Die neue Rektorin
Lange waren sich die Mitglieder des Gründungssenats
einschließlich Karls stillschweigend einig wie in seiner Zeit der westfälische
Adel, wie die Freiherren von Boeselager und Droste zu Vischering, welche
Vorteile eine Sedisvakanz doch für die eigenen Interessen habe, doch sollte und
mußte dieses Interesse hinter der ungemeinen Sorgfalt bei der Suche nach einer
nicht bloß geeigneten Persönlichkeit verschleiert werden.
Die Johannes-Universität Gütersloh hatte somit einen
privatrechtlichen Status, und ihr langfristiges und konzeptionelles Entscheidungsgremium
war der Aufsichtsrat, dem klassischen Akademischen Senat entsprechend und daher
auch weiter so genannt, in dem neben dem inneren nur scheinbar schwankenden,
aber umso machtsichereren Universitätszirkel, faktisch der entscheidende Teil
des Senats, nur theoretisch mit einer Sperrminorität ausgestattet, vor allem
die regionalen Wirtschaftskreise vertreten waren. Noch war Karl in seiner
universitären Funktion Mitglied, würde es aber vertragsgemäß bis zu seinem Tode
immer bleiben als Vorsitzender des ursprünglichen universitären Stiftungsvermögens
aus den Schenkungen der beiden Münchberg-Damen, doch konnte er nicht mehr wie
in der Gründungsphase die Macht seiner Rolle als Fondsverwalter einsetzen. Die
Fäden der notwendigen Kontrolle waren zu zahlreich geworden. Die Universität
war kein geschlossener Kosmos mehr, in dem eigene Gesetzmäßigkeiten geschaffen
und gewahrt werden konnten. Einzelne Bereiche waren allzu flügge geworden,
hatten eigene Netze gesponnen oder unerkannt mitgebracht.
Eher noch als der lax kontrollierte, aber immerhin
kontrollierte Staat konnte dieses Gremium eigene Entscheidungen durchsetzen.
Und so konnte es auch bei der Ausschreibung des Rektorpostens sich
ausschließlich an den Interessen der jungen aufblühenden Universität orientieren.
Demnach entschied man sich für folgenden Ausschreibungstext: „Von der
Bewerberin/dem Bewerber wird erwartet, dass sie/er während ihrer/seiner
vierjährigen Amtszeit (Wiederwahl ist möglich) die Ziele der
Universitätsgründung umsetzt. Sie/er ist allein dem Aufsichtsrat gegenüber
rechenschaftspflichtig.
Juristische Vorkenntnisse und praktische Erfahrungen in der
Führung sperriger Institutionen sind Voraussetzung.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen sind bis zum ... an
den Aufsichtsrat der Johannes-Universität Gütersloh, Postfach zu richten.“
Gemeint war damit, dass man an jemanden dachte mit großem
Durchsetzungsvermögen und möglichst unterentwickeltem Unrechtsbewußtsein, dem
an der Umsetzung von Vorgaben mehr lag als an der sogenannten akademischen
Freiheit.
War dies eine der juristisch unanfechtbaren
Ausschreibungen? Wohl ja. Es wurde im ersten Wahlgang Frau Grebenstein gewählt,
weil jeder die geballte Macht in ihrem Rücken spürte und sie es verstand, sich
niedlich zu verpacken, mit welchem Lampenfieber sie sich dieser Aufgabe stelle,
und dass sie immer für die Johannes-Universität kämpfen wolle, mit Kopf und mit
Bauch, mit ziemlich großem Herzen und ziemlich großem Verstand, laut und
manchmal auch leise. Intern wurde trotz der öffentlichen Ausschreibung keine Debatte
geführt. Mit viel Geschick leiteten Professor Otto und eine unheilige Allianz
den Führungswechsel ein. Man lenkte zunächst den Blick auf den großen Kreis der
Kandidaten. Kaum anders als bei der Wahl irgendeines Superwesens im deutschen
Fernsehen reduzierte sich die Zahl der Anwärter mit einem Lächeln bald auf
drei. Als drittletzter schied Professor Maxen Wledig aus, Politikwissenschaftler
mit einem Prätendentenbart, der seine Ansprüche angemeldet hatte, aber nicht
genügenden Rückhalt in den entscheidenden universitären Gremien hatte. Dann
blieben nur noch zwei übrig. Dies war der Augenblick, in dem Frau Hilpert als
Antagonistin, eine ältere Schwester der „Dame in Türkis“, schön wie nur eine
anziehende Italienerin vor der Kulisse niederländischer Alpen sein konnte, mit
einem Lächeln im Bewußtsein ihrer geringen Chancen das Handtuch warf, sich ohne
Option auf Wiederkehr auf ihren Bauernhof in der Nähe von Heide in Holstein
zurückzog, ohne dass jemand trotz Vermutungen, ihren Ehrgeiz je hatte
nachweisen können, nicht einmal ihr inzwischen langjähriger Lebensgefährte, dem
sie ebenfalls immer nur ihr Amüsement offenbarte.
Frau Grebenstein war immer noch oft gepflegt, doch trug sie
wegen ihrer nach ihrer Wahl zur Rektorin exorbitanten Arbeitsüberlastung nur
noch flache bequeme Schuhe, darüber im Büro Jeans, bei offiziellen Anlässen
einen Nadelstreifenanzug. Die Hosen betonten weiterhin ihre schlanken Beine und
verbargen nicht das sich verbreiternde Becken, wobei der Herrenschnitt eine
unfruchtbare Wüste zwischen Taille und Schritt entstehen ließ und jeden
möglichen Traum vereitelte. Noch jedoch überspielte ihre Bedeutung die
schwindende Attraktivität, noch kamen ihr keine Bekenntnisse über die Lippen, dass
auch sie nur ein Mensch sei, denn unter den Ringen an ihren Fingern befand sich
auch der mit dem offiziellen Siegel der Johannes-Universität. Im Hause änderte
sie nur den Wandbehang hinter ihrem Schreibtisch, indem sie einen Teppich nach
einem Entwurf von François Dubois aus dem Jahre 1810 mit der „Europe“ aufhängen
ließ. Nur einmal veranlaßte sie einen tiefen Griff in die Schatulle der
Universität, als sie Brancusis herrlichen kleinen „Kuß“ aus der Sammlung von
Hester Diamond ersteigern ließ und in einem Anfall intellektualisierter
Sehnsucht im Konferenzraum des Rektorats aufstellte, während auf einem kleinen
Beistelltisch die so lange vermißte vergoldete Schreibmaschine stand, auf der
Ian Fleming Casino Royale geschrieben
hatte, daneben ein kleines rostiges Rechteck aus einer der überzähligen Platten
der Berliner freiuniversitären Rostlaube, das sie lächelnd und vor
hinreichendem Publikum vor wenigen Jahren anläßlich der Eröffnung der dortigen
Geisteswissenschaftlichen Bibliothek, den Berlin Brain, für 48 € erworben
hatte. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht folgte sie dem Beispiel der Zarin
Katharina II. und beschäftigte in erster Linie als ihren Hofjuwelier Iver
Winfeldt Buch, den sie aus St. Petersburg abwarb. Einmal, doch zu spät, wurde
ihr bewußt, dass nomen est omen, und
oft bereute sie, dass sie nicht wie Prinz Charles ein König George geworden
war, um eine weitere Hinrichtung zu vermeiden, nicht die Schwere ihres Namens
ertragen zu müssen.
Lange war sie eine würdige Protagonistin der Universität
mit Frau Kim-Sebestyn als einer fast ebenbürtigen Deuteragonistin an ihrer
Seite. Und es war dies die Zeit des Lebens, in der diese beiden Damen alle
Menschen für sterblich hielten mit Ausnahme ihrer selbst. Nur einmal gab es,
bevor jeder sich allein vom sinkenden Schiff zu retten suchte, eine kleine
Mißstimmung zwischen den beiden bedeutendsten Führerinnen der Universität. Um
den Leseaufwand zu verringern, wenn wieder ein excellence cluster von der
Johannes-Universität beantragt werden sollte, hatte Frau Grebenstein verfügt, dass
die curricula vitae der
entscheidenden Protagonisten eine Seite nicht überschreiten dürften. Dagegen
protestierte Frau Kim-Sebestyn, da auf diese Weise der Platz zur Nennung ihrer
Meriten, ihrer zahllosen Aufenthalte im Ausland, nicht ausreiche.
In ihrer Antrittsrede, auf dem Höhepunkt ihrer akademischen
Macht, griff Frau Grebenstein auf die deutsche Sportlersprache zurück, als sie
erklärte: „Auch wenn man glaubt, ganz oben zu sein, muß man sich die Fähigkeit
bewahren, sich Titanen gleich auf die eigenen Schultern zu stellen.“ Und doch
war sie eine tüchtige Rektorin in der dünnen einsamen Luft an der Spitze, die
nicht nur bis kurz vor dem bitteren Ende eng mit Frau Kim-Sebestyn in einer
Zweckehe zusammenarbeitete, sondern ihrerseits über die für das nach ihrem
Amtsantritt notwendige Revirement und die nötigen Entlassungen in der Verwaltung
brauchbaren Dossiers verfügte. Mit Fug und Recht konnte sie sich als Architektin
des eigenen Sieges fühlen. Längst hatte sie die flüchtigen, oft ungeordneten
Notizen Karls und die grünen Aktenordner Inez Jentners hinter sich gelassen,
nutzte ausgefeilte Datenbanken und das Netzwerk, das sie mit ihrem Mentor Otto
teilte. Jeder Schritt wurde geplant und funktonierte gut, solange ihre Welt in
den konventionellen, berechenbaren Bahnen verlief. Doch hatten ihre Akten
gefüllt mit Daten den Nachteil, dass sie allzu sehr der ausgefeilten Ordnung
der ehemaligen Staatssicherheit ähnelten, in der in der Flut der Informationen
selbst annähernde Wahrheiten verloren gingen. Randerwähnungen ihrer
ungarischen Informanten bekamen den gleichen Stellenwert wie die Eintragungen
im Kirchenbuch von Wicklow. Manoilescus Kindheit in Jassy hatte einen
schwachen Widerhall in einem Roman von den Ufern des Paraná gefunden. Und so
verwirrten sich gegen Ende ihre Fäden immer mehr, weil sie nicht mehr fähig
war, aus den immer umfangreicheren Konvoluten hilfreiche Urteile und Entscheidungen
abzuleiten. Wenn der Informationen auch zu viele waren, repräsentierte Frau
Grebenstein nicht allein die Verwirrung des Ministeriums für Staatssicherheit,
sondern sie war auch immer wieder in der Lage, den denunziatorischen
westdeutschen Part der frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu
übernehmen, wenn sie ungeliebten Bewerbern die wissenschaftliche Qualifikation
mit überlegenem Habitus absprach oder eine zu große Nähe zu nicht gerade
gängigen politischen Strömungen verspürte.
Als besonders aufwendig erwies sich ein Fall, als sie glaubte,
in einem Frühdruck des Narrenschiffs
auf den weißen und jungfräulichen Randzonen einen Blinddruck zu erkennen, der
nicht gewohnheitsgemäß den mit Druckerschwärze gedruckten Text wiederholte, sondern
ein Aufruf gegen die Johannes-Universität zu sein schien. Selbstverständlich
hatte der ingeniöse van Groningen sie darauf aufmerksam gemacht, aber es
kostete Monate und viel Arbeitskraft, diese arkane Weise eines öffentlichen
Aufrufs zum Aufruhr als das zu entschlüsseln, was es war, nämlich nichts als
beste Druckertradition in einem zufälligen Text. Nicht nur Zeit kosteten
Verdächtigungen gegenüber Kollegen, von denen sie annahm, dass sie sich mit
Insiderwissen von der Johnnes-Universität wegbewerben wollten oder von denen
sie vermutete, sie könnten Insiderwissen verkaufen. Hier waren abgesehen von
ihrer psychischen Konditionierung die Wurzeln für das spätere Bunkerverhalten
zu suchen. Sie vergaß unter der Last ihrer Aufgaben, dass es besser gewesen
wäre, Vertrauen zu schenken als Kontrolle zu üben. Doch entsprach es auch ihrem
von Geburt angelegten, doch in ihrer Tätigkeit immer stärker werdenden Mißtrauen,
so dass sie die Gründe für den Loyalitätsverlust ihrer Mitarbeiter und Kollegen
nicht erkennen konnte.
Wie so viele neue Rektoren wollte
auch sie ihre Duftmarken setzen, bestimmte nuclei
verdichten, andere zusammenfassen, neue schaffen, aus dem vollen schöpfen. Auch
die Bauplanungen griff sie wieder auf, da sie bemerkt zu haben glaubte, es
fehle der Johannes-Universität die Agora – nicht nur für Scherbengerichte,
sondern als eigenes Denkmal. Da die Kassen der Johannes-Universität praller
gefüllt waren als dies normal bei deutschen Universitäten der Fall war, sollte
ihr die Umsetzung weiterer Unternehmungen eigentlich nicht zu schwer fallen,
vor allen Dingen, da sie in Frau Kim-Sebestyn eine starke Bundesgenossin
innerhalb der Universität hatte und zur Außenbegutachtung ihrer Pläne immer
wieder Professor Otto heranziehen konnte, auch wenn ihre Beziehungen zur bloßen
sich erinnernden Zuneigung abgekühlt waren. Und doch eckte sie bei einer
ganzen Reihe ihrer professoralen Kollegen, vor allem bei Sluggan, an, die
Eingriffe in ihre jeweiligen Grafschaften fürchteten. Aber wiederum gelang es
ihr, diese Befürchtungen mit hinhaltenden Briefen, die nicht die Fragen
beantworteten, nicht auf die Beschwerden eingingen, auszusitzen. Und so
schrieb sie: „Hinsichtlich der erwarteten Transparenz der Entscheidungen stimme
ich Ihnen absolut zu. Dieses ist der Grund, warum ich bisher immer versucht
habe, möglichst alle Personen zu den Runden einzuladen, die für die Gründung
neuer oder die Veränderung bestehender nuclei
in Betracht kommen. Denn es kommt sehr darauf an, dass Sie und alle
interessierten Kollegen Ihre Interessen und Vorstellungen in dieses Gespräch
einbringen, um die corporate identity unserer Alma mater zu stärken.“ Und wenn
es ihr auf diese Weise nicht gelang, die Ruhe wiederherzustellen, griff sie zum
Mittel der Desinformation, der halben Antworten und versandte nicht verlangte
Unterlagen. So ermüdete sie eventuelle Kontrahenten und potentielle Nörgler.
Auch die nächsten vier Jahre wurden Gespräche geführt und Entscheidungen
gefällt, die aus dem engen Kreis des Rektorats und seiner Freunde hervorgingen.
Eine ihrer Großtaten zu Beginn ihrer
Amtszeit als Rektorin war der von ihr initiierte Einstieg der Universität in
die Welt der weblogs, die eine solche Bedeutung bekamen, dass sie wichtiger
wurden als jede persönliche politische Beraterin eines Präsidenten. Als
zusätzliche Plattformen wurden MoveOn
und Campact zuerst mit Hilfe von
Bertelsmann, dann in alleiniger Regie übernommen und diskret kontrolliert. Die
Universität und ihre verantwortlichen Angehörigen dominierten die
merkwürdigsten Verästelungen der Weltpolitik, teilweise gar unbewußt, wenn lediglich
ein kleiner Gewinn für die Johnnes-Universität intendiert war und dadurch dann
ungewollt eine wirksame UNO-Resolution gegen den Sudan vereitelt wurde. Für
weniger subtile Gemüter wurde mit Hilfe von Bertelsmann, aber längst von Frau
Grebenstein bzw. ihren Delegierten inhaltlich kontrolliert, der internationale
Sender Télé „Jé“ gegründet und betrieben, der bald CNN, Fox und CII bei weitem
an Einfluß übertraf. Zum Schluß erstickte die Universität nicht an fehlender
Macht oder fehlenden finanziellen Mitteln, sondern an der Unüberschaubarkeit
ihres Einflusses.
Und doch war sie einsam und sehnte
sich nach Dingen, von denen sie nicht genau wußte, was sie sein sollten.
Gelegentlich war ihr die Zweckehe mit Frau Kim-Sebestyn nicht genug, manchmal
war sie nicht hinreichend müde von der befriedigenden Last des Tages und
spürte dann eine unbefriedigende Leere. Sie griff zur Frankfurter Allgemeinen und las die Annoncen, die sie sonst nie
las, las eine Annonce for elite marriages
und wollte nicht nur den Erfolgsmeldungen, sondern auch der Selbstbeschreibung
des einschlägigen Büros Glauben schenken: „A supreme class demands reliable
protection of privacy – it’s so much more than discretion...“ Sie rang sich zu
einer Anzeige durch: „In Westfalen Ihre Familie gründen in luxuriösem,
herrschaftlichem Ambiente mit Traumfrau, Akademikerin. Eine hervorragende
Gelegenheit für einen Akademiker, der der berufsbedingten Einsamkeit entkommen
will! Sie ist vielsprachig, elegante, sportliche Mitte 40, 173, hat Freude an
Natur, klassischer Musik, liebt Reisen & Welt-Entdecken & schätzt sehr
exklusiven Lebensstil, feines social life & understatement...“ Sehr
ängstlich öffnete sie die Angebote, die ihr über die Agentur übermittelt wurden,
danach flüchtete sie zurück in ihre sie dennoch befriedigende Arbeit.
Eigentlich
hätte Karl, der sich nicht mehr sehr für seinen schließlichen Bastard Gütersloh
interessierte und stattdessen in die Schwere der Jugend zurückfand, zu den an
der Wirklichkeit zerschellten Träumen, sich das Werk von 760 Seiten Die Geschichte der Herpetologie und
Terrarienkunde im deutschsprachigen Raum. Rheinbach 2001, besorgen sollen.
Es erscheint so anrührend komisch, einmal mehr als Möglichkeit, der Schlange
nach dem Sündenfall – typische menschliche Schuldzuweisung – Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, wie es einst Hudson versuchte. Wahrscheinlich hat er es
gelassen, als er bemerkte, wie lange er brauchte, ein leichtgewichtiges, aber
ungemein sympathisches Buch wie das von Raymond Klibansky zu lesen. Ob er
fürwahr der größte Philosoph des 20. Jhs. ist, wie ihn der Rezensent der FAZ
nannte, sei dahingestellt, doch ist es anrührend und fast alles, was er sagt, erstrebenswert
in einer vita activa.
Und
in der abendlichen Lektüre gestern gelangte er auch bis zu S. 173 zur Comtesse
de Boufflers – ihren Briefwechsel sollte er doch noch wahrnehmen – und er hatte
sie bis dahin nicht gekannt! –, der Sainte-Beuve die Worte in den Mund legte:
„Ich gebe der Tugend mit Worten zurück, was ich ihr mit meinen Taten wegnehme.“
Eine schönere und ehrlichere Exkulpation hatte er noch nie gelesen, auch wenn
sich aufgrund des Kontextes auch der Leib der Comtesse unterhalb der Taille in
die Vorstellungen mengte und mit der Kindheitserinnerung aus dem im zerstörten
Göttingen gesehenen Münchhausen-Film mischte, als sich Münchhausen unter den
Reifröcken der Zarin Katharina verbarg, ein Bild, das bis heute bei ihm eine
süße und sinnlose Sehnsucht nach Reifröcken wachgehalten hatte. Aber auch
Katharina war eine andere, aber großartige Frau, die es liebte, Kohl zu speisen
und zu furzen.
Zurück
zum Suizid: Eine Situation herbeizuführen, in der man niemandem mehr weh tut, sondern
jeder froh ist, dass ich verschwunden bin, weil man nicht vor Liebe sterben
kann.
Es kann nicht sein, dass
Mr. Calder-Marshall recht hat, wenn er bemerkt, dass Dickens der Versuchung des
Pathos erlegen sei, als er Jipp in der Stunde des Todes seiner Herrin
ebenfalls sterben ließ. Es ist die Konzentration vieler Ereignisse auf wenige
handelnde Personen. Wie hätte er den Kummer Doras beschreiben müssen, wäre Jipp
früher gestorben, wie die Komplikationen für David Copperfield, ihn gegen seine
Natur einschläfern zu lassen, ihn gegen sein Bild auf den Armen zu tragen oder
mit einem kleinen Fahrgestell zur Unterstützung der gelähmten Hinterläufe
durch Highgate spazieren zu führen. Es wäre auch nicht dem Charakter dieses
kleinen törichten verspielten Hundes gerecht geworden. Und: viele sterben
zusammen.
Diese Welt gibt es nur noch in der
Erinnerung des heimatlos gewordenen.
Karl wanderte viele Jahre später
durch Wien, das er nie gekannt, weil er nur Katherine gesehen hatte. Auf der
Speisekarte beim Plachutta in der Wollgasse gab es – was gibt es wunderbareres?
– Kalbsbries, in Deutschland wegen BSE und anderen Ängsten kaum noch
angeboten, und Kalbsleber, aber anstatt das eine kross paniert, das andere en nature zu servieren, war beides in
einem weichen Bierteig versteckt, sollte wohl Ländlichkeit insinuieren. Das
Rondell unter der Oper hatte sich zu einer unterirdischen Stadt entwickelt bis
zum Karlsplatz hinüber. Das an einem heißen Frühsommertag, wieder in das
blendende Licht, dann in die Prinz-Eugen-Straße. Im Schatten auf der Straße an
einer langen Baustelle zwischen Trottoir und Park entlang, hinüberkreuzend zur
Belvederegasse vorbei an Häusern, die zwischen 1939 und 1945 zerstört und unter
verschiedenen Bundeskanzlern zum größten Teil nach Karls Zeit in Wien häßlich
wieder aufgebaut worden waren und schließlich in die Rainergasse zwischen neun
und zehn am morgen, und im verwilderten Park öffnete eine grauhaarige schlanke
Frau die Flügeltüren des Mitteltrakts. Gern hätte er zu ihr hinübergerufen und
sie blickte aus der Ferne zurück als warte sie darauf. Als er sich abkehrte,
spürte er die Stimmungen seines eigenen Gemüts, und über die scheinbare Wildnis
legte sich die Poesie des Gemüses. Nur eine zufällige Ausstellung in der
Albertina führte ihn in das noch ältere Wien Richard Gerstls zurück, das er
dennoch zu erkennen glaubte.
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