so wanderten die Gedanken noch weiter zurück an Schüler, die ihre schuldlos schuldig gewordenen Meister an den Pranger stellten, weil sie die Flucht zum Cembalo oder zur Orgel nicht verstanden, sondern mit rigoroser Zweidimensionalität den Menschen nur als soziales Wesen sahen, den eigenen sechzigsten Geburtstag jedoch als kostbares persönliches Er­eignis zelebrieren ließen. Und Karl und Professor Mann klagten gemeinsam über die wachsende Willkür der Entscheidungsträger und die immer ausgeprägtere Servilität und Dekadenz der Betroffenen. Bis sie schließlich beide in öffentliches Schweigen ausbrachen. Sie vereinten sich unter der Außenbeobachtung, dass hier nur zwei senile Zyniker sich entäußerten, deren Denkvermögen durch zu hohen Blutdruck getrübt worden war. Wahrscheinlicher war, dass sich über ihre Züge vor der Zeit der Risus sardonicus gelegt hatte, und keine Finger waren bereit, ihren Ausdruck zu glätten. Das frühere Identifikationsobjekt Karls traf nicht mehr zu. Er konnte sich nicht mehr mit Mirós „Hund, den Mond anbellend“ vergleichen.
Daraus entwickelte sich eine stille, nicht mehr entwicklungsfähige Freundschaft, in der Karl und Mann miteinander sprachen, ohne dass der andere zuhörte, weil mit der Altershörschwäche die Lärmempfindlichkeit schmerzhaft zugenommen hatte, wußten, dass sie vom anderen verstanden wurden. Bei Karl führte die Hörschwä­che dazu, dass er außer im Schlaf in seinem Kopf ein ständiges nicht unbedingt unangenehmes Vogelgeschwitzer aus einer überbevölkerten Voliere hörte und überlegte, ob er nicht eigentlich die elektrischen Ströme seines Gehirns wahrneh­me – mit den dazugehörigen Kurzschlüssen. Um festzustellen, wenn eine Autopsie unmöglich war – dabei musste er immer an eine früher mit ihm befreundete Familie denken, auf deren Toilette ein Schild hing „Nur Schweine pinkeln im Stehen“, ob er überhaupt Wasser lasse, musste Karl den Urin über seine Hand laufen lassen, nur sehr entfernt ein erotisches Erlebnis, eigentlich nur die Notwendigkeit zu erfahren,wann er seine Notdurft beendet hatte. Sie sprachen voll Duldsamkeit von ihren Gebrechen, die keine waren, sondern nur die Schwächen des Alters, die Hörhilfen, die sie nie recht einzustellen wußten und deshalb kaum benutzten. Mann hatte im Gegensatz zu Karl vor fast vierzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört, aber beide sprachen bei ihren Besuchen beim Hausarzt meist nur von Malereien, die sie liebten, nicht von den Schmerzen, denen sie entfliehen wollten, doch aufrechterhielten, um einen Grund für geforderte Sterbehilfe zu konstruieren, doch nicht unter der Wirkung von Placebos oder Vergessenspillen zu verdrängen. Beide sahen in Acetylcholinesterase-Hemmern die Waffe des Bösen gegen die Schönheit des Vergessens. Um der Palliativmedizin zu entgehen, entzogen sie sich jeder klaren Diagnose und kokettierten mit der Hypochondrie, die ihnen die Muße des Alters erlaubte und die Angst vor einer schrecklicheren Realität eingab. Mit niemandem, auch nicht untereinander, da sie davon wußten, sprachen sie von den tausend Toden zwischen Schlafen und Wachen in den kleinen Nachtstunden, wenn die Brust sich zusammenschnürte und die Erstickung übte, vielleicht sprachen sie davon, dass sie bald in die gleiche Erinnerungs­losigkeit wie vor ihrer Geburt hinabtauchen würden. Sie konnten über das Sterben scherzen, lange Reihen von Argumenten vorbringen, welcher Zeitpunkt der geeig­nete sei, vor oder nach der Rasur. Der Vorteil des früheren Zeitpunkts war die Ho­rizontale gegenüber dem elenden zusammengesunkenen auszusortierenden Häuf­lein auf den Badezimmerfliesen. Vor oder nach einer Auftragsarbeit: Sollte man ein letztes Gutachten unbedingt noch vollenden?
Und Karl wußte sehr bald, dass die protestantische Prüderie Manns diesen zwar nie daran gehindert hatte, von Studentinnen eine Art ius primae noctis, aber selbst­verständlich ausschließlich auf freiwilliger Basis, sonst hätte es nicht Freude be­reitet, einzufordern, ihn aber sicherlich abstoßen würde, käme es zur Sprache, oder erörterte man mit ihm die Frage, ob eine sterbende achtzigjährige Frau glücklicher werden würde, wenn man ihr den wochenlangen, hoffnungslosen und schließlich schmerzhaften Ständer in der Hose ihretwegen vor vielen, kaum noch zu zählen­den Jahren gestehen würde.
Es wirkte wie ein Spiel, ein Tänzeln um den vom goldenen Kalb befreiten Sockel und war doch Ergebnis des Wissens und der Angst, die durchschnittliche Lebens­erwartung der Elterngeneration von 46 Jahren übererfüllen zu müssen. Voller Duldsamkeit sprachen sie von der Moral der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, wenn ein Bridgeabend in Quedlinburg in fremden Betten endete, was sie selbst kaum in den sechziger Jahren erlebt hatten, wenn der Wirt des Köl­ner Operncafés Karl beim Skat hilfreich zu nahe kam oder van Groningen, wenn er zufällig tagsüber in seine Studentenbude kam und seine Wirtin nackt zwischen sei­nen Laken fand. Was Herr Mann nie schaffte, schaffte Karl auf seine alten Tage, gegen die zur eigenen gewordenen Familientradition Parteien zu wählen nur, weil sie näher an Volkes Stimme waren. Weiter jedoch ging auch er nicht. Er war keine Innocenza Cabri, die noch mit neunundneunzig Jahren für ihre Sozialisten kandi­dierte. Er war eher der aus Galizien stammende k.u.k. Bauingenieur, der von einer vollkommenen Universität geträumt hatte, die nun zur Spielwiese einer Generation verkommen war.
Sie waren nicht allein. Für sich erlebte der ursprünglich so quicke Geist Manoiles­cus, als er von außen auf sich herniedersah, dass niemand zwei Tage lang merkte, dass er längst tot war, in der ihm charakteristischen Haltung scheinbar brütend über einem Manskript, nicht unähnlich einem finnischen Steuerbeamten. Man merkte es erst, als Eva Pambach sich wieder einmal in Berlin freimachen konnte und ihn mit ihrem Besuch überraschen wollte. Danach verlor sie den kleinen Rest Befriedigung an ihrer Tätigkeit und fiel als Koordinatorin zwischen Politik und Universität aus. Sie floh nach Zürich, als sei einmal mehr die Schweiz das einzige Refugium Europas. Mit einem Nachruf auf ihren geliebten Kanaken Ion Manoilescu, geboren in Jassy, zur Schule gegangen im Nicolas-Lenau-Gymnasium in Temesvar/Timişoara, Organist in allen Dorfkirchen Rumäniens, der Schweiz und Deutschlands und Stehgeiger bei allen Festen, an denen er teilnahm, auf den unschuldigen Spötter, den ehrlichen Empörer, der von Deutschland aus in Bacau für Nicoleta Bichescu eine Grabstätte auf dem städtischen Friedhof kaufte, auf den immer mehr resignierenden, Lachen und Gelächter bewahrenden Ion Manoilescu. Sie entdeckte neu seine Magisterarbeit über Giambattista Vico, und Sie begann zu schreiben, vor allem von seiner lebenslangen Liebe zur Musik, von der er nur die Äußerlichkeiten seiner Umgebung preisgegeben hatte. Eine seiner letzten Vergnü­gungen war gewesen, wie man vom Blatt automatisch Töne generieren könne, die wie Musik klangen. Passanten konnten unter seinem Bürofenster beeindruckende Versuche hören, aber entweder hatte er es nicht gewollt, oder er hatte keine Zeit mehr gefunden, diese Versuche rekonstruierbar zu notieren. Obwohl zunächst niemand ihn vermißt hatte, übernahm Eva Pambach die Rolle der Times und ihrer Nachrufe mit ähnlichem Erfolg wie diese, und außerhalb Güterslohs erhielt Manoi­lescu postum übermenschliche und dennoch unspektakuläre und dezente Größe. Sie bewahrte sich das Glück weniger Jahre.
Nachdem Professor Mann und Karl einander bei der Verabschiedung eines Schü­lers und Kollegen, der ebenfalls alt geworden war, kennengelernt hatten, trafen sie einige seltene Male zusammen, zu selten, wenn man nicht wußte, wie lange man dies noch könne, und ob es einem nicht gehen könne, wie dem niedersächsischen Rentnerpärchen, das nach einem Kaffekränzchen fast zu Hause erst nach 400 Kilo­metern merkte, dass es sich auf dem Rückweg verfahren hatte. Einmal allerdings rappelten sie sich aus ihren Kissen und anderen Hilfsmitteln und saßen kichernd, wie nur alte Männer es vermögen, gemeinsam im ICE nach Heidelberg. Den Kon­greß der Biogerontologen wollten sie sich nicht entgehen lassen, wollten unbefan­gene Floskeln wie „Leben verlängern ist Leben retten“ und „Was sollte eigentlich Unmoralisches daran sein, ewig leben zu wollen“ authentisch genießen. Sie sagten nichts, dachten an Ernest Hemingway und David Kelly und verströmten nur den die Gemeinschaft störenden Geruch der Antipathie gegenüber dem Begriff „Anti-Ageing“, entdeckten vague, ohne sich dies einzugestehen, ihre Ehrfurcht vor einer göttlichen Entscheidung, die sie autonom nicht aufzuhalten versuchten. Das Altern ließ sich auch an äußerlichen Dingen festmachen, dass man als Baby am großen Zeh nuckeln konnte, viele Jahre andere Körperteile in befriedigender Weise er­reichte, schließlich aber im Alter nicht einmal mehr die Schnürsenkel. Und Karl verwies auf die zunächst entstehenden finanziellen Lasten durch das Rauchen, das dann aber durch den statistisch früheren Tod die Soziallasten erheblich senke, wichtiger aber noch, die Langeweile eines langsamen Todes vertreibe. Darüber aber mußte man selbst sich selbst Schweigepflicht verordnen, um nicht unnötiges gespieltes Entsetzen zu provozieren. Und doch war es wie ein vergeblicher Esels­ritt zu San Tiago.

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