Dienstag, 11. September 2012

Lesender Weise 22



Die neue Rektorin

Lange waren sich die Mitglieder des Gründungssenats einschließlich Karls still­schweigend einig wie in seiner Zeit der westfälische Adel, wie die Freiherren von Boeselager und Droste zu Vischering, welche Vorteile eine Sedisvakanz doch für die eigenen Interessen habe, doch sollte und mußte dieses Interesse hinter der ungemeinen Sorgfalt bei der Suche nach einer nicht bloß geeigneten Persönlichkeit verschleiert werden.
Die Johannes-Universität Gütersloh hatte somit einen privatrechtlichen Status, und ihr langfristiges und konzeptionelles Entscheidungsgremium war der Aufsichtsrat, dem klassischen Akademischen Senat entsprechend und daher auch weiter so ge­nannt, in dem neben dem inneren nur scheinbar schwankenden, aber umso macht­sichereren Universitätszirkel, faktisch der entscheidende Teil des Senats, nur theo­retisch mit einer Sperrminorität ausgestattet, vor allem die regionalen Wirtschafts­kreise vertreten waren. Noch war Karl in seiner universitären Funktion Mitglied, würde es aber vertragsgemäß bis zu seinem Tode immer bleiben als Vorsitzender des ursprünglichen universitären Stiftungsvermögens aus den Schenkungen der beiden Münchberg-Damen, doch konnte er nicht mehr wie in der Gründungsphase die Macht seiner Rolle als Fondsverwalter einsetzen. Die Fäden der notwendigen Kontrolle waren zu zahlreich geworden. Die Universität war kein geschlossener Kosmos mehr, in dem eigene Gesetzmäßigkeiten geschaffen und gewahrt werden konnten. Einzelne Bereiche waren allzu flügge geworden, hatten eigene Netze ge­sponnen oder unerkannt mitgebracht.
Eher noch als der lax kontrollierte, aber immerhin kontrollierte Staat konnte dieses Gremium eigene Entscheidungen durchsetzen. Und so konnte es auch bei der Aus­schreibung des Rektorpostens sich ausschließlich an den Interessen der jungen auf­blühenden Universität orientieren. Demnach entschied man sich für folgenden Ausschreibungstext: „Von der Bewerberin/dem Bewerber wird erwartet, dass sie/er während ihrer/seiner vierjährigen Amtszeit (Wiederwahl ist möglich) die Ziele der Universitätsgründung umsetzt. Sie/er ist allein dem Aufsichtsrat gegenüber rechenschaftspflichtig.
Juristische Vorkenntnisse und praktische Erfahrungen in der Führung sperriger In­stitutionen sind Voraussetzung.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen sind bis zum ... an den Aufsichtsrat der Johannes-Universität Gütersloh, Postfach zu richten.“
Gemeint war damit, dass man an jemanden dachte mit großem Durchsetzungsver­mögen und möglichst unterentwickeltem Unrechtsbewußtsein, dem an der Um­setzung von Vorgaben mehr lag als an der sogenannten akademischen Freiheit.
War dies eine der juristisch unanfechtbaren Ausschreibungen? Wohl ja. Es wurde im ersten Wahlgang Frau Grebenstein gewählt, weil jeder die geballte Macht in ihrem Rücken spürte und sie es verstand, sich niedlich zu verpacken, mit welchem Lampenfieber sie sich dieser Aufgabe stelle, und dass sie immer für die Johannes-Universität kämpfen wolle, mit Kopf und mit Bauch, mit ziemlich großem Herzen und ziemlich großem Verstand, laut und manchmal auch leise. Intern wurde trotz der öffentlichen Ausschreibung keine Debatte geführt. Mit viel Geschick leiteten Professor Otto und eine unheilige Allianz den Führungswechsel ein. Man lenkte zunächst den Blick auf den großen Kreis der Kandidaten. Kaum anders als bei der Wahl irgendeines Superwesens im deutschen Fernsehen reduzierte sich die Zahl der Anwärter mit einem Lächeln bald auf drei. Als drittletzter schied Professor Maxen Wledig aus, Politikwissenschaftler mit einem Prätendentenbart, der seine Ansprüche angemeldet hatte, aber nicht genügenden Rückhalt in den entschei­denden universitären Gremien hatte. Dann blieben nur noch zwei übrig. Dies war der Augenblick, in dem Frau Hilpert als Antagonistin, eine ältere Schwester der „Dame in Türkis“, schön wie nur eine anziehende Italienerin vor der Kulisse nie­derländischer Alpen sein konnte, mit einem Lächeln im Bewußtsein ihrer geringen Chancen das Handtuch warf, sich ohne Option auf Wiederkehr auf ihren Bau­ernhof in der Nähe von Heide in Holstein zurückzog, ohne dass jemand trotz Ver­mutungen, ihren Ehrgeiz je hatte nachweisen können, nicht einmal ihr inzwischen langjähriger Lebensgefährte, dem sie ebenfalls immer nur ihr Amüsement offen­barte.
Frau Grebenstein war immer noch oft gepflegt, doch trug sie wegen ihrer nach ihrer Wahl zur Rektorin exorbitanten Arbeitsüberlastung nur noch flache bequeme Schuhe, darüber im Büro Jeans, bei offiziellen Anlässen einen Nadelstreifenanzug. Die Hosen betonten weiterhin ihre schlanken Beine und verbargen nicht das sich verbreiternde Becken, wobei der Herrenschnitt eine unfruchtbare Wüste zwischen Taille und Schritt entstehen ließ und jeden möglichen Traum vereitelte. Noch je­doch überspielte ihre Bedeutung die schwindende Attraktivität, noch kamen ihr keine Bekenntnisse über die Lippen, dass auch sie nur ein Mensch sei, denn unter den Ringen an ihren Fingern befand sich auch der mit dem offiziellen Siegel der Johannes-Universität. Im Hause änderte sie nur den Wandbehang hinter ihrem Schreibtisch, indem sie einen Teppich nach einem Entwurf von François Dubois aus dem Jahre 1810 mit der „Europe“ aufhängen ließ. Nur einmal veranlaßte sie einen tiefen Griff in die Schatulle der Universität, als sie Brancusis herrlichen kleinen „Kuß“ aus der Sammlung von Hester Diamond ersteigern ließ und in einem Anfall intellektualisierter Sehnsucht im Konferenzraum des Rektorats auf­stellte, während auf einem kleinen Beistelltisch die so lange vermißte vergol­dete Schreibmaschine stand, auf der Ian Fleming Casino Royale geschrieben hatte, daneben ein kleines rostiges Rechteck aus einer der überzähligen Platten der Ber­liner freiuniversitären Rostlaube, das sie lächelnd und vor hinreichendem Publi­kum vor wenigen Jahren anläßlich der Eröffnung der dortigen Geisteswissen­schaftlichen Bibliothek, den Berlin Brain, für 48 € erworben hatte. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht folgte sie dem Beispiel der Zarin Katharina II. und be­schäftigte in erster Linie als ihren Hofjuwelier Iver Winfeldt Buch, den sie aus St. Petersburg abwarb. Einmal, doch zu spät, wurde ihr bewußt, dass nomen est omen, und oft bereute sie, dass sie nicht wie Prinz Charles ein König George geworden war, um eine weitere Hinrichtung zu vermeiden, nicht die Schwere ihres Namens ertragen zu müssen.
Lange war sie eine würdige Protagonistin der Universität mit Frau Kim-Sebestyn als einer fast ebenbürtigen Deuteragonistin an ihrer Seite. Und es war dies die Zeit des Lebens, in der diese beiden Damen alle Menschen für sterblich hielten mit Ausnahme ihrer selbst. Nur einmal gab es, bevor jeder sich allein vom sinkenden Schiff zu retten suchte, eine kleine Mißstimmung zwischen den beiden bedeutend­sten Führerinnen der Universität. Um den Leseaufwand zu verringern, wenn wie­der ein excellence cluster von der Johannes-Universität beantragt werden sollte, hatte Frau Grebenstein verfügt, dass die curricula vitae der entscheidenden Prot­agonisten eine Seite nicht überschreiten dürften. Dagegen protestierte Frau Kim-Sebestyn, da auf diese Weise der Platz zur Nennung ihrer Meriten, ihrer zahllosen Aufenthalte im Ausland, nicht ausreiche.
In ihrer Antrittsrede, auf dem Höhepunkt ihrer akademischen Macht, griff Frau Grebenstein auf die deutsche Sportlersprache zurück, als sie erklärte: „Auch wenn man glaubt, ganz oben zu sein, muß man sich die Fähigkeit bewahren, sich Titanen gleich auf die eigenen Schultern zu stellen.“ Und doch war sie eine tüchtige Rek­torin in der dünnen einsamen Luft an der Spitze, die nicht nur bis kurz vor dem bitteren Ende eng mit Frau Kim-Sebestyn in einer Zweckehe zusammenarbeitete, sondern ihrerseits über die für das nach ihrem Amtsantritt notwendige Revirement und die nötigen Entlassungen in der Verwaltung brauchbaren Dossiers verfügte. Mit Fug und Recht konnte sie sich als Architektin des eigenen Sieges fühlen. Längst hatte sie die flüchtigen, oft ungeordneten Notizen Karls und die grünen Aktenordner Inez Jentners hinter sich gelassen, nutzte ausgefeilte Datenbanken und das Netzwerk, das sie mit ihrem Mentor Otto teilte. Jeder Schritt wurde ge­plant und funktonierte gut, solange ihre Welt in den konventionellen, berechen­baren Bahnen verlief. Doch hatten ihre Akten gefüllt mit Daten den Nachteil, dass sie allzu sehr der ausgefeilten Ordnung der ehemaligen Staatssicherheit ähnelten, in der in der Flut der Informationen selbst annähernde Wahrheiten verloren gin­gen. Randerwähnungen ihrer ungarischen Informanten bekamen den gleichen Stel­lenwert wie die Eintragungen im Kirchenbuch von Wicklow. Manoilescus Kind­heit in Jassy hatte einen schwachen Widerhall in einem Roman von den Ufern des Paraná gefunden. Und so verwirrten sich gegen Ende ihre Fäden immer mehr, weil sie nicht mehr fähig war, aus den immer umfangreicheren Konvoluten hilfreiche Urteile und Entscheidungen abzuleiten. Wenn der Informationen auch zu viele wa­ren, repräsentierte Frau Grebenstein nicht allein die Verwirrung des Ministeriums für Staatssicherheit, sondern sie war auch immer wieder in der Lage, den denun­ziatorischen westdeutschen Part der frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu übernehmen, wenn sie ungeliebten Bewerbern die wissenschaftliche Qualifika­tion mit überlegenem Habitus absprach oder eine zu große Nähe zu nicht gerade gängigen politischen Strömungen verspürte.
Als besonders aufwendig erwies sich ein Fall, als sie glaubte, in einem Frühdruck des Narrenschiffs auf den weißen und jungfräulichen Randzonen einen Blinddruck zu erkennen, der nicht gewohnheitsgemäß den mit Druckerschwärze gedruckten Text wiederholte, sondern ein Aufruf gegen die Johannes-Universität zu sein schien. Selbstverständlich hatte der ingeniöse van Groningen sie darauf aufmerk­sam gemacht, aber es kostete Monate und viel Arbeitskraft, diese arkane Weise eines öffentlichen Aufrufs zum Aufruhr als das zu entschlüsseln, was es war, näm­lich nichts als beste Druckertradition in einem zufälligen Text. Nicht nur Zeit kosteten Verdächtigungen gegenüber Kollegen, von denen sie annahm, dass sie sich mit Insiderwissen von der Johnnes-Universität wegbewerben wollten oder von denen sie vermutete, sie könnten Insiderwissen verkaufen. Hier waren abgesehen von ihrer psychischen Konditionierung die Wurzeln für das spätere Bunkerver­halten zu suchen. Sie vergaß unter der Last ihrer Aufgaben, dass es besser gewesen wäre, Vertrauen zu schenken als Kontrolle zu üben. Doch entsprach es auch ihrem von Geburt angelegten, doch in ihrer Tätigkeit immer stärker werdenden Mißtrau­en, so dass sie die Gründe für den Loyalitätsverlust ihrer Mitarbeiter und Kollegen nicht erkennen konnte.
Wie so viele neue Rektoren wollte auch sie ihre Duftmarken setzen, bestimmte nu­clei verdichten, andere zusammenfassen, neue schaffen, aus dem vollen schöpfen. Auch die Bauplanungen griff sie wieder auf, da sie bemerkt zu haben glaubte, es fehle der Johannes-Universität die Agora – nicht nur für Scherbengerichte, sondern als eigenes Denkmal. Da die Kassen der Johannes-Universität praller gefüllt waren als dies normal bei deutschen Universitäten der Fall war, sollte ihr die Umsetzung weiterer Unternehmungen eigentlich nicht zu schwer fallen, vor allen Dingen, da sie in Frau Kim-Sebestyn eine starke Bundesgenossin innerhalb der Universität hatte und zur Außenbegutachtung ihrer Pläne immer wieder Professor Otto heran­ziehen konnte, auch wenn ihre Beziehungen zur bloßen sich erinnernden Zunei­gung abgekühlt waren. Und doch eckte sie bei einer ganzen Reihe ihrer professo­ralen Kollegen, vor allem bei Sluggan, an, die Eingriffe in ihre jeweiligen Graf­schaften fürchteten. Aber wiederum gelang es ihr, diese Befürchtungen mit hinhal­tenden Briefen, die nicht die Fragen beantworteten, nicht auf die Beschwerden ein­gingen, auszusitzen. Und so schrieb sie: „Hinsichtlich der erwarteten Transparenz der Entscheidungen stimme ich Ihnen absolut zu. Dieses ist der Grund, warum ich bisher immer versucht habe, möglichst alle Personen zu den Runden einzuladen, die für die Gründung neuer oder die Veränderung bestehender nuclei in Betracht kommen. Denn es kommt sehr darauf an, dass Sie und alle interessierten Kollegen Ihre Interessen und Vorstellungen in dieses Gespräch einbringen, um die corporate identity unserer Alma mater zu stärken.“ Und wenn es ihr auf diese Weise nicht gelang, die Ruhe wiederherzustellen, griff sie zum Mittel der Desinformation, der halben Antworten und versandte nicht verlangte Unterlagen. So ermüdete sie even­tuelle Kontrahenten und potentielle Nörgler. Auch die nächsten vier Jahre wurden Gespräche geführt und Entscheidungen gefällt, die aus dem engen Kreis des Rek­torats und seiner Freunde hervorgingen.
Eine ihrer Großtaten zu Beginn ihrer Amtszeit als Rektorin war der von ihr ini­tiierte Einstieg der Universität in die Welt der weblogs, die eine solche Bedeutung bekamen, dass sie wichtiger wurden als jede persönliche politische Beraterin eines Präsidenten. Als zusätzliche Plattformen wurden MoveOn und Campact zuerst mit Hilfe von Bertelsmann, dann in alleiniger Regie übernommen und diskret kontrol­liert. Die Universität und ihre verantwortlichen Angehörigen dominierten die merkwürdigsten Verästelungen der Weltpolitik, teilweise gar unbewußt, wenn le­diglich ein kleiner Gewinn für die Johnnes-Universität intendiert war und dadurch dann ungewollt eine wirksame UNO-Resolution gegen den Sudan vereitelt wurde. Für weniger subtile Gemüter wurde mit Hilfe von Bertelsmann, aber längst von Frau Grebenstein bzw. ihren Delegierten inhaltlich kontrolliert, der internationale Sender Télé „Jé“ gegründet und betrieben, der bald CNN, Fox und CII bei weitem an Einfluß übertraf. Zum Schluß erstickte die Universität nicht an fehlender Macht oder fehlenden finanziellen Mitteln, sondern an der Unüberschaubarkeit ihres Ein­flusses.
Und doch war sie einsam und sehnte sich nach Dingen, von denen sie nicht genau wußte, was sie sein sollten. Gelegentlich war ihr die Zweckehe mit Frau Kim-Sebestyn nicht genug, manchmal war sie nicht hinreichend müde von der befriedi­genden Last des Tages und spürte dann eine unbefriedigende Leere. Sie griff zur Frankfurter Allgemeinen und las die Annoncen, die sie sonst nie las, las eine Annonce for elite marriages und wollte nicht nur den Erfolgsmeldungen, sondern auch der Selbstbeschreibung des einschlägigen Büros Glauben schenken: „A supreme class demands reliable protection of privacy – it’s so much more than discretion...“ Sie rang sich zu einer Anzeige durch: „In Westfalen Ihre Familie gründen in luxuriösem, herrschaftlichem Ambiente mit Traumfrau, Akademikerin. Eine hervorragende Gelegenheit für einen Akademiker, der der berufsbedingten Einsamkeit entkommen will! Sie ist vielsprachig, elegante, sportliche Mitte 40, 173, hat Freude an Natur, klassischer Musik, liebt Reisen & Welt-Entdecken & schätzt sehr exklusiven Lebensstil, feines social life & understatement...“ Sehr ängstlich öffnete sie die Angebote, die ihr über die Agentur übermittelt wurden, danach flüchtete sie zurück in ihre sie dennoch befriedigende Arbeit.

Eigentlich hätte Karl, der sich nicht mehr sehr für seinen schließlichen Bastard Gütersloh interessierte und stattdessen in die Schwere der Jugend zurückfand, zu den an der Wirklichkeit zerschellten Träumen, sich das Werk von 760 Seiten Die Geschichte der Herpetologie und Terrarienkunde im deutschsprachigen Raum. Rheinbach 2001, besorgen sollen. Es erscheint so anrührend komisch, einmal mehr als Möglichkeit, der Schlange nach dem Sündenfall – typische menschliche Schuldzuweisung – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wie es einst Hudson ver­suchte. Wahrscheinlich hat er es gelassen, als er bemerkte, wie lange er brauchte, ein leichtgewichtiges, aber ungemein sympathisches Buch wie das von Raymond Klibansky zu lesen. Ob er fürwahr der größte Philosoph des 20. Jhs. ist, wie ihn der Rezensent der FAZ nannte, sei dahingestellt, doch ist es anrührend und fast alles, was er sagt, erstrebenswert in einer vita activa.
Und in der abendlichen Lektüre gestern gelangte er auch bis zu S. 173 zur Com­tesse de Boufflers – ihren Briefwechsel sollte er doch noch wahrnehmen – und er hatte sie bis dahin nicht gekannt! –, der Sainte-Beuve die Worte in den Mund legte: „Ich gebe der Tugend mit Worten zurück, was ich ihr mit meinen Taten wegnehme.“ Eine schönere und ehrlichere Exkulpation hatte er noch nie gelesen, auch wenn sich aufgrund des Kontextes auch der Leib der Comtesse unterhalb der Taille in die Vorstellungen mengte und mit der Kindheitserinnerung aus dem im zerstörten Göttingen gesehenen Münchhausen-Film mischte, als sich Münchhau­sen unter den Reifröcken der Zarin Katharina verbarg, ein Bild, das bis heute bei ihm eine süße und sinnlose Sehnsucht nach Reifröcken wachgehalten hatte. Aber auch Katharina war eine andere, aber großartige Frau, die es liebte, Kohl zu spei­sen und zu furzen.
Zurück zum Suizid: Eine Situation herbeizuführen, in der man niemandem mehr weh tut, sondern jeder froh ist, dass ich verschwunden bin, weil man nicht vor Liebe sterben kann.

Es kann nicht sein, dass Mr. Calder-Marshall recht hat, wenn er bemerkt, dass Dickens der Versuchung des Pathos erlegen sei, als er Jipp in der Stunde des To­des seiner Herrin ebenfalls sterben ließ. Es ist die Konzentration vieler Ereignisse auf wenige handelnde Personen. Wie hätte er den Kummer Doras beschreiben müssen, wäre Jipp früher gestorben, wie die Komplikationen für David Copper­field, ihn gegen seine Natur einschläfern zu lassen, ihn gegen sein Bild auf den Armen zu tragen oder mit einem kleinen Fahrgestell zur Unterstützung der ge­lähmten Hinterläufe durch Highgate spazieren zu führen. Es wäre auch nicht dem Charakter dieses kleinen törichten verspielten Hundes gerecht geworden. Und: vie­le sterben zusammen.
Diese Welt gibt es nur noch in der Erinnerung des heimatlos gewordenen.
Karl wanderte viele Jahre später durch Wien, das er nie gekannt, weil er nur Ka­therine gesehen hatte. Auf der Speisekarte beim Plachutta in der Wollgasse gab es – was gibt es wunderbareres? – Kalbsbries, in Deutschland wegen BSE und ande­ren Ängsten kaum noch angeboten, und Kalbsleber, aber anstatt das eine kross pa­niert, das andere en nature zu servieren, war beides in einem weichen Bierteig versteckt, sollte wohl Ländlichkeit insinuieren. Das Rondell unter der Oper hatte sich zu einer unterirdischen Stadt entwickelt bis zum Karlsplatz hinüber. Das an einem heißen Frühsommertag, wieder in das blendende Licht, dann in die Prinz-Eugen-Straße. Im Schatten auf der Straße an einer langen Baustelle zwischen Trot­toir und Park entlang, hinüberkreuzend zur Belvederegasse vorbei an Häusern, die zwischen 1939 und 1945 zerstört und unter verschiedenen Bundeskanzlern zum größten Teil nach Karls Zeit in Wien häßlich wieder aufgebaut worden waren und schließlich in die Rainergasse zwischen neun und zehn am morgen, und im ver­wilderten Park öffnete eine grauhaarige schlanke Frau die Flügeltüren des Mittel­trakts. Gern hätte er zu ihr hinübergerufen und sie blickte aus der Ferne zurück als warte sie darauf. Als er sich abkehrte, spürte er die Stimmungen seines eigenen Gemüts, und über die scheinbare Wildnis legte sich die Poesie des Gemüses. Nur eine zufällige Ausstellung in der Albertina führte ihn in das noch ältere Wien Richard Gerstls zurück, das er dennoch zu erkennen glaubte.

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