The end
Ein erster studentischer Jahrgang war nach fünf Jahren in
laut formulierter Euphorie von allen Seiten mit ihren Titeln Bachelor of Art,
Bachelor of Science, als Master und als Doktor gar in die Welt entlassen
worden, um als Führungskräfte im Globaleinsatz tätig zu werden. Die Universität
hatte dafür zweckgebundene Sondermittel vom Bund erhalten. Das Bild anläßlich
der Verabschiedung aus der Universität ähnelte amerikanischen Collegefilmen
und -serien mit einem happy end, wenn die Paraphernalia der Academia in die
Luft geworfen wurden und die Haupt- und Nebenrollen reduziert auf ihre Öffentlichkeit
voneinander Abschied nahmen, um die Welt zu erobern – und sie neu verstehen
lernen mußten. Sie besetzten die Stellen in den Institutionen und Konglomeraten
und Kombinaten, die von der Johannes-Universität mit ihrem durch finanzielle
Potenz gewonnen Einfluß kontrolliert wurden oder zum Teil erst geschaffen worden
waren. Es waren die Besten und die Eingeweihten, die sich aus eben diesem
Grunde nur formalen Auswahlverfahren stellen mußten. Sie hatten mit ihren
Professoren und Professorinnen Gebilde geformt, die sie jetzt mit ihrem Leben
und für ihr Leben füllten. Sie hatten noch in der Aufbruchseuphorie
Widerstandskraft gezeigt und mit ihrer Weigerung, ihr Studium als Instrument
zum frühzeitigen Wechsel in das Berufsleben zu verstehen, den Erfolg fürwahr
beschworen.
Sie begründeten ihre elitäre Konstitution
mit einem Zitat des Lucian von Samosata, indem sie allerdings auf eine
Quellenangabe verzichteten: „Weder Löwen, noch Bären noch Eber lieben einen
anderen Mann ihrer Art. Sie werden in ihrer Lust nur zu den weiblichen Tieren
getrieben. Was ist daran
erstaunlich? Was wir kraft unseres Verstandes wählen, können Tiere wegen
ihrer Dummheit nicht erreichen. Hätte ihnen Prometheus ode rein anderer Gott
Verstand gegeben, lebten sie nicht in der Wüste oder im Wald und würden sich
gegenseitig verschlingen, Sondern wie wir würden sie Tempel errichten, in
Häusern am Herd leben und sich gemeinsamen Gesetzen unterwerfen. Durch die
Natur fehlen ihnen die Gaben, die man nur durch den Verstand erwirbt.“ Den Rest
unterschlugen sie: „Ist es da verwunderlich, dass in dadurch unter anderem die
männliche Liebe entgeht? Löwen lieben nicht einander, aber sie sind auch keine
Philosophen, Bären lieben nicht einander, aber sie können auch nicht die
Schönheit der Freundschaft verstehen.“ Und sie unterschlugen noch mehr.”
Diese Absolventen machten ihre
Erfahrungen, wie gut ein ungestörtes Einflußsystem funktioniert. Die besten
aus dieser Elite, Ergebnis der Hochleistungsoberstufe des alten Stiftischen
Gymnasiums, sollten die Fackel weitertragen und von ihren Professoren an diese
Aufgabe herangeführt werden. Immer weiter blühte die Gemeinschaft der Lehrenden
und Lernenden und in der Forschung war die Teilnahme aller Berechtigten, also
auch der Studenten gesichert. Es gelang für die eigenen Schüler, die beglaubigt
und gefördert in die Welt ihrer Lehrer entlassen wurden.
Nun war damit das Netz gesponnen –
und was tun mit der nächsten Generation zur Perpetuierung des Paradieses, das
die Gleichaltrigen anfingen altbacken zu finden, die jüngeren nicht mehr
suchten? Diese nun erfuhren den weiteren Weg beim Versuch, auf ähnliche Posten
zu gelangen oder sich wissenschaftlich weiter zu qualifizieren. Und dabei
merkten sie, dass sie exorbitanten Wissensvermittlern, denen das Wissen längst
ausgegangen war, ausgesetzt gewesen waren. Helenas Betreuer nahm Kapitel ihres
Dissertationsentwurfs mit auf eine Auslandsreise und ließ zwischen Weihnachten
und Ostern nichts von sich hören. In den nächsten fünf Jahren bekam Sylvia die
Gelegenheit, fünf oder sechs Mal mit ihrer Betreuerin kurz zu sprechen, die ihr
bei diesen Gelegenheiten sagte, dass sie auch ohne Betreuung gute Fortschritte
mache. Als Angela in einer ähnlichen Situation sich verlassen fühlte, durfte
sie sich telephonisch bei Frau Professor Grebenstein ausweinen. Jakob hatte den
Eindruck, dass die für sein Projekt eingeworbenen Drittmittel willkommen waren,
er jedoch so schnell wie möglich verschwinden solle. Thomas verstand
schließlich nicht mehr den Sinn einer Doktorarbeit, die von allen mit trivialer
Duldsamkeit gesehen wurde, während die Angehörigen des Instituts einander ihre
egos massierten, indem sie aufzählten und einander erzählten, in welchen
Stiftungen sie als Nutznießer oder Gutachter tätig waren. Es gab auch die umgekehrte
Erscheinung, so wenn Rebeckas Betreuer dauernd kritische Bemerkungen machte
und insinuierte, dass sie nur ihren Eltern zu Liebe die Promotion anstrebe. Und
je eifriger sie war, um so mehr Aufgaben wurden ihr aufgebürdet, so dass sie
schließlich jeden Kontakt mit ihrem Betreuer vermied. Susanne hatte sich noch
nicht einmal drei Monate mit ihrem Thema beschäftigt, als ihr bereits die
Zweifel ihres Betreuers an ihren Fähigkeiten zugetragen wurden. Angela wurde
durch immer neue Kritikpunkte aufgehalten, wurde aufgefordert, bestimmte Passagen
aus ihrer Arbeit herauszunehmen – die dann in publizierten Arbeiten ihres
Betreuers – wie, Sie lassen nicht forschen? – erschienen. Sie erfuhr auch, dass
ihre Betreuerin im Institut über sie Klatsch verbreitete, während ihr selbst
seltene zehn Minuten und im Vorübergehen ein „Hallo, Angela“, gewährt wurden.
Es schien als würden sie alle gedrillt, jede seltene Bereitschaft ihrer
Betreuerinnen und Betreuer als Akt der Gnade zu verstehen. Einige Betreuer wollten
Entwürfe sehen, andere auf keinen Fall, und so erinnerte das Verfahren von Tag
zu Tag mehr an Gefängnisreformen des späten 19. Jahrhunderts, als Häftlinge
dazu verurteilt wurden, den ganzen Tag eine funktionslose Kurbel zu drehen. Kathie
hatte das zunächst so erscheinende Glück, einen Betreuer zu finden, der ermutigend
und überaus positiv auf ihre Überlegungen reagierte. Als sie glaubte, auch
konstruktive Kritik einfordern zu dürfen, wurde die Frequenz der Treffen
erhöht, es kam zu Einladungen ins Restaurant und nach Hause und keineswegs zu
allgemeinen Partys, bei denen sie mit ihrem schwingenden Rock die Gläser vom
Tisch fegen konnte. Schließlich sah sie keinen anderen Ausweg mehr als das
Betreuungsverhältnis zu beenden. Und doch war er längst nicht so impertinent,
wie der in einer zweiten Berufungswelle an die Johannes-Universität gelangte
Friedrich Kunzel, der Sozialmanagement – die immer wiederkehrende Frage unter
den Kollegen war, was das sei – lehrte, ursprünglich aber katholische Theologie
hatte studieren wollen, bis ihn seine nicht zu sublimierenden Triebe in Gewissensqualen
stürzten und ihn veranlaßten, ihnen sündig und ständig nachzugeben und die
Loyalität seiner Kollegen und Kolleginnen für die Freiheit des fleischlichen
Geistes einzufordern.
Justus hatte mit Frau Kim-Sebestyn
eine inzwischen zur Weltautorität, zur Riesenmuse und Riesenmutter gewordene
Betreuerin, in der Präsentation von Kunst instrumentell-technisch hervorragend
wie Madonna, ein Kunstwesen, ohne pädophile Rätselkostüme und dennoch
verlockend, eine der Siegerinnen über die vaterrechtliche Gesellschaft, die
immer als Beraterin oder als Teilnehmerin an Talkshows unterwegs war und zu
Hause ihren Studenten als Blick in die Zukunft Praktika im Uniseum,
überwiegend bestückt mit ihren Leihgaben, aber eben auch mit spannenden Laboranordnungen
– wie hören Elefanten einander? – verschaffte, damit sie museumspraktische Kompetenzen
wie in Vitrinengestaltung und Museumsführungen erwarben und somit mit ihrer
höheren wissenschaftlichen Qualifikation Aufgaben erfüllen konnten, die entweder
schlecht bezahlt oder sehr viel besser ehrenamtlich wahrgenommen wurden.
Zunächst war sie sehr engagiert gewesen und hatte Justus lange Literaturlisten
zu seinem von ihr vorgeschlagenen Thema zu modernen Museumskonzeptionen in die
Hand gedrückt. Er sollte über das Ding an sich statt des Objekts seine Forschungen
durchführen, das Museum als Ort, an dem man mit dem Ding wie auf dem
germanischen Thing kommuniziere. Hierin war sie eine der wenigen Kunsthistoriker,
die die Anregungen des französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour
aufgegriffen und weiterverfolgt hatte, wie sie sich auch mit anderen
soziophilosophischen Entäußerungen auseinandergesetzt hatte, so mit dem von
Kamper en passant postulierten auditiven Zeitalter, in dem die Bilder sprechen
lernen müßten, um sich dem Beschauer mitzuteilen. Dann aber hatte sie nie Zeit
für ein Gespräch und verlor sogar die ersten drei Kapitel der Arbeit.
Natürlich waren dies die
jammerlappigen realitätsfernen Studenten, die nicht vergessen konnten, aber
auch nicht verstanden, die Situation für sich zu nützen oder zu erkennen, wie
sie das überwiegende Desinteresse zu ihren Gunsten als Bergsteigerhilfen
benutzen konnten. Selbst ging Frau Kim-Sebestyn bald neue Wege. Sie gehörte
nicht zu denen, die einen im Museum vergessenen Staubsauger für einen Jeff
Koons hielten. Bis sie nicht wußte, ob dieses Millionenobjekt tatsächlich zur
Sammlung des MOMA gehörte, beschränkte sie sich auf einen intelligenten Gesichtsausdruck
und wartete auf die Begeisterungsstürme ihrer Begleitung. Sie war bereits als
Kind mehr zufällig in eine frühe dadaistische Ausstellung der Nachweltkriegszeit
geraten und war durch Duchamps Schere in Plexiglas bereits damals für die
Schönheit funktionaler Formen – ob sie auch funktionierten? – sensibilisiert
worden. – Das war etwa zur gleichen Zeit gewesen, als sich Karl in die Bilder
Oskar Schlemmers verliebte. – So war sie eine engagierte Verfechterin des
Museums als Depositio und nicht als Ort der Expositio und klammerte sich zum
Beweise an die Aussagen der großen Künstler des 20. Jahrhunderts. Diese
Vorstellungen versuchte sie, auch in eine Gütersloher Museumslandschaft
umzusetzen, reagierte aber mit einem Tadel, wenn Kritik an der Hängung eines
der Form nach immer noch konventionellen Bildes laut wurde, weil sie nicht den
Intentionen des Künstlers entsprach: „Man kann einen Museumskomplex nicht
jedem Kunstwerk anpassen.“
Und doch: Justus wurde Opfer der
wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Betreuern und Prüfern,
was bedeutete, dass er zwischen beiden zerrieben wurde und ratlos wie in einem
Palindrom vor und zurücklief. Der eine hatte die frühen Publikationsaktivitäten
unterstützt, der andere hielt es für eine Invasion seiner Wissenschaftsdomäne.
Robert hatte sie das Thema gegeben,
„Wie Bilder lügen – der Betrug der Naturwissenschaften an der Realität“, er
sollte für sie die eingefärbten Photos aus dem Weltraum analysieren, und beide
gaben sich auf halbem Wege der Illusion hin, zur Diskrediditierung einer
modernen angemaßten Leitwissenschaft beigetragen zu haben. Zwar verfügte nach
einer gewissen Zeit die Kunstgeschichte über den größten Fundus
wissenschaftlicher Photographien in irgendeiner deutschen Institution, doch
wurde diese Arbeit nicht mehr vor dem Untergang Güterslohs abgeschlossen,
obwohl Robert unter den Jungen einer der Verbündeten der etablierten Moderne
blieb und eben diesen Untergang im fernen Houston, Texas überlebte und erst in
der Emigration wieder zu seiner Doktormutter stieß und wieder – Jahre später –
die Fackel der Aufklärung in die Berliner Humboldt-Universität hineintrug.
Petra hatte ihre Arbeit längst
abgegeben, und Professor Schneider gab sie ihr nach einem Jahr mit der
Bemerkung zurück, sie sei veraltet. Er schlug ein anderes Thema vor, er schlug
einen anderen Betreuer vor. Er empfahl Petra anderen Kollegen, lehnte sie
selber ab, machte die fünfzigste Wendung und drehte sich so lange bis er sich
überhaupt nicht mehr an Petra erinnern konnte. Immerhin war dies ein Grund für
das Rektorat unter Frau Professor Grebenstein, eine kollektive Promovierung
Petras durch den Nucleus Political Governance durchzusetzen und sie mit blendenden
Noten aus Gütersloh zu verabschieden. Dass sie in den Lehrkörper aufgenommen
wurde, konnte im letzten Moment durch andere Versprechungen abgewendet werden.
Stattdessen wurde sie, nachdem sie den Sperring um Gütersloh überwunden hatte,
Sachbearbeiterin im Bundeswissenschaftsministerium und so schließlich doch so
integriert, dass sie ihre ursprüngliche Unterschrift unter eine Resolution gegen
die Selbstbefriedigung der Dozenten zurückzog – ein kurzer Erfolg des noch
immer fortschrittlichen Establishments, das Vermeidungsstrategien aus dem eigenen
Machtkampf internalisiert hatte.
Ältere Studenten, die den Weg der
Weiterbildung gewählt hatten, hatten sich, ein gefördertes Selbstverständnis
unserer Gesellschaft seit mehreren Jahrzehnten, von ihren Familien aus einem
früheren Leben emanzipiert, hatten neue kongeniale Partner gefunden und, wie
Julia, dadurch die Verbindung zu ihren Kindern, Tim und Tina, verloren, die sie
nicht mehr erkennen wollten und sie bei immer seltener werdenden Begegnungen
nur noch schweigend anstarrten, bis beide Seiten schließlich erleichtert
auseinandergingen. Und so war die neue Lebensplanung Fluch und Gottesgeschenk.
Nichts davon war justiziabel und einklagbar wie amerikanische
Schadensersatzsummen.
Die Präsidialspitze der Johannes-Universität streute die
Erhebungen von Personalberatungsfirmen – so dass auch weitere Dienstleister
profitierten –, aus denen die Studenten erfuhren, dass sie als Geschäftsführer
oder zumindest leitende Angestellte zwischen 50.000 und 1 Mill. bzw. 30.000
und 500.000 € verdienen könnten. Sie verglich ihre Absolventen mit denen der
1898 gegründeten Handelshochschule Leipzig. Leipzig Graduate School of
Management. Dort erzielten mehr als die Hälfte der Absolventen Einstiegsjahresgehälter
von über 50.000 €. Dieses Ergebnis habe der erste Jahrgang der
Johannes-Universität um etliche Prozentpunkte übertroffen. Angenommen wurde ein
Reihe bis unendlich. Manchmal wurden auch in unserer modernen Zeit mit checks
und double-checks die entsprechenden Erhebungen verwechselt, wenn die
Jahresgehälter (Median) für Spezialisten und Manager verschiedener Branchen
zum Beweis für die eigene Effizienz vorgestellt wurden. Welche Stellen kamen
denn sonst für die Absolventen einer Eliteuniversität in Frage? Und die untere
Grenze wurde doch nur aus wissenschaftlichem Ethos heraus genannt. Stephan als
Biochemiker strebte die Promotion an und hatte etwa 18.000 € netto im Jahr zur
Verfügung, Charlotte hatte Business Management abgeschlossen und verdiente
danach etwas mehr als 30.000 €, Kathrin war Juristin und hatte eine Stellung
für etwa die gleiche Summe in Aussicht, Karoline ebenso und auch Danielle,
obwohl sie gar nicht abgeschlossen hatte, Joseph und Sarah waren bereit, fast
für jede Bezahlung eine nicht zu findende Arbeit als Raumfahrtphysiker respektive
Psychologin anzunehmen. Zu den regelhaften Gewinnern gehörte Andrea, die sich
in Usbekistan als Touristikchefin hatte verkaufen können und Einkünfte sowohl
vom usbekischen Staat als auch von internationalen Entwicklungsinstitutionen
bezog und überdies eine Gewinnbeteiligung vereinbart hatte, die denen in den
neuen Verträgen von Fußballstars in nichts nachstand. Es war nicht
verwunderlich, dass sie zu den tumultuario
primatum ductu contenti gehörte.
Zu den Gewinnern gehörten zunächst auch die Professoren, die
unter dem Deckmantel der Drittmitteleinwerbung Gebühren für die
Prüfungsbetreuung und sich zu Akademiemitgliedern erhoben. Hinzu kam die
versteckte Förderung nicht mehr der Tabakindustrie – diese hatte in Gestalt der
Fa. Reemtsma längst sinnentleert und nur mehr aus ästhetischen Gründen eine
kostbare Plakatsammlung gestiftet, darunter Lucian Bernhards Affiche für
Manoli-Zigaretten, Ludwig Hohlweins Empfehlung für Riquet-Tee, Xanti
Schawinskys erotisch aufgeladene Werbung für Olivetti, Jupp Wiertz‘ japonisierende
Empfehlung der Kaloderma-Seife, Ernst Kutzers für Günther Wagner mit schwarzer
Tusche herumklecksender Pelikan und Edmund Edels signifikanten Hinweis auf die
Berliner Automobil-Ausstellung von 1906, schließlich auch Arbeiten von Duchamp,
Cassandre und selbst Kokoschka und nicht zuletzt frühe Werbeplakate Gütersloher
Firmen, wie z.B. für die Fahrräder de Firma Miele um 1930, und parat zur
Belehrung des Beschauers stand ein vollständiger Satz der Zeitschrift Das Plakat in sieben Bänden und neunzehn
Heften im Regal –, sondern längst waren es Mittel der Bundesagentur für Arbeit,
mit der Forschungen zur günstiger werdenden Arbeitsmarktlage durchgeführt
wurden. Man griff auf die Aufrufe des Auswärtigen Amtes aus dem Jahre 1971 zurück:
„Der höhere Auswärtige Dienst braucht junge Beamte, die im In- und Ausland,
auch in tropischen Klimazonen und unter schwierigen Lebensbedingungen, zu
arbeiten bereit und imstande sind.“ Man zitierte dazu die Besoldungstabellen
der Gegenwart. Die Dozenten und Dozentinnen werteten ihre persönliche Hausse
zum Verständnis der Welt aus und erklärten ihre fortschrittliche Lehre. Sie
hatten erfahren, wie man sich als alerte Persönlichkeit von Job zu Job
hochhandeln konnte, als erfolgreicher Macher nicht mehr die Mobilität ihrer
Studenten einfordern und überdies zur Tugend erklären konnte. Die Ochsentour
von vielleicht zehn Jahren im selben Betrieb, um Vertrauen und spärlichen Lohn
zu gewinnen, das konnte doch nicht der Weg der von uns ausgebildeten Elite sein,
der man unter anderen und schlechteren Bedingungen nur achselzuckend erklären
konnte, dass einige universitäre und Faktoren der ökonomischen Praxis dem erprobten
wissenschaftlichen Ausbildungsmodell leider nicht gefolgt waren. Und weiter
verkauften sie den gesunden Menschenverstand als Innovation, wenn sie ihren
Studenten die fünf Gebote eines guten Managements vortrugen: 1. Erledige immer
nur eine Angelegenheit zu einer Zeit, 2. Erkenne das Problem, 3. Lerne zuzuhören,
4. Lerne zu fragen, und 5. Lerne, Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Damit
wurde die aus Herrschaftswissen gespeiste Transparenz gewonnen und vertreten.
Statt auf Überlegungen des 18. oder
19. Jahrhunderts griffen die Entscheidungsträger auf Listen der Zentralen
Arbeitsvermittlung aus dem Jahre 1971 zurück, die inzwischen von der
Bundesagentur und Job-agencies fortgeschrieben und mit zeitgenössischeren
Bezeichnungen versehen wurden. Die geistes- und sozialwissenschaftlichen
Fächer vermittelten angeblich immer noch Allgemeinbildung, aber eben nicht die
harten Fakten, die unmittelbar von jedem erkannt werden konnten. Man wählte
Obergruppen wie „Bildungswesen“, man mußte frühere Ober-, jetzt Untergruppen
eliminieren, weil es sie nicht mehr gab, wie z.B. die Pädagogischen Hochschulen.
Diese waren nach Überzeugung unserer Entscheidungsträger zurecht jetzt seit
Jahrzehnten mit den Universitäten zusammengefaßt worden. Dafür aber gab es die
Möglichkeit, sich an Fachhochschulen und Fachschulen zu profilieren. Im
weiteren Bildungswesen, den Volkshochschulen, den Schulen in privater Trägerschaft
und in den Goetheinstituten waren die Posten der Leiter und allenfalls auf der
nach unten nicht offenen Richterskala die Posten der Referenten für die
Absolventen offen. Und keineswegs zuletzt steht der Weg zur Selbstreproduktion
offen, indem man sich in die Bildungspolitik und –planung begibt, obwohl bis
heute das Didaktikdefizit – Didaktik ohne Inhalte – bei all denen beklagt wird,
die nicht planen. Die zweite Obergruppe ist das Dokumentationswesen von
Archiven über wissenschaftliche Bibliotheken bis hin zu öffentlichen Büchereien,
die dritte die mediale Kommunikation angefangen von den Verlagen und
Buchhandlungen über Presse, Rundfunk und Fernsehen, heute natürlich nicht nur
mit all den Möglichkeiten des e-learnings, sondern darüber hinaus mit der gesamten
Bandbreite der modernen digitalen Technik. Natürlich wird diese Obergruppe fein
ausdifferenziert, um die Bandbreite der Beschäftigungsmöglichkeiten zu
verdeutlichen. Du bist es selber schuld, wenn du nach all den guten Ratschlägen
keinen Erfolg hast. Obwohl es mit den anderen Obergruppen Überschneidungen gab,
folgt man dem Zeitgeist und schafft eine weitere, die „Eigeninitiative“, „Selbständige
Tätigkeiten“ genannt wird, zu denen PR-Tätigkeit ebenso gehört wie der
Einstieg in die Managerkaste, aber ebenso der Ein-Euro-Job und die doch heute
so beliebte Teilzeitarbeit, in Anlehnung an die guten alten Zeiten, wenn in
Francos Spanien für eine Person drei Jobs zur Verfügung standen, um den Tag zu
füllen. Spanien ist überall. Es gibt Arbeit. Die letzte Möglichkeit ist der
„Globale Markt“, der Einstieg in den deutschen diplomatischen Dienst, die
Arbeit in den NGOs und schließlich in der EU und in der UNO und deren
Unterorganisationen. Es ist beruhigend, dass die Welt sich doch nicht so
schnell ändert, sondern nur das Vokabular. Dies galt auch für den Versuch,
durch historische Analogien den Elan neu zu entfachen. Deutschland hätte nach
1989, so wie 1870, beginnen sollen, die Chancen der Vereinigung, die in beiden
Fällen eine Wiedervereinigung war, zu nutzen. So wie Deutschland 1865 weniger
Stahl produzierte als Frankreich, 1900 jedoch bereits mehr als England und
Frankreich zusammen, so hatten wir nach 1989 die Chance, die USA, Japan und
China mit unserem Innovationsschub zu düpieren.
Und schließlich wurden sie
vertröstet wie die Minderheiten im türkischen Fernsehen. Die bosnischen Türken
bekamen eine halbe Stunde, obwohl sie gar nichts brauchten, die Kurden mehr
Zeit, obwohl sie längst ihre Satellitenschüsseln auf die ganztägigen kurdischen
Sendungen aus dem Norden des Irak eingestellt hatten. Man wollte ihnen das
Etikett einer aggressiv unterwürfigen Menge anheften. Obwohl sie ausgebildet
waren, wurden die Absolventen weitergebildet. Es dauerte keine fünf weitere
Jahre mehr und die Massen der prospektiven Manager und Weltenlenker, die man
durch die Sozialwissenschaften geführt hatte, marschierten durch das Rote Meer
der Desillusionierung auf Gütersloh, Bremen, Witten-Herdecke, Koblenz, Berlin,
Oestrich-Winkel und andere Orte der Wissensgesellschaft, um der
Sprachverwirrung ein Ende zu bereiten und die versprochenen Stellen im
gehobenen Management einzufordern, während eine Mehrheit sich in vergeblichen
Boykotts versuchte, eine Minderheit auf den Uferwegen entlang Dalke und Ems im
Rausch versumpfte, einzelne sich neben der Universitätsbibliothek oder auf dem
Universitätssportplatz wahlweise verbrannten oder erschossen, namenlos alle,
weil morgen schon vergessen. Aber die Mehrheit marschierte wie Joseph, den seine
Brüder nach Ägypten verkauft hatten, gegen die Anweisungen, die jetzt leadership hießen, gegen die langen
bürokratischen Wege, die zu flachen und damit ebenso langsamen Hierarchien
geworden waren, gegen die Kommissionen, in denen management by discussion umgesetzt wurde. Karl erinnerte sich an
den Professor Brühl, der das Tempo charkterisiert hatte, mit dem im
Mittelalter soziale Hierarchien durchschritten wurden, in vier Generationen vom
Leibeigenen zum Hausmeier. Oder an das späte Mittelalter, als Handwerker zu
Ratsherren wurden. Die repressive Toleranz der Universitätsspitze hatte sich
bereits im Vorfeld unter dem Druck der erkennenden Unzufriedenheit in
unterschiedlichste Erlasse gleicher Intention verwandelt, z.B. „Flugblätter,
ausdrücklich benannte Streikziele etc. einzusammeln und an den Bereich „Changemanagement/Personal“
weiterzuleiten, die diese zur Neutralisierung an das „Contentmanagement“
übergaben. Insbesondere bei Pressekontakten ist die Weitergabe von
Informationen ausschließlich über den Geschäftsbereich „Unternehmenskommunikation“
sicherzustellen. In den jeweiligen Einrichtungen sollen Leitungskräfte
bestimmt werden, um die Studien- und Prüfungsverweigerung zu begleiten,
Einzelheiten schriftlich zu dokumentieren und diese an den Geschäftsbereich „Changemanagement“
weiterzuleiten.“
Justus erkannte in einem lichten
Augenblick, wie sehr auch das Gütersloher Universitätsmodell zur Entstehung
des kultivierten und intelligenten kongolesischen Stammes der Lele – allerdings
ohne Amusement – beitrug. Um die Erniedrigung der älteren Generation durch
Verlust der Macht zu vermeiden, waren dieser im Laufe der Zeit so viele Rechte
zugesprochen worden, die den klassischen Rechten der Vielweiberei und der
Verfügbarkeit über Grund und Boden so sehr entsprachen, dass die
Folgegenerationen zu Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit verurteilt waren.
Damit wurde die Balance zwischen den Generationen immer empfindlicher und
mußte bis zu einem bitteren Ende durch imer neue und komplexere Konventionen
stabilisiert werden.
Die armen törichten Protestierer
erkannten den neoliberalistischen Zug, der die Planwirtschaft über
Zielvereinbarungen und Controlling in die Universität hineingetragen hatte. Es
wurden zwischen der Universitätsleitung und den verschiedenen Untergliederungen
im Rahmen strategischer Fünfjahrespläne Zielvereinbarungen getroffen, die
bedeuteten, dass man innerhalb des Systems jährlich unten evaluierte und
jährlich nach oben rapportierte, wie weit die erreichten Resultate den
Zielvereinbarungen entsprachen. Mit vielen von ihnen hätte man sich nicht
verbünden wollen unter anderen Bedingungen, wenn die Resentiments von Jahrzehnten
hochquollen, von Bonzen und Spekulantentum gemurmelt, bürgerliche Spießigkeit
und Scheinmultikulturalität wie in Babylon an die Wand gezeichnet wurden. Dann
hätten manche, voran Angela, und wären sie mitmarschiert, auch Professor Mann
und Karl, den egoistischen – oder anders gesagt: sehr kreativen – Komödianten,
die sich in Gütersloh eingeschlossen hatten, den Vorzug gegeben vor der
selbstgerechten Wahrheit. Über Angela senkte sich eine noch größere Trauer. Sie
alle hatten die Erfahrung gemacht, dass der französische Protest „heute keine
Forschung!“ wirkungslos verpufft war, und so marschierten sie gegen jene, die
auf die entscheidenden Posten gesetzt worden waren, weil sie über die besseren
Netzwerke verfügten. Herr Krüger ist der bessere Wissenschaftler, aber Frau
Lahnberg hat die besseren Verbindungen, aus denen sich Geld, Ruhm, Bekanntheit
und langfristige Entwicklungen auch für dritte generieren lassen.
Sie hatten keinen Führer, der ihre
keineswegs zusammenhangslosen Ressentiments in Worte fassen mußte. Sie waren zu
desillusioniert, den Vorbildern aus Serbien, Georgien oder der Ukraine, Otpor oder Pora, zu folgen und mit ihren Körpern die Abfahrt gefährlicher
Busse zu verhindern. Sie waren sich viel zu wenig ihrer politischen Kraft
bewußt, untereinander unzufrieden, zerstritten, glücklich und unglücklich
verliebt, wurden in einer Liebesbeziehung verlassen und trugen damit wieder das
Leid der ganzen Welt in eben diese hinaus. Es fiel so vielen von ihnen
natürlich zu hierarchisieren, so dass sich immer neue Abhängigkeiten aufgebaut
hatten, Cliquen geschaffen und Abgrenzungen vorgenommen wurden, die zu allem
Überfluß auch noch im fast öffentlichen email-Verkehr dokumentiert wurden und
nicht mehr zurückgenommen werden konnten. Immer wieder brach die gemeinsame
Front auseinander, so dass schließlich nur die gemeinsame Katastrophe übrig
blieb
Umgekehrt war die Zahl der Profiteure
zu klein, um ihr imaginiertes Alexandria zu verteidigen. Aber sie, die nicht
dazugehörten, hatten als Führer die Neugierigen, die durch Forschungs- und Arbeitszeitgesetze
gezwungen worden waren, in die innere Emigration zu gehen, sie hatten die
Alten, deren Gehirne mit 65 Jahren zwangsweise abgeschaltet werden sollten. Sie
hatten als Gewissen Pierre Guby, der als einziger der alten Riege und nicht
senil ihre Desillusionierung teilte und dafür in Kauf nahm, von den sogenannten
Kollegen als Doppelspion entlarvt und verachtet zu werden, da es nicht um
Augenblicke der Wahrheit, sondern um den archetypischen Urzustand der Nibelungentreue
ging. Allerdings beteiligte er sich nicht aktiv, sondern saß aufmerksam
schweigend gelegentlich mit den jungen Leuten zusammen, eingesunken in die
Mitte eines alten durchgesessenen Sofas, während Angela und Lukas
spannungsgeladen und sprungbereit rechts und links von ihm auf der Kante
hockten und dabei sich selber vergaßen. Ein seltenes Mal zeigte er ihnen ihre
Zuneigung, wenn er ihnen anzüglich freundlich dafür dankte, dass er Teil ihres
clusters of excellence hatte sein dürfen, in der sicheren Überzeugung, dass
sie, obwohl jung, gelernt hatten und denken konnten – aber doch auch manchmal
ohne ihn sein müßten, um dann über sie hinwegstarrend resignierend zu sagen: Vellem litteras nescirem.
Die einzigen, die ihn später noch
verehrten, waren die Einwohner des Kirchspiels Isselhorst, wo er gern in der
ehemaligen Post, einem späteren Schuhgeschäft, das er als Bleibe übernahm,
gewohnt hatte, weil ihm die Etymologie des Namens Esels Horst und die klassische
Verbindung von Landwirtschaft und einfacher Textilindustrie so gut gefiel und
er sich nie mit der wahrscheinlicheren Erklärung Giselas Horst anfreunden
konnte. Sie errichteten ihm eine Art Hühnengrab mit zwei Bänken, um verdiente
Ruhe zu finden als wäre es sein Sesenheim und mit einer Inschrift „Zu gut für eine Welt von Mängel, eilst du ein
spät verklärter Engel, dem Himmel, deiner Heimat zu“. Auch einige seiner
Studenten versuchten in ihrer fiebrigen Trauer ihn dadurch zu ehren, dass sie
seine unveröffentlichte Autobiographie auf eigene Kosten veröffentlichten und
ihn der Lächerlichkeit derer preisgaben, die in Gubys Augen nie gezählt hatten,
weil sie aus Respekt und Verständnis nicht private Details entfernten, die
erste peinliche, jugendliche, ununterdrückbare Erektion beim Tanz mit einer doppelt
so alten Frau, den ersten unglückseligen Versuch in einem Bordell als étudiant en goguette. Aber ihm wären
diese Enthüllungen nicht peinlich gewesen, viel peinlicher die Zuneigung
seiner Studenten, die über ihn im Geleitwort schrieben: „Er verwandte
unglaublich viel Zeit und Kraft auf seine Studenten, gleichgültig, ob sie
Anfänger waren oder sich bereits für die weite Welt jenseits von Gütersloh
emanzipierten. Er verwandte eben solche Kraft auf die Inhalte, wenn er uns Studenten
die Bedeutung des Sprachenerwerbs nahebringen wollte mit solchen Bemerkungen
wie: ‚Ich habe eine Reise ins Ausland vor, allerdings nicht in die Sklaverei
nach Algier wie Hermann Winkelhannes, der polyglott nach siebzehn Jahren
zurückkehrte, aber seinen westfälischen Dialekt vergessen hatte und so nur noch
als Lektor für arabische Dialekte geeignet war, ich wünsche im Gegenteil, mit
den Eingeborenen zu verkehren und zu wissen, warum das Schiff, auf dem ich
fahre „Kongen af Assianthe“ heißt: dies kann ich nur, wenn ich ihrer Sprache
mächtig bin. Das sind die nächstliegenden Gesichtspunkte, wenn wir Lateinisch,
Griechisch und Hebräisch lernen.‘ Natürlich war er der Mentor, aber er war
auch unfreiwillig der große Bruder am anderen Ende des Telephons tagsüber und
nachts, wenn man ein wissenschaftliches Problem oder nur eine persönliche Krise
hatte. Er war immer aufrichtig, immer ehrlich in seiner Beurteilung, aber
dies hilfreich und konstruktiv. In seiner Güte brachte er nur Gutes in diese
Welt.“
Von Seiten der Universitätsspitze
floh man in den Chauvinismus der Schwäche und nannte diese Reaktionen fehlende
Solidarität. Seinen Kollegen hatte er, als er noch nicht resignierte,
schalkhafter als vor Jahren anläßlich der Gründungsfeierlichkeiten die
Bürgermeisterin von Gütersloh die Leviten gelesen: „Die Menschen haben jetzt,
was sie wollen, die größte Freiheit im Denken und Handeln. Nichts ist so
abgeschmackt, dass das Denken es nicht zu ergreifen, die Zunge es nicht auszusprechen
wagt, nichts so dreist, dass die Begehrlichkeit sich nicht daran zu machen, die
Hände es nicht in Angriff zu nehmen wagen.“
Zum ersten Geburtstag nach seinem
Tode versammelten sich noch einmal seine Freunde und Feinde. Der Balzan-Preis
war zu bedeutend als dass man sich einer solchen Ehrung ohne folgender übler
Nachrede hätte entziehen können. Seine Schüler erzählten liebevoll Anekdoten
über ihn, Frau Kim-Sebestyn als Vertreterin der Universität konstruierte seine
Bedeutung für diese, auf dass man einen Nachmittag lang daran glaube. Dazwischen
schoben sich vorgetragene Sentenzen aus seinen Werken und Skripten umrahmt von
musikalischer Begleitung durch einen sogar regional bekannten Baß-Bariton, der
vor lauter Expression gelegentlich sein Gesicht zu verlieren drohte, dem die
Augen aus dem Kopf zu fallen schienen und dessen Ringe an Zeigefinger und
Ringfinger der rechten Hand immer wieder sein kaum vorhandenes Bäuchlein
illuminierten. Der Nachmittag trödelte dahin gemischt mit Offenheit, Kalkül und
Vorbehalten, mit Schulterklopfen und Wiederbelebungsversuchen früherer
Kommunikationsfähigkeit. Einige waren noch einmal nach Gütersloh gereist für
einen Tag, von Montreal, Berlin oder Bonn, um am selben Tag noch die Rückreise
anzutreten.
Nicht von Guby initiiert, nur
unwissentlich angeregt, entstand in seinem Rücken die einzige studentische
Gruppe, die in der diffusen Protestbewegung so etwas wie ein eigenes Profil
hatte. Das waren die WOGs, die sich so nannten, weil ein anderer Säufer in Wiedenbrück
ihrem Palaver zugehört hatte und dann fragte, ob sie etwa die Tierärzte ohne
Grenzen seien. Sie waren ein loser Verbund und nur wenige wollten tatsächlich,
typisch für eine vorsichtige, desillusionierte Jugend, wirklich Farbe bekennen.
Diese vague Stimmung brachte schließlich auch nicht mehr als Georg Herweghs
viertägige Irr- und Wanderfahrt mit der Pariser deutsch-demokratischen Legion
in Deutschland und deren Ende durch die Württemberger bei Dossenbach zu Stande,
und es war anzunehmen, dass die Überlebenden in der Zukunft verbittert und ohne
Verständnis für die immer neuen realistischen Umsetzungen in einer neuen
Gesellschaft enden würden.
Angela, inzwischen mit Lukas liiert,
weil sie ein seltenes Mal Guby zwischen sich vergaßen und dann wieder so sehr
an ihn denken mußten, dass sie ihn miteinander teilen wollten, hatte in der
Frühzeit des Marsches einen Traum. Der Universitätscampus war ein riesiges
Schiff. Sie alle, auch Pierre Guby trugen Matrosenanzüge. Dann befahl Guby:
„Anker lichten! Leinen los!“ und das Schiff glitt davon. Am Rande von ground
zero stand die Rektorin Grebenstein und stöhnte: „Das ist irregulär!“, und die
restliche Belegschaft bildete den Chor: „Das ist irrrreguläääär!“ Man hatte
allen Soziologen geglaubt, dass die Jugend der Gegenwart leidensfähig sei,
nicht zur Revolution bereit. Am Ende hatten die Grebenstein und ihr Gefolge
kaum noch Gelegenheit, die Trauerkleidung abzulegen, zu groß war die Gemeinde
der jetzt betroffenen Profiteure. Alte Sitten und Rituale bekamen neue Lebendigkeit,
dass immer häufigere Influenzaepidemien immer wieder gedeckte Farben erforderten.
Oft traf sich dieser Kreis, wenn er
nicht artgerecht auf dem Mael-dun oder dem zu Ehren von Guby und seiner
Polyglottie sogenannten ton guedet hinter der Hünenburg zusammenkam, in der
erst kürzlich entstandenen Kneipe, dem Chez André, hinter dem Cinemax hinter
dem Bielefelder Hauptbahnhof. Diese war ein zwölf Meter langer und nur
zweieinhalb Meter breiter Schlauch, in dem man dicht gedrängt am Tresen stand.
Sie witzelten resigniert meist über sich selbst. Begeisterten sich auch über
Hitchcock-Filme, Kastrationsanspielungen oder ödipale Nuancen. Sie kannten die
Musikszene so gut, dass sie zu einem Insiderzirkel wurden, wenn Lukas Favoriten
aus der chinesischen, japanischen und selbst isländischen Popszene melodisch
kurz andeutete, mindestens Textfetzen kannte, die Lächerlichkeit entlarvten.
Von dort war es nicht mehr weit zu ad hoc Poesielesungen, fast Slams, jedoch
ohne Musik. Dazu liefen nur schweigend in einer Endlosschleife Kindheitsvideos
mit der schwatzhaften Sara Kuttner. Manchmal zog einer einen zerknitterten
Zettel aus den Jeans hervor. Seltener war das ein bloßes sprachliches
Experiment, das sich um die garstige Welt der Gegenwart nicht scherte, häufiger
war die akademische Politsatire bis hin zur Obszönität. Ein großer Erfolg waren
Anspielungen auf die euphorische Stimmung anläßlich der Universitätsgründung
vor Jahren, deren Reden in gedruckter Form vorlagen und in gewisser Weise vergleichbar
waren mit dem kleinen roten Buch des großen Vorsitzenden oder dem kleinen
grünen, das einmal die Trikots der Iserlohner Eishockeymannschaft geziert
hatte. Und die Begeisterung war groß, als Lukas vortrug: „Die Leptodeira
annulata gleitet über das Blatt, leise, gefährlich und nimmersatt. Die
Froschembryonen, sie spüren das und wollen sie belohnen, gleiten hinab in das
rettende Naß, zu früh, um danach noch lange zu leben, doch mit der Chance, noch
einmal einen zu heben.“ Oder sie luden alt und töricht gewordene Menschen zu
Vorträgen ein, so wie es Karl an einem späten und warmen Sommerabend geschah,
der aber nur in der Lage war, in Analogie zur gegenwärtigen Situation alte,
längst obsolet gewordene Probleme der Sprachverwirrung einmal mehr umzuwälzen:
„Überfordern wir nicht unsere nichtdeutschen oder nicht deutschstämmigen
Mitbürger? Zunächst folgen wir dem Muster abstiegsbedrohter Fußballvereine mit
der Forderung „Steht auf, wenn ihr aufrechte Borussen seid!“ Über Tage wurde
auch in der FAZ nach dem Mord an Theo van Gogh gefordert, die muslimische
Gemeinschaft im abendländischen, von christlicher Kultur geprägten Europa
solle aufstehen und beweisen, dass sie nicht zu Recht als Sympathiesumpf für
den grassierenden muslimischen, offensichtlich überwiegend arabischen,
Terrorismus angesehen werde. Dies scheint sogar für den Terrorismus
indonesischer Provenienz weitgehend zu stimmen. Wenn dies dann aber für
jemanden, der seit dem Ungarnaufstand von 1956 bis einschließlich heute nicht
mehr auf die Straße gegangen ist, recht eindrucksvoll wie jetzt in Köln
geschieht, zweifeln wir plötzlich und lauschen auf die unterschiedlichen Töne,
die verschiedene untereinander rivalisierende Organisationen der überwiegend
offensichtlich nicht organisierten Muslime, diese in Deutschland wieder ganz
überwiegend Türken oder türkischstämmig, von sich geben.
Erstens frage ich mich, ob wir
inzwischen nicht nur in einer aus mehreren kulturellen Strängen bestehenden
Gesellschaft mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen leben,
gleichgültig, ob wir sie als multikulturelle Gesellschaft oder als
Parallelgesellschaften wahrnehmen (siehe auch den erfreulichen Leitartikel von
Volker Zastrow in der FAZ vom 26. November 2004), nicht nur in einer Gesellschaft,
in der eine spürbare Minderheit die Verkehrssprache Deutsch etwa so beherrscht
wie Immigranten in der angelsächsischen Welt Englisch bzw. Amerikanisch – ich
erinnere mich an meine Bleibe in London in der Cathnor Road in Sheperds Bush
in den späten fünfziger Jahren, in der viele Bewohner, einschließlich der
Engländer, mit einem Wortschatz von maximal fünfhundert englischen Wörtern,
darunter ein unverhältnismäßig hoher Anteil liebenswerter ordinärer Füllwörter
aus dem Genitalbereich, und mit sympathischer Kleinkriminalität, z.B. mit dem
Vertrieb gestohlener Fernsehgeräte, in einer überwiegend harmonischen Symbiose
zusammenlebten. Und dennoch kam es kurz danach zu den Rassenunruhen im
benachbarten Notting Hill, heute in den Englischlehrbüchern unserer Schulen zum
Glück zum Karneval der Kulturen mutiert, während für Rassenunruhen heute wohl
eher andere Londoner Stadtteile oder die Städte in den Midlands zuständig sind
–, sondern auch wir als Deutsche scheinen entweder nicht mehr über hinreichende
deutsche Sprachbeherrschung zu verfügen oder geben uns, häßlicher
interpretiert, einer immer größer werdenden Doppelzüngigkeit hin. Vielleicht
denken nur böse Menschen, dass unsere Lichterketten, unsere spontanen Proteste
gegen Sozialabbau, gegen Hartz IV, gegen Rassendiskriminierung, gegen Neofaschismus,
gegen Atommülltransporte und für, für und für von interessierten und manchmal
betroffenen staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen
bestellt oder zumindest erwünscht sind. Das Schöne ist, dass, solange ich politisch
korrekt, oft auch zustimmend, schweige, ich nicht in einer Busladung zum Ort
des Geschehens gekarrt werde, sondern unbelästigt zu Hause bleiben kann. Sind
nachweislich Frauen an ihren Kopftüchern und Männer an ihren Schnurrbärten zur
Kölner Demonstration gezogen worden? Ich nehme an, die Mehrheit war in der
„Ditib“ organisiert und damit bereit, die formulierten Vorgaben ihrer
Organisation zu akzeptieren. Ist der Bericht über die Demonstration in Köln
überdies der richtige Ort, sich über die tatsächlich oder angenommen fehlenden
Deutschkenntnisse von Herrn Çakır auszulassen? Natürlich ist eine der wenigen
Segnungen, in der Diaspora leben zu wollen oder zu müssen, die mögliche Zweisprachigkeit,
also Schande über Herrn Çakır, aber der Moment erscheint mir doch für den
Gebrauch des Türkischen sehr geeignet.
Zweitens glaube ich sehr wohl, dass
man darüber streiten kann, ob die Türkei zu Europa gehört und zu dem
begründeten Ergebnis kommen kann, dass nicht, weil sie noch in osmanischer Zeit
bis auf Teile Thraziens ihre geographisch gesehen europäischen Gebiete
eingebüßt hat, weil sie andere historische Erfahrungen gemacht hat, dass man
diese Frage aber auch anders diskutieren kann, wenn man in der Europäischen
Union in erster Linie eine pragmatische Interessengemeinschaft im Sinne Franz
des Ersten sieht und nicht den Hort abendländischer Werte mit den Grausamkeiten
der Französischen Revolution – das Ergebnis heiligt die Mittel –, mit dem
europäischen Sklavenhandel, mit der in Kauf genommenen Hungersnot in Indien
1877/78, mit dem britischen Burenkrieg, dem Einsatz von Gas im Ersten
Weltkrieg, dem Bombenkrieg im Zweiten und dem deutschen Versuch der vollständigen
Ausrottung der Juden im Gegensatz zum armenischen Genozid oder der bis vor
kurzem praktizierten Kurdenpolitik oder einer immer noch bedenklichen Justiz.
Allerdings hat unser ehemaliger Staatssekretär des Ministeriums für Verteidigung
sicherlich nicht ohne Grund so schnell seiner Auslieferung von Frankreich nach
Deutschland zugestimmt, da Marion von Haaren uns inzwischen das Santé-Gefängnis
vorgestellt hat. Wir hören, sehen und lesen auch vom türkischen Strafvollzug.
Er kann uns in vielem kaum gefallen. Umgekehrt kritisieren wir Santa-Fu oder
sonstige laxe und darum folgenschwere Sicherheitsverwahrungen bei uns. Und
natürlich bin ich froh, dass nur Randbewohner unserer Wertegesellschaft
Guantanamo und Abu Ghraib zu verantworten haben – um so erschreckender, wenn
ein solches Verhalten mitten im Zentrum unserer Wertegesellschaft, in Coesfeld,
nachgespielt wird. Wie gut, dass wir Kenia, Malaya, Oman und andere Orte des
Geschehens vergessen haben. Wir haben Mitleid mit den Kurden und fordern...
was?, akzeptieren aber trotz mentaler Vorbehalte die zentralstaatliche spanische
Politik gegenüber den Basken, weil wir dort zumindest bereit sind, den
Standpunkt beider Seiten zu berücksichtigen und überdies mehrheitlich einen
Horror vor Kleinstaaterei pflegen (siehe Jugoslawien), wenn diese in unserem
Kulturkreis droht. Ich erinnere mich an die verbreitete Bewunderung für den
sozialistischen Internationalismus, der inzwischen wohl von den meisten, wie
immer zu spät und nach großem Leid, als großrussischer Imperialismus erkannt
worden ist. Überdies haben wir inzwischen auch „litauische“ Oligarchen
integriert – oder noch nicht? Natürlich kann man darüber streiten, ob die
Türkei zu Europa gehören soll. Ich wundere mich mehr darüber, dass die Türkei
selbst es will, ich fürchte – im Interesse der Türkei – aufgrund eines bei uns
ebenfalls gepflegten Pragmatismus, der die Realität nicht erkennt – oder doch
sinistre Pläne? –, aber vielleicht verständlich, wenn man, wie auch Israel,
seit Jahren als Europäer mit den Europäern Fußball spielen darf – die Schuld
unverantwortlicher Funktionäre.
Wir mögen amüsiert sein, wenn die
Türken, seit etwa achthundert Jahren in Kleinasien, sich auf die Hethiter oder
sogar auf die Sumerer berufen – siehe Sümer Bank und Eti Bank, vor allem aber
das archäologische Museum in Ankara, u.a. nicht mit dem von Alexander
durchtrennten gordischen Knoten, aber den denkbar schönsten gordischen Möbeln
–, gleichzeitig aber, zwar nicht in den Museen, in den Ruinenstädten und in
Iznik/Nicaea oder Istanbul/Konstantinopel, die hellenistische und
byzantinische Zeit, die sie schließlich erlebt haben, doch ziemlich
unterschlagen. Bis vor kurzem hat der türkische Staat auch seine osmanische Vergangenheit
weitgehend ausgeblendet, allenfalls überkritisch gewürdigt. Unterscheiden sie
sich darin so sehr von uns, die wir wichtige intellektuelle Wurzeln in Ionien
an der kleinasiatischen Küste finden, mit Xenophon irgendwo bei Trabzon/Trapezunt
endlich das Schwarze Meer sehen, uns inzwischen sogar auf ägyptische Wurzeln
besinnen, ganz zu schweigen vom im römischen Kolonialgebiet auf der Europa
gegenüberliegenden Seite des Mittelmeeres entstandenen Christentum. Genau wie
die Türken verdrängen wir in unserem Bewußtsein die Entwicklungen in der
Ostkirche und pflegen unsere west- und mitteleuropäische Synthese. Irgendwie
sind wir nicht konsequent: erst seit 1453 gehört Konstantinopel eigentlich zu
uns. Und dabei sollten wir identitätsstiftende Bemühungen ernst nehmen. Die
Geschichte und die Gesellschaft in ihr lebt und überlebt durch fleischgewordene
Fiktionen. Wir sind alle in Schuhe geschlüpft, die uns ursprünglich nicht
gehörten und haben so das wunderbare Konstrukt des Römischen Reiches deutscher
Nation gefunden.
Drittens frage ich mich, ob der
türkische Staat leisen Spott verdient, wenn er, wie ehrlich auch immer, aber
politisch lügen können auch wir, sich explizit dem Protest der
westeuropäischen Staaten gegen die Ermordung van Goghs anschließt und die
Türken oder türkischstämmigen Deutschen auffordert, diesen zu artikulieren. In
diesem Zusammenhang wird einmal mehr angenommen, dass der Beweis dafür, dass es
sich um eine bestellte oder gar angeordnete Demonstration handele, mit der
perfekten Organisation und mit gedruckten Plakaten erbracht werden kann. Ich
würde mich sehr wundern, wenn dies nicht – glücklicherweise – auch bei vielen
deutschen Demonstrationen der Fall wäre, normalerweise etwas, das nicht nur von
den Staatsorganen, sondern auch von der sogenannten bürgerlichen Presse zustimmend
zur Kenntnis genommen wird. Auch ich benutze gern die Wendung „orientalische
Übertreibung“, aber selten habe ich sie weniger passend gefunden. Ich kann mich
an keine Demonstration in Deutschland in den letzten vierzig bis fünfzig
Jahren erinnern, bei der die Zahlenangaben der Veranstalter und der Polizei
nicht genau in der beschriebenen Weise auseinanderklafften. Der Rausch der großen
Zahl scheint mir nicht unbedingt ein Indiz für orientalische Übertreibung zu
sein (siehe die Kriegsberichterstattung aller Zeiten und Länder). Zurück zur
Türkei: Es sieht so aus, als forderten wir immer wieder von ihr, sie habe sich
in einer uns akzeptablen Weise zu reorganisieren und zu verhalten. Wenn sie es
dann tut, bezweifeln wir ihre Aufrichtigkeit. Das erinnert sehr an die
amerikanische Politik vor dem Irakkrieg, Bedingungen zu stellen, ihre Erfüllung
anzuzweifeln und auf schrecklichste Weise „ätschbätsch“ zu sagen, nachdem sie
offensichtlich erfüllt waren. Insgesamt wird die „Ditib“ als verlängerter Arm
des türkischen Staates beschrieben, als vom Verfassungsschutz beobachtete
Organisation auch Milli Göruş, aber was ist das Islam-Archiv in Soest? Gefällt
allein der wissenschaftliche Anspruch, der in der Bezeichnung „Archiv“
behauptet wird, so dass darüber keine Informationen gegeben werden müssen?
Selim Abdullah hört sich nicht sehr westfälisch an. Wo liegt der Fehler der
Bundesregierung, wenn sie Kontakt zu einer türkisch-muslimischen Organisation
sucht, deren Ausrichtung für uns Uneingeweihte wenigstens zum großen Teil
verständlich ist? Ich halte unsere freie Demokratie für ein kostbares, daher
auch teures Gut. Damit müssen und werden wir hoffentlich trotz vielfacher
einschränkender Überlegungen weiterleben, aber das hat selbstverständlich zur
Folge, dass wir Leute wie Kaplan lange ertragen mußten oder unseren Anteil an
der in die Jahre gekommenen iranischen Revolution hatten, wenn in Paris oder
in Hamburg an der Außenalster dafür Pläne geschmiedet werden konnten und der
„Unwert“ unserer laissez faire-Gesellschaft von eben diesen Personen
festgestellt wurde. Ist es aber nicht das Recht und die Pflicht unseres
Staates, gesellschaftliche Entwicklungen zu beobachten und nach bestem Vermögen
zu bremsen, die nach unserem und allgemein heutigem Verständnis
undemokratische Ziele verfolgen, auch und gerade für ihre Heimatländer mit
späteren Folgen für uns? Würden wir auf deutschem Staatsgebiet z.B. eine militante
monarchistische französische Bewegung dulden? Oder konkreter: die ETA? Aber
irgendwie ist der Orient, der für mich als Kind bei Wien begann, eh suspekt.
Seine Machthaber sind bis ins innerste Mark autoritär, so dass jeder
Oppositionelle zunächst als positives und schützenswertes Gegengewicht gesehen
wird – unsere sympathische Zuneigung zur Opposition.
Ich bin auch der Überzeugung, dass
Rechtsstaatlichkeit eine absolute und unantastbare Voraussetzung ist, dass
Recht für jeden wahrnehmbar sein und eingefordert werden muß. Wie es im
einzelnen formuliert wird, könnte diskutiert werden, ist auch vom Wertewandel
etc. abhängig. Auch bei uns ist es noch nicht lange her, dass der Staat sich
strafrechtlich aus dem Intimbereich seiner Bürger zurückgezogen hat. Und
soweit ich weiß gibt es oder gab es zumindest in diesem Bereich keineswegs eine
Gleichzeitigkeit der Anpassung in den jetzt der EU angehörenden Staaten. Statt
„bestellt und geliefert“ zu schreiben, sollte man eher anerkennen, dass der
türkische Staat bereit ist, unseren Vorstellungen ein ganzes Stück Weges zu
folgen.
Das übrigens der türkische Staat
geneigt ist, auch die türkischstämmigen Deutschen als Türken zu sehen, dürfte
nicht nur dem Selbstverständnis der Betroffenen entsprechen, sondern sollte
auch den Ungarn mit ihrer Diaspora in der Slowakei, in Rumänien und in Serbien
und den Deutschen mit ihrem tiefverwurzelten ius sanguinis vertraut sein.
Statt laut nach Integration zu schreien und in den renitenten Türken hier eine
Fünfte Kolonne der Türkei zu sehen, sollten wir die Janusköpfigkeit vieler
Türken vielleicht als Chance begreifen: die Almancılar, von denen es viele in
der Türkei gibt, könnten dann bei einem etwas entkrampfteren Verhalten
unsererseits eine wirkungsvolle Avantgarde nicht des Christentums, aber einer
praktizierten Demokratie sein. Tragen wir doch einmal etwas Handfestes zum
Globalisierungsgerede bei, so wie die Dänen um 1900 die Butter nach Sibirien
brachten, besonders, da wir in unserem Verhältnis zur Türkei nicht mit dem
Odium einer Kolonialmacht belastet sind. Schaffen wir es doch, dass man von
Afra in Augsburg und Bavaria in Tipasa spricht.
Und viertens doch etwas zum Islam.
Er mag terroristische menschenverachtende Neigungen unterstützen, ich glaube
aber nicht, dass er dies in seiner Orthodoxie tut, allenfalls in seiner Praxis.
Sollte er doch einen großen Teil der Verantwortung tragen, dann befindet er
sich, wenig hilfreich, gegenwärtig in dem Entwicklungsstadium, in dem wir uns
von den Waldensern bis zum Dreißigjährigen Krieg befanden, also noch vor der
Aufklärung. Auffälliger scheint mir allerdings der Zusammenhang mit den
historischen Erfahrungen des größten Teils der muslimischen Ökumene und vor
allen Dingen der arabischen Welt. Zur Zeit von Ibn Khaldun wäre ich sicherlich
nicht ungern als Araber geboren worden, aber spätestens seit 1500 nicht mehr,
als erst für einige Jahrhunderte ihre früheren Sklaven ihre Herren wurden – in
Ägypten sogar schon früher –, dann vor allem die europäischen Mächte
Großbritannien und Frankreich, und heute die alles bestimmende Macht der USA
versucht, ihr Schicksal zu entscheiden, und das, obwohl sie doch einmal groß
und mächtig waren und nach ihrer festen Überzeugung – was ist denn sonst
geblieben? – die wahre Lehre zu ihnen, nicht zu irgendeinem anderen gekommen
war. Dies weckt, um nicht auf konkrete Beispiele einzugehen, ein Gefühl der
Ausweglosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe. Wir unterstützen, um die angebliche
Ordnung aufrecht zu erhalten, arabische Potentaten, wir beseitigen sie wie
Saddam Hussein, wenn sie aufmüpfig zu werden drohen, nachdem wir sie vorher
pfleglich behandelt haben. Wir haben seit vierzig Jahren jede Chance für eine
Lösung des Palästinenserproblems auch im Sinne der Palästinenser verstreichen
lassen in dem Glauben, damit unserer eigenen Verantwortung, oder doch Schuld
irgendwann und irgendwie ledig zu werden usw. usf. Und jetzt sind die nichtarabischen
muslimischen Altlasten des Russischen Reiches und der Sowietunion in
Zentralasien unter Einschluß des Nordkaukasus und Afghanistans dazugekommen, wo
wir wieder faktisch Partei ergreifen für unsere zugegebenermaßen entfernteren
Verwandten und gegen den Schwächeren und uns auf kostenlose humanitäre (kritische)
Bemerkungen und hinterher oft teure Hilfeleistungen beschränken. Hinzu werden
mit großer Sicherheit die früheren zentralasiatischen Sowjetrepubliken kommen
mit in erster Linie von den Russen zerstörten oder deformierten älteren
Strukturen. Und selbst China betreibt eine fast identische Politik in Xinjiang.
Wäre ich Araber oder auch nur Muslim in einer dieser
Regionen und nicht ganz so feige, wie ich von Natur aus bin, ich glaube, ich
würde auch keinen anderen Ausweg mehr sehen als in der Seele zu versteinern
oder mich nach Möglichkeit, abhängig von meinem IQ, der Minderheit der
Selbstbediener anschließen.
Vielleicht fällt es uns zu schwer, den bestmöglichen Rat an
alle jene zu geben, über die sich unsere moralische Empörung ergießt, sich am
besten nicht zu wehren, weil wir dann sehr bald das Interesse verlieren, am
besten Leuten wie Springer, Richard Desmond oder den Barclay Brüdern zu
erlauben, als Vertreter unserer kulturellen und zivilisatorischen Werte die
Kontrolle über die Medien zu übernehmen. Dann werden wir uns fügen und mit
gutem Gewissen leben.“
Dennoch blieben die Pläne, ihr Schiff auf Gütersloh zu
steuern, sehr diffus und wenn, dann nur noch mit zerstörerischem Ziel. Nur der
kleine, etwas dickliche Andreas mit der Andeutung eines Schnurrbarts über der
Oberlippe wäre doch immer noch gern zu den Lehrveranstaltungen der
Johannes-Universität gegangen, sprach von Scheinen, Klausuren Hausarbeiten mit
höchstens dreitausend Wörtern und zeigte sich immer wieder beunruhigt, was ihm
wohl in Zukunft und bei einem Wechsel an eine der ausgelaugten, aber weiterhin
existierenden staatlichen Universitäten anerkannt werden könne.
Von Gütersloh wurden diese Treffen
interpretiert als Konvergenzzentrum für alle Beschwerden gegen die moderne von
hier aus geschaffene Welt. Und Frau Professor Grebenstein, inzwischen
langjährige Rektorin der Universität, erklärte erst klar, dann immer mehr
stammelnd, ihr Unbewußtes hervorlallend, während die Welle über sie zusammenschlug,
es sei doch nur ein Kommunikationsproblem, es seien keine Fehler gemacht
worden, allenfalls könne man über den Verlust der numinosen Qualitäten des
Kommunizierens klagen, aber man könne über die Probleme sprechen, müsse es
gar, wie über die psychologische Bedeutung des Klanges von Hartz IV versus
Clement II vor einigen Jahren, dieses schreckliche Erlebnis einer demokratisch
gewählten Regierung, die von einem bloßen Eierhagel vom Sockel gestürzt wurde.
Sie hielt Reden und Ansprachen, in denen sie von der absoluten Vorreiterrolle
der Johannes-Universität im akademischen Gesellschaftssegment sprach, von der
wissenschaftspolitischen Kompetenz der Verantwortlichen mit ihr selbst an der
Spitze der Malltitjuhhd oder Mülltitüdö oder Mülltüte. Sie appellierte, ohne
sich ihres latenten Jewtuschenkoismus bewußt zu sein, an die in den Wäldern um
Gütersloh kampierenden Studenten: „Wir haben gemeinsam, dass wir angetrieben
durch die Differenz das Gemeinsame entdecken, das es erlaubt, miteinander in
Beziehung zu treten und gemeinsam zu handeln.“ Sie erklärte das Gütersloher
universitäre Modell als chancenorientierte Orientierung, in dem durch die
gegenseitige Erbringung von Leistungen eine signifikante Ablaufoptimierung
erreicht worden sei. Sie stolperte nicht über Buchstaben, sondern über ganze
Wörter. Sie entgleiste in religiöse Metaphern, wenn sie der
Johannes-Universität heilende Wirkung zusprach. Man habe von den Stirnen der
Dozenten mit Tüchern den Schweiß gewischt und sich mit diesen dann abgewischt. So
sei Fähigkeit und Leistung übertragen worden. Jetzt aber begegne man eben
dieser fast heiligen Institution mit Mißtrauen. Sie forderte den Runden Tisch
und erntete Unglauben, sie brachte kurzfristig einen Kreis zusammen, und alle
Teilnehmer behaupteten wenig später, man habe sie mißverstanden, oder ihre Forderungen
seien nicht erfüllt. Um sich Klarheit zu verschaffen, ließ sie in der allgemein
gewordenen sprachlichen Verwirrung für immense, aber immer noch verfügbare Summen
durch Personalberater individuelle Assessment Center durchführen, so dass sie
in einem nächsten Schritt den Protest der Studenten als Reglementierung der
freien Wissenschaften und als eine groß angelegte Säuberungswelle, als Einschüchterungsversuch
gegen den fortschrittlichen akademischen Geist, um die Demokratie und den
Fortschritt einzuschüchtern, zu verunsichern und von der Johannes-Universität
zu vertreiben, geißeln konnte. Sie ließ sich gerichtlich bestätigen, dass sie
sich eigentlich für die Interessen der Studierenden einsetze. Sie organisierte
Panels mit handverlesenen Gästen, die hinterher das gemeinsame Essen in einem
inzwischen überteuerten Gütersloh zahlten, unter der Regie unpolitischer
Talkshowmoderatoren, um zu beweisen, wo die Mehrheit stand.
Dunkelmänner, Hintermänner wollten
die Uniformierung der Universität. Studenten, ausgerechnet Studenten – sie
selbst waren einmal die Speerspitze des Fortschritts gewesen, waren sich
sicher gewesen, „aus den andersartigen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens
in China“ lernen und neue Lösungen ableiten zu können – versuchten
fortschrittliche Wege der Wissenschaft und Karriere zu boykottieren, wie einst
der Reichsjugendführer des Großgaus Arabien oder die Anführer studentischer
Rowdies in China. Als weitere Lösung versuchte sie, Selbstkritik zu üben. Sie
sei einer falschen political correctness erlegen, sei von falschen Führern
verführt und geblendet worden. Weder sie noch ihre Mitstreiter stürzten sich
jedoch in einen kollektiven Selbstmord wie die Indianer nach dem Blick auf
etwas Unbekanntes. Verständnislos erkannte sie bekannte Verhaltensweisen. Sie
agierte, als schaute die Welt immer noch auf Gütersloh und nicht längst auf
Clark County, Ohio. Sie konsultierte ihren mentalen Berater, den sie als
Managerin der Universität längst und trotz ihres medikamentalen Sammelsuriums
unter Vertrag genommen hatte und schrieb ihm. Darin wurde deutlich, wie sich
das Mißtrauen in den Reihen eingenistet hatte, Freund und Feind nicht mehr
unterschieden werden konnten. Sie beschrieb ihr Dasein in Gütersloh, als sei
sie auf der Flucht zusammen mit einer Gruppe von Menschen, die sie kannte,
aber unter diesen angespannten Bedingungen nicht mehr erkennen konnte. Frau
Kim-Sebestyn wurde zur Nutte erklärt, Herr Sluggan hatte sich mit dem
Tafelsilber davon gemacht. Die Studenten, zu denen sie immer ein gutes
Verhältnis gehabt zu haben glaubte, fielen ihr in den Rücken, verrieten sie an
die Feinde in der undurchschaubaren Welt vor den Toren der Stadt. Sie glaubte,
den kollektiven Irrsinn einer Revolution erkennen zu können, der sich bis zu
einem Bürgerkrieg auswachsen könne. So rief sie nach dem alt gewordenen
Professor Otto, der auch jetzt noch zum Instrument der Analyse griff und
erklärte, nie solle sie etwas so törichtes zugeben. Auch, dass die Wirtschaft,
die immer wieder den Eilmarsch durch die Ausbildung gefordert hatte, begann,
über den dramatischen Qualitätsverlust, der lange hinter schönen Begriffen
versteckt worden war, zu lamentieren und zwar nicht explizit – dazu war sie als
Mitsünderin zu sehr involviert –, aber doch eine Rückkehr zu früheren Ausbildungsgängen
forderte, dies sehr wohl meinte, wenn sie eine Verlängerung der Ausbildungszeiten
und eine partielle Abkehr vom allzu starken Praxisbezug hin zum Grundlagenwissen
forderte, all dies solle man nicht übermäßig beachten. Bei den studentischen
Aufrührern diagnostizierte Professor Otto, sie seien eben nicht mit vier Jahren
in die Schule gekommen, eine seiner liebsten Überzeugungen, für die er sogar
den Vorwurf in Kauf nahm, Menschen manipulieren zu wollen. Und das stimmte
auch, denn sie hatten Jahre gebraucht, um zu verstehen, was mit ihnen geschah.
Sie verstanden immer noch nicht. Die Eliteuniversität, die Johannes-Universität
in Gütersloh, war dort angekommen, wo die Politik und die großen nicht ganz so
desinteressierten Stiftungen mit genüßlichem Lachen und das Beharrungsvermögen
der ersten Netzwerkgeneration – trau keinem über dreißig, und wenn Du selbst
Dich dieser Altersgrenze näherst, setze sie hinauf – sie hingesteuert hatten:
Wir hatten Lebensplanungen geglaubt, die besagten, dass man als zwanzigjährige
Frau wahrscheinlich das hundertste Lebensjahr erreichen werde, das Interesse an
Musik, Kunst, Literatur oder Theater in den nächsten achtzig Jahren vertiefen
könne, um das eigene Leben kultiviert zu genießen. Sie könnte die Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts – vielleicht sogar des 22. Jahrhunderts – verstehen mit
Hilfe der umfassenden Ausbildung an der Johannes-Universität und dem ebenfalls
von dieser Universität begleitend zur Verfügung gestellten lebenslangen Lernen.
In drei Jahren werde man den ersten Universitätsabschluß erreichen, dann eine
Zeit lang arbeiten. Mit Mitte zwanzig oder knapp dreißig werde sich der Wunsch
nach zwei oder drei Kindern einstellen – ein Wunsch, der die Forderung der
deutschen Demographie befriedigt. Daraufhin werde die berufliche Tätigkeit befristet
auf Teilzeit umgestellt. Werden die Kinder selbständig sein, kehrt sie für
einen zweiten Abschluß zurück an unsere Universität, um danach ihren Beruf wieder
ganztägig und in einer höheren Position auszuüben oder sogar in einer ganz
anderen Tätigkeit Erfolg zu haben. Um die Ausfallzeiten für Ausbildung und
Kindererziehung auszugleichen wird sie gern bis siebzig voll arbeiten, danach
zehn weitere Jahre in Teilzeit. Dann aber, wenn sie mit achtzig in Rente geht,
hat sie noch zwei volle Jahrzehnte vor sich, in denen sie wahrscheinlich bei
guter Gesundheit ihren Leidenschaften – Musik, Kunst, Literatur oder Theater –
fröhnen kann oder die Zeit mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln genießt. Für
den männlichen Studenten sehen die Perspektiven ähnlich aus, wenn man nur fünf
Jahre abzieht. Die Irrationalität war die Wirklichkeit geworden. Die
Sozialutopien aus den Kinderbüchern Edith Nesbits hatten sich erfüllt.
Für die Merkwürdigkeiten des Systems
waren die ursprünglichen Macher nicht mehr verantwortlich. Im Gegenteil taten
sie so, als könnten sie nicht begreifen, dass jemand solcher Dummheiten fähig
gewesen sei. So schrieb Professor Otto noch einmal über von ihm initiierte oder
mitgetragene Studiengänge, dass sie endlich nur in die Bildungskatastrope
führen könnten.
Wir hatten eine Inhaltskultur
entworfen, die sich einer Überprüfung von außen entzog, aber tatsächlich waren
wir Wissenschaftsmanager mit Buchhalterallüren geworden, was wir im Innersten
unseres Herzens wohl auch von Anbeginn waren. Nachdem wir Elite-Studenten
gewesen waren, konnten wir die Notwendigkeit, Aushilfsjobs annehmen zu müssen,
wegen des outsourcings nach Indien emigrieren zu müssen, nicht begreifen, und
hatten nicht der Wahrheit geglaubt, dass die Welt weder flach noch rund,
sondern eine Pyramide sei. Wir hatten in Budapest und Gütersloh studiert und
den Masters erworben und Berufserfahrung in Kigoma und Genf gesammelt. Dabei
waren wir aber darüber getäuscht worden, dass die Welt größer war. Auch andere
Grundwahrheiten wurden nur geglaubt, wenn sie wie das Rad statt der dafür
notwendigen Zugtiere neu entdeckt aus hoch honoriertem Munde kamen, nämlich, dass
talentierte Studenten sich überall durchsetzen würden.
Mißverstanden wurde die Erkenntnis,
Elite müsse sich von unten entwickeln. Dies war eine Forderung auch der
Johannes-Universität gewesen. Jetzt fiel sie auf sie selbst zurück. Gelernt
wurde von den Geisteswissenschaften die Bedrohung der Zivilisation durch die
Technik, von den Naturwissenschaften die Unaufhaltsamkeit der Technik. Daraus
ergab sich die Schlußfolgerung der Hoffnungslosigkeit, und daraus entwickelte
sich der Haß auf die entmenschlichende, entindividualisierende Kontrolltechnik
durch die computerisierten Datensysteme, durch die statistischen Instrumente
der Politischen Wissenschaften und Verhaltenspsychologie. Wieder einmal war
1948 erreicht, und die Absolventen der Johannes-Universiät flohen zum kleineren
Teil in die scheinbare Einsamkeit, zum größeren versteckten sie sich in der
gegen ihre falschen Schöpfer marschierenden Masse im Teutoburger Wald, da sie
die therapeutische Wirkung des Aufstands nicht in heilsamen homöopathischen
Dosen erfahren hatten. Es fehlte ihnen der machtbewußte Doppelagent, der sie
erfolgreich hätte führen können, der aus eigener Kenntnis die desaströsen
Folgen ihnen hätte erklären können für die politische Freiheit in einer
Gesellschaft mit einer machtvergessenen Schicht. Es fehlte ihnen der Anführer,
der das Land vor ihnen erst einmal hügelte, erklärte und strategisch nutzte.
Sluggan versuchte sich in Analysen
der kulturpubertären Intellektualität der heutigen Jugendlichen und ihrer
Entwicklung zu Erwachsenenintellektualität, die er seiner eigenen Generation
zugestand. Und somit nahm er sich als Maß, die dritte Generation seit dem Ende
der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nach seinem Bilde zu messen. Er
konstatierte Mehltau aufwirbelnd entlang angeblich endloser empirischer Reihen
den törichten Verlust der Aufweichung repressiver Sexual- und Konsumverzichtsnormen,
die seine Generation herbeigeführt hatte, und die Rückkehr der Jugend zur
Selbsttäuschung über strukturelle Werte, die wiederum die Generation vor ihm
bereits verleugnet bzw. unglaubwürdig hatte werden lassen. Er beklagte in
seiner Studie, dass die jungen Erwachsenen den pädagogischen Wert der
audiovisuellen und elektronischen Medien nicht mehr selbstverständlich anerkannten,
und er ließ sich darüber aus, dass vor allem Männer das psychosoziale Moratorium
zwischen biologischer Geschlechtsreife und der sozialen Reife nicht mehr mit
hedonistischen Inhalten füllen konnten, während – was er nur in einer
vertraulichen Passage seines Berichts bemerkte – die Frauen in diesem
Lebenszeitabschnitt noch genetisch bedingt Nachholbedarf hatten. Sluggan holte
auch den Wettbewerb „Mondialogo“ in seiner Spätblüte noch einmal nach
Gütersloh, wobei seinem Naturell entsprechend der mondiale Dialog dem Wortklang
nach dem Monolog schließlich viel mehr entsprach, der Dialog nicht allein
durch die Paßgesetze der ganzen Welt, sondern zusätzlich durch die lokalen
Kontrollmechanismen in Gütersloh definiert wurde. Und so maß man sich mit Hilfe
des Kollegen Sluggan selbst und jammerte über die Untauglichkeit der nächsten
und übernächsten Generation, und man war ratlos, wie Hanne Riepel, der
Belesene. Man vergaß, dass man jetzt im postreproduktiven Alter war und den
eigenen Eltern das gelehrt hatte, was man nun von der lebenden Studentengeneration
erfuhr. Stattdessen veranstalteten die Verantwortlichen universitäre
Kinderfeste, mit denen, die noch übrig waren, um dem Aufruf „Sal a la calle y
baila!“ der Studenten etwas entgegenzusetzen. Auch Frau Grebenstein, die als
eine ihrer letzten wissenschaftlichen Arbeiten, nicht mehr selbst forschend,
ein klarsichtiges Buch zur Gleichzeitigkeitsfalle von Beruf und Familie
lanciert hatte, rätselte nur mehr über die Wahrheiten, für die sie hätte
einstehen können und verzweifelte daran, dass ihr internalisierter Liberalismus
nicht mehr akzeptiert wurde. Manchmal war sie dann so verwirrt, dass sie nicht
mehr wußte, ob sie ihre Briefe mit universitärem, deutschem oder sozialistischem
Gruß unterzeichnet hatte. Oder sie verfiel in historisierende Reden in Anlehnung
an Ginés Peréz de Hita, indem sie von den Studenten vor den Toren Güterslohs
als jenen sprach, die dahinschwinden werden, da ihre Existenz nichts anderes
sei als ein bereits allzu lange andauernder Kampf, widerrechtlich die Rechte
Güterslohs in Besitz zu nehmen.
Eine temporäre Lösung, die bis zu
einem hoffentlich glücklichen Ende wahren sollte, war die Errichtung einer
Bannmeile wie um das immer unfertige Berliner Regierungsviertel, da auch die
Chinesen begannen, dort ihre Filialregierung in Sichtweite zum Hauptquartier
der Christdemokraten zu errichten. Zu spät hatte man damit begonnen, den unwissenden
Testpersonen Neurochips zu implantieren. Dort, wo es gelang, entpuppten sich
diese als überaus störanfällig. Alles geschah so überstürzt, dass selbst die
deutsche Sprache verkürzt werden mußte und Frau Grebenstein ihre Anweisungen
mit dem Satz enden ließ, „Sist verbindlich.“ Und da es einmal unkorrigiert als
Makro in den PC gelangt war, wiederholte sich diese Formel immer wieder. Im
besten Falle konnte man Renegaten des Systems dadurch immobilisieren.
Gütersloh hatte unter dem Einfluß
der innovativen Bauten auf dem Universitätscampus im Verlauf von Dalke und Ems
den Charakter eines fast venezianischen Zoos erhalten, womit es sich gern
verglich, dabei das verträumte Fredriksund im Norden der Insel Seeland vergaß,
das in Größe und Bedeutung so viel angemessener war. Was blieb der Stadt auch
übrig, da ihr die Klippen von Ronda oder Cuenca fehlten. Nach der Bannmeile,
die sich nur bedingt tauglich zeigte, da das demokratische Verständnis, von der
demokratischen Elite wie Frau Jentner, Frau Grebenstein und Herrn Sluggan und
anderen beklagt, mit dem Klerikofaschismus Gubys und der Studenten erklärt und
gekennzeichnet, fast völlig degeneriert war, wurde ganz Gütersloh zur
gebührenpflichtigen Zone erklärt, als erste deutsche Stadt in Anlehnung an
London, Oslo oder Bergen, an die Versuchsreihen in Stockholm, nicht aber an
die Entscheidung der Stadt Trondheim, die Versuche, gebührenpflichtige Gettos
einzurichten, aufzugeben. Der Schutz wurde zum Gefängnis, die Furcht vor
Übergriffen zur Ehrfurcht vor der Schlagfertigkeit des Gegners. Man gab sich
nicht nur mit Überwachungskameras zufrieden, sondern bestellte einen der vielen
privaten Wachdienste, die sich insgesamt der securitas rühmten, sich high fidelity oder protective agency
nannten, obwohl ihre Chefs in der Regel bessere russische Sprachkenntnisse
hatten, die in der zweiten Generation, bei denen, die nun tatsächlich mit
deutschen Schäferhunden und einem unkontrollierten Waffenarsenal die tägliche
Arbeit machten, allerdings ein wenig versiegt waren. Die Akten ihrer Väter oder
ihre eigenen waren vor der Zeit vernichtet worden. Eine Überprüfung ergab
zudem, dass die Universität ihrer Sorgfaltspflicht genüge getan hatte.
Stationiert waren die Mitglieder des
Wachdienstes in einem Ring um Gütersloh an den Autobahnausfahrten im Süden der
Stadt, am nördlichen Stadtrand von Rheda und Wiedenbrück – besonders beliebt
als Standort wegen des Biers und städtischen Flairs –, in Herzebrock, wo man
den Posten im Betonwerk Eudur einrichtete, der alten Ziegelei Hagedorn, und in
Harsewinkel – um die Beschaulichkeit Marienfelds nicht zu stören –, in
Blankenhagen, Isselhorst, bereits auf Bielefelder Gebiet, Avenwedde,
Friedrichsdorf und schließlich Sürenheide. Außerhalb dieses Rings ging manche
Sehenswürdigkeit, manch geeigneter Konferenzort vorloren. Die Vereinbarungen
mit dem Fürsten von Bentheim über Schloß Rheda wurden vom Fürsten für Null und
Nichtig erklärt, ebenso von der Familie Henkelmann der Mietvertrag über das
Anwesen Haus Aussel in der Gemeinde Batenhorst unmittelbar südlich von
Wiedenbrück, welches mit seinen schmalen Eckbauten so ungemein geeignet gewesen
war für interdisziplinäres und exzellentes Forschen, wenn die Koryphäen der
Welt einmal mehr nach Gütersloh schnürten.
In der anfangs noch recht ruhigen
Zeit bewachten sie meist nur die Wachlokale. Bald kamen zu den zunächst zivilen
VW Polos gepanzerte Fahrzeuge hinzu und der Rat der Stadt Gütersloh bemühte
sich erfolgreich im Verein mit Land und Bund, dem Sicherheitsdienst hohheitliche
Aufgaben, das Recht der Verhaftung, das Recht zur Erhebung von Strafgebühren
und schließlich bis hin zur licence to
kill, zu übertragen. Der private Sicherheitsdienst, nie von den Verpflichtungen
zu rechtsstaatlichem Verhalten angekränkelt, konnte von den Erfahrungen
nationalsozialistischer, sozialistischer, amerikanischer, irakischer, türkischer,
der eigenen und globaler Gefangenenbetreuung profitieren, konnte die von Mendez
Pinto bis zu den Wachmannschaften in Abu Graib beschriebenen Foltermethoden
erproben, vor allen Dingen die Entwürdigung, indem die Verdächtigen gezwungen
wurden, sich vor weiblichem Verhörpersonal oder vice versa auszuziehen. Hinzu
kamen im Laufe der Zeit Betonsperren und Stacheldrahtzäune, die in
unübersichtlichem Gelände die Überwachung erleichtern sollten, manchmal wurde
die Begrenzung von den Scheinwerfern der Sicherheitsautos oder bereits
degenerierter Güterloher Mitbürger in Licht getaucht. Gebühren an den
Einfalltoren nach Gütersloh, die Teil der Einnahmen der Sicherheitskräfte
waren, wurden erhoben, ähnlich der mittelalterlichen Sitte, die Zolleinnahmen
an den einzelnen Stadttoren einzelnen Lehnsnehmern zuwies. Menschen, die es
nach Gütersloh verschlug, konnten es nicht wieder verlassen, bevor sie nicht
eine Aufenthaltserlaubnis erworben hatten. Diese war keineswegs unkompliziert
zu bekommen, und so entwickelte sich ein neuer Berufsstand, der des
Despachante, der die entsprechenden Kontakte in einem undurchschaubaren
bürokratischen Dickicht gegen entsprechende weitere Gebühren herstellte. Die
kleine Welt wurde zunehmend privatisiert, und im Laufe kurzer Zeit wurden die
Aufgaben, die der Sicherheitsdienst meist freiwillig übernahm, immer vielfältiger.
Schließlich wurden auch einige Namen seiner Angehörigen bekannt, wenn auch
meist nur die Familiennamen, so die von Tranfeld und Kayser, die im eigenen
Interesse immer mehr Bestimmungen ersannen und begannen, Binnenzölle auf die
allgemeinsten Waren, keineswegs nur auf CDs und PCs, sondern auch auf Jeans,
Socken und Honig zu erheben, was umgekehrt dazu führte, dass auf der anderen
Seite eine ingeniöse Schmugglermentalität erwachte, auf beiden Seiten eine
Kumpanei zwingend notwendiger Korruption.
Es gab Ausnahmen wie Frau Grebenstein
und Frau Kim-Sebestyn, die mit Privilegien und elektronischen Meßgeräten, die
von Toll-Collect zur Verfügung gestellt wurden, ausgestattet unmittelbar
unkontrolliert nach Gütersloh hinein und wieder hinaus konnten. Das führte zu
einer etwas anderen Wahrnehmung der Realität durch die Privilegierten, die sich
immer mehr dem Verhaltenstopos Marie-Antoinettes anverwandelten.
Unterdrückt wurde von allen
Beteiligten und Verantwortlichen das Wissen, dass man damit das Rechts- und
Gewaltmonopol des deutschen Staates aufgab. Immer wieder fand man anonyme
Blutspuren im Gras. Wie eigentlich jedes abnippelnde System wurden die
Kontrollen intensiver, unübersichtlicher und schließlich sinnlos. Die
Universität bzw. der Wachdienst waren berechtigt, Sichtvermerke in den Personalpapieren
anzubringen, die Ausfüllung der erstaunlichsten Fragebögen nach der Club-,
Religions- und Parteizugehörigkeit bis zu den Vornamen der Eltern und
Großeltern zu verlangen und durchzusetzen. Damit verlängerte sich der Weg nach
Gütersloh ganz erheblich. Hinauszukommen war etwas leichter. Diese Maßnahmen
betrafen vor allem die studentische internationale Gemeinde, während sich mit
den alteingesessenen Güterslohern sehr bald eine Art Vertraulichkeit, verbunden
mit einem bloßen Durchwinken und dem Zahlen einer Monatspauschale, entwickelte.
Manche Studenten aus Indien, aus den afrikanischen und arabischen Ländern oder
aus Bielefeld oder Osnabrück verbrachten ganz normal oft mehr als drei Stunden
in den Fängen eines der Kontrollposten, besonders, wenn diese, weil sie die
merkwürdigen Schriften nicht lesen konnten, die merkwürdigen Namensbestandteile
nicht zuordnen konnten, solche unbekannten Papiere bis zum Schluß aufbewahrten
und erst die Schmidts, Duponts und Browns mit Wohnberechtigung in Gütersloh
abfertigten. Und mancher Kontrollposten bohrte aus lauter Verlegenheit und
Nachdenken seine Nasenlöcher immer weiter auf, verharrte aber in der Anonymität,
seinen Namen wie in nicht so guten alten Zeiten und Systemen nicht preisgebend,
sondern nur als Organ handelnd.
Und so traf sich die universitäre
und Gütersloher Gesellschaft weiterhin mit einem Gefühl, alles Denkbare für die
Sicherheit getan zu haben, bei Billing und Gastwirt Schmale, tanzte Dancing Mathilda, den Tanz vor dem
Untergang, so dass die Lokken wirbelten wie scharfe Klingen und man sagen
konnte „der Weisen Kunst, des Narren Spiel, nichts hilft’s, es gilt dem Tod
gleich viel“. Man merkte nicht, dass die Barbaren vor ihrem Alexandria standen,
die Venezianer vor Konstantinopel und 250 Jahre danach die Osmanen, dass sich
die Dunkelheit über ihren sonnigen Freizeitpark gesenkt hatte und man selbst
in die Barbarei versank, weil man Gütersloh wie Pitcairn nur noch mit einem
Langboot erreichen konnte, dass der Allmächtige nicht mehr verzieh, weil man
nicht im Geheimen handeln konnte. An jedem klaren Gedanken und tiefen Gefühl
herrschte Mangel. Die Welt bestand aus Liebschaften und Affären. Nur wenige
entschlossen sich, sich an den Nachkommen des Auctions-Commissarie Wilhelm
Vogel, Friedrich Vogel, zu wenden, der in Anlehnung an seinen Vorfahren eine
Auswanderungsagentur eröffnet hatte, um die Willigen nach Bielefeld, Lemgo oder
gar bis nach Hannover zu schleusen.
Niemand merkte auch, dass Bannmeile
und bewaffneter Ring eine übliche, aber meist langsamere Entwicklung
beschleunigten. Nicht nur waren die Handys in China inzwischen moderner, war das
öffentliche Verkehrsnetz in der Türkei besser. Wie in den Airtrains zum JFK
Airport drehte sich die Haltestellenanzeige in den Zügen in einer
Endlosschleife, in der man nie von „Station C, Federal Circle“ loskam. Das Tor
zur Welt kostete inzwischen mehr als fünf Euro, auch wenn man es nicht
durchschreiten wollte. Die Spielmöglichkeiten der PCs wurden immer mehr
eingeschränkt, so dass man Namen nicht mehr finden konnte. Die Kosten
erreichten schwindelnde Höhen und wurden auf die Benutzer abgewälzt, die
schließlich nicht mehr für eine diskrete home
security zahlen konnten. Diese wurde in ihren Maßnahmen daher immer
brutaler und simpler.
Margret
Gent, eine der zuletzt noch berufenen Professorinnen für Rhetorik voller Angst
vor Spinnen und Gewürm, selbst wenn sie tot waren und sie doch nicht mehr nach
ihrer Mutter rufen konnte, um sie mit dem Besen wegzukehren, saß wie
versteinert verspätet gekommen am Rand eines Tisches mit einem Teil der Kollegen
und wartete. Der Abgrund zur folie circulaire rückte immer näher. Bevor sie von
ihrer Villa auf dem Universitätsgelände aufgebrochen war, hatte sie sich im
Spiegel geprüft. Ihre Frisur saß fest, ihr schwarz rot schräg gestreiftes enges
Kleid paßte genau und bedeckte ihren Körper bis knapp zum Knie. Eigentlich
hätte sie mit allen anderen in weißen Gewändern wie jungfräuliche Vestalinnen
kommen sollen, wie die betäubten Gespielinnen am Ende der Zeitreise – und das, obwohl
sie vor Jahren vergeblich in der Kirche mit einem Martin Kascher kopuliert worden
war und ihre Schőnheit nicht in Glück hatte verwandeln kőnnen. Stattdessen aber
folgten dann die sienafarbenen Strümpfe, absichtlich im Ton ein wenig zu dunkel,
und ihr Körper wuchs aus schwarzen hochhackigen Pumps empor. Sie konnte sich
zeigen mit ihren fünfzig Jahren plus, die ihr zur Last geworden waren. Sie brachte
noch einmal aus einem ganz persönlichen Bedürfnis den Pariser Chic in die grau
werdende Universität und Stadt. Jetzt aber spürte sie heimliche Blicke an ihrem
Bein entlang, und sie war sich bewußt, dass ihr Kleid etwas hochgerutscht war
und wahrscheinlich das Ende des Strumpfes und vielleicht etwas mehr zeigte. Die
Versteinerung ergab sich aus einer unglückseligen Freude, Aufmerksamkeit zu erregen,
Erregung zu verursachen. Daher durfte sie sich nicht bewegen, weil sonst der
Erfolg verschwinden würde. Und doch eignete sie sich nicht mehr als Geliebte,
wenn sie dies denn je wirklich getan hatte, da sie die Mehrheit ihrer
hinreichenden, aber kaum exzessiv zahlreichen Liebhaber in der Regel bis zum
Ende der kurzen Affaire gesiezt und behandelt hatte wie einen zufälligen Frühstücksgast,
den man bittet, die Zuckerdose herüberzureichen, nachdem der Coitus als
physische und angenehme Notwendigkeit vollbracht war, um sich nicht wie eine
läufige Katze am Tischbein zu reiben. Manchmal bedauerte sie ihre Zurückhaltung.
Kurz nach ihrer Berufung anlässlich eines Empfangs ihr zu Ehren hörte sie
zufällig in ein Gespräch zwischen Frau Kim-Sebestyn und ihrem Sohn hinein:
„Johann Berg? Er mag ihr Neffe sein. Er war der Geliebte meiner Mutter.“ Und
sie sah sich außerstande, gegen eine erfundene Wahrheit zu protestieren, weil
es eine der wenigen war, von denen sie auch heute noch träumte – vielleicht
einer der seltenen Gründe, ernsthaft an eine Wiedergeburt zu denken, um dann
alles anders zu machen. Sie hatte Johann Berg, zwanzig Jahre jünger als sie, als
Sohn einer Freundin gut gekannt, und genau das war das Problem gewesen.
Voneinander angezogen fühlten sich beide. Bei einem Tanz spürte sie seinen
erigierten Penis und würdigte ihn mit Gegendruck. Wissend, aber ohne eine
Übereinkunft und damit folgenlos trennten sie sich nach dem Tanz, auch wenn sie
immer mal wieder daran dachte, wie es wäre, fünfzehn Zentimeter von ihm in sich
zu spüren. Wenn sie sich dann aber in seiner ausschließlichen Anwesenheit
rücklings auf eine Couch warf oder bei Gelegenheit immer wieder über ihren
Schoß strich, reagierte wiederum er nicht, sondern nur mit Freundlich- und
Höflichkeit. War die Sehnsucht nach physischer Nähe aus der Ferne schmerzhaft,
so wurde es, wenn sie einander nahe waren, zu einer andauernden verspielten Zuneigung
und Freude, den anderen zu sehen. Es blieb eine Beziehung des Vielleicht,
vielleicht auch, weil man sich des anderen nicht wirklich sicher fühlte, eine
Zurückweisung fürchtete, die Scham gezeugt hätte. Und so wurden die Andeutungen
des anderen vom anderen klug nicht aufgegriffen, weil beide wussten, dass der Weg
zur Verführung von beiden Seiten sehr kurz war. Nie ging Margret so weit, beim
Abschied mit einer scheinbar flüchtigen Berührung schelmisch rhetorisch zu
fragen: „Was ist denn das?“ Wäre es zu mehr gekommen, hätte sie ihn gefragt,
ob sie für ihn zu schwer sei, wenn sie auf ihm lag, und er, ob sie bequem säße,
wenn sie ihn denn geritten hätte. Nie ließ er seinen ihr vorbehaltenen Handkuss
hinauf bis zu ihrer Schulter klettern. Eine Reihe von Jahren bestand dieses
unterschwellig erregende, aber immer vertrauensvolle Verhältnis. Nie aber
wurde sie seine Geliebte oder er ihr Geliebter, auch wenn amerikanische
Soziopsychologen herausgefunden hatten, dass kaum andere Verbindungen glücklicher
waren als die zwischen einer fünf Jahre älteren Frau und einem entsprechend jüngeren
Mann – dies hat etwas mit „inhibition“ zu tun. Im Kopf ihres Sohnes hatte sich
eine scheinbare Wirklichkeit festgesetzt, was nur als unerfüllter Wunsch und wahrscheinlicher
als Möglichkeit bestanden hatte.
Sie
waren gemeinsam hinaus aufs Land gefahren, hatten nebeneinander auf einer Wiese
am Hang der Burg Grenzau gelegen und den blauen Himmel genossen, das Wissen,
dass der andere da war ohne Berührung, obwohl ihre brüchige Haut schön war wie die
feinste Craquelé-Glasur. Er lag neben ihr und träumte von Wünschen, die frei
sind und bis zum letzten Jota erfüllt werden. Einer seiner Wünsche wäre
gewesen, mit seinem harten Glied in ihrer Scheide ruhend einzuschlafen und morgens
erfrischt in gleicher Stellung zu erwachen, um zu beider Befriedigung die
Angelegenheit zu Ende zu führen. Da er sich aber in juristischen Finessen und
im Kleingedruckten nicht auskannte, verzichtete er darauf, diesen Wunsch auszusprechen.
Ihre Lust versank in der Zärtlichkeit. So waren auch ihre Gespräche über Gott
und die Welt von hinreichend mittlerer Tiefe und unbefangener Spontaniität, in
denen die Skala Margrets von Ernsthaftigkeit bis Zynismus reichte, doch nie mit
Heiterkeit, wozu Johann gern und tatsächlich fähig war. Hätte man jedoch ein Lebensalter
später sein Gehirn darstellen wollen, hätte es ausgesehen wie eine der
Karikaturen, auf denen es aus nackten Frauenleibern zusammengesetzt ist, in dem
alle damals unerfüllten Wünsche unvollkommen vollendet wurden.
Dennoch
wünschte sie, sie wäre keine Spätgeborene, hätte einen Namen, der nicht schon
einer Blume gewidmet worden war, sondern sie sei die Hortensia Lepaute, die
Frau des Uhrmachers, nach der Commerson die Hortensie benannte. Sie träumte
sich in die Rolle ihrer Urgroßtante, von der in der Familie behauptet wurde,
sie sei in Riga als Marmorfigur aufgetreten bevor sie einen reichen russischen
Zobelhändler ergattert und zur Heirat veranlaßt hatte.
Als
sich dann schließlich die Gruppe auflöste, teilweise etwas besäuselt, alle aber
schweren Herzens in einsame Behausungen zurückkehrten, mußte Margret widerwillig
ihre Schlachtplatte und die zwei Biere bezahlen, die sie getrunken hatte. Mit
ihrer stärker werdenden Weitsichtigkeit konnte sie die verschiedenen Münzen
nicht mehr genau erkennen, mußte vielmehr die Kellnerin bitten, die richtigen
aus der Handfläche zu nehmen. Das bedeutete, dass sie die zu zahlende Summe von
11,90 auf 12 € aufrundete. Dabei fiel ihr ein, dass sie am nächsten Morgen Unregelmäßigkeiten
in ihren Bankauszügen in der Bank klären mußte Sie wanderte allein,
unglücklich und mit der Welt hadernd zu ihrem Zuhause zurück. Immer wieder kamen
ihr die Schuldigen in den Sinn, die verantwortlich dafür waren, dass sie jetzt
hier im Kessel von Gütersloh gelandet war, weit entfernt vom Meer, das sie doch
liebte und in konventionellen Gedichten mit seinen blauen Dünen gepriesen hatte.
Es war der Vater, vor dem sie geflohen war, weil er sie ihre Schönheit nicht zur
Schau stellen lassen wollte, es war der Mann, den sie allzu schnell gewählt hatte,
der ihr nicht die Bühne, ihre Schönheit zu zeigen, bereitet hatte, sondern ihr
zwei Kinder gezeugt hatte, mit denen er zusammen mit ihr in einem Reihenhaus
zwischen Emmerich und Leverkusen hatte wohnen wollen. Und so war sie in die
Selbstdarstellung geflohen, hatte scheinbar Erfolg gehabt. Doch empfand sie Gütersloh
als Provinz, anders als die Schlösser in Belgien, die Palais in und um Bukarest,
in denen sie kurz als Geliebte, das Wissen darum verdrängend, auftreten durfte.
Die Entwicklungsfähigkeit hatte ein frühzeitiges Ende gefunden, und würde sie
im Hause ankommen, würde sie sich mit einer etwas zu großen Schlaftablettenmenge
betäuben. Der nächste Tag würde sehr ähnlich verlaufen, sie würde ihre in einem
Doppelleben anregende Lehrveranstaltung abhalten und sich wieder ins Vergessen
flüchten, weil ihr eigenes Leben und das Schicksal Güterslohs zu einer
merkwürdigen Einheit verschmolzen waren. Sie würde zum hundertsten Mal vergessen,
die Tochter anzurufen, die nur teilweise ihre Schönheit geerbt hatte, ihr
entwachsen war und sich über die Mutter nicht mehr den Kopf zerbrach als dass
sie immer wieder aus allzu großem ungenauem Liebesverlangen heraus scheiternde
Beziehungen erkannte und sich nicht mehr die Mühe machte, diese in irgendeiner
genaueren Weise zu verstehen.
An
diesem Abend erreichte sie ihr Haus nicht mehr. Da sie erst so spät zur Johannes-Universität
gestoßen war, hatte die Universitätsleitung, d.h. hatten Frau Grebenstein und
Rusedski für sie einen Personenschutz nicht für nötig erachtet, hatten gedacht,
Pestrillen in die weiche Wand der Plastikkirche zu kratzen, sei Vorsorge genug.
Sie wurde nach zwei Tagen, nachdem sie zweimal ihre Lehrveranstaltungen hatte
ausfallen lassen, zuerst vermißt, dann aber nicht vergewaltigt, jedoch
erstochen und halb verscharrt hinter der langsam wieder in sich zusammensinkenden
evangelischen Kirche gefunden, weil einer der ersten Wölfe bei seiner Rückkehr
in den Teutoburger Wald wie seinerzeit beim Leichnam des Heiligen Edmund „hier“
gerufen hatte, ein erstes und törichtes, wenn auch numinoses Opfer des
Lehrkörpers, das alle Verdrängungsmechanismen bei den Überlebenden freisetzte.
Aufgeklärt wurde dieser Mord nicht mehr vor dem allgemeinen Ende. Am
verdächtigsten machte sich einige Zeit Sluggan, da man die Logistik der
außerhalb der Bannmeile wartenden Studenten nicht für ausreichend hielt, einen
Schlag unmittelbar im Lager des erklärten Feindes durchzuführen, Sluggan aber
offen gezeigt hatte, dass er in Margret eine gefährliche, wenn auch
überschätzte Konkurrentin sah. Gelegentlich neigte er überdies wie mancher
universelle Pazifist zu persönlicher Gewalt, liebte es, wirrwarrisch Drohungen
auszustoßen, war aber so sehr Teil des Universitätsestablishments, dass die
gesamte Prominenz bereit war, sich schützend vor ihn zu stellen. Schließlich
wurde es zum Selbstmord erklärt in Anlehnung an einen berühmten Fall aus dem
Jahre 1696, als Karin Erichstochter mit durchschnittener Kehle aufgefunden
wurde und das Gericht auf Selbstmord entschied, obwohl sie vor ihrem Ableben
noch etwas von einem schwarzen Mann röchelte, der ihr dies angetan habe.
Van
Groningen, der immer mehr Vorzeichen zu erkennen glaubte und sich nach einer
Heilsbotschaft sehnte, nahm die scheinbare Rede des Wolfes zum Anlaß, auf die
Heilige Margaretha von Antiochia hinzuweisen, sah den Drachen und Teufel, und
wollte dennoch die Sicherheit spüren, die Heiligkeit gewähren konnte, die den
Bauch des Drachen sprengte. Später sprach er in seiner stupenden eruditio von
der epizykloidalen Bewegung, die auf die Johannes-Universität übergegriffen
habe. Dagegen verfaßte Frau Grebenstein einen klarsichtigen Nachruf, der
Margret sehr wohl gerecht wurde, aber gleichzeitig auch ein Nachruf auf die
Johannes-Universität bedeutete: „So war Margret nicht. Wenn die Mehrheit
unserer Dozenten inzwischen mechanisch und uninspiriert lehrt, das konnte man von
Margret nicht sagen. In die Themen, die sie behandelte, strömte ihre intellektuelle
Leidenschaft mit ein, sie gestaltete ihren Unterricht schöpferisch und experimentierte
mit neuen didaktischen Methoden. Für sie gehörten noch Lehre und Forschung
zusammen und damit die Entdeckung neuer Wahrheiten. In ihrer Lehre verfiel sie
nie in die allgemein verbreitete Stimmung von Gleichgültigkeit und Zynismus.
Sie war eine der wenigen, die nicht dazu beigetragen hat, den Geist intellektueller
Neugier und Abenteuerlust zu ersticken.“Sie verschwieg allerdings Margrets
Zitat von Benjamin Constant, das sie als Diagnose der in Gütersloh bestehenden
Situation ansah, „Einladungen ohne Herzlichkeit, Neugier ohne wirkliches
Interesse, große Empfänge, aber keine Konversation. Noch schmerzhafter als
Langeweile jedoch ist, dass alle einander feindlich begegnen“. Sie verschwieg
auch den tödlichen Messerstich, nachdem es ihr gelungen war, im Interesse des
Ganzen den Autopsiebericht zu unterdrücken. Und so war Margret eines unbekannten,
jedoch natürlichen Todes gestorben, zumindest solange bis neue Indizien
auftauchten, die man aber keiner Person zuordnen konnte. Man fand nämlich
einen Essigkrug, in dem trotz der Konservierung ein Kalbshirn, eine Kalbszunge
und ein Kalbsherz allmählich verfaulten. Im aufgeschnittenen Herzen fand man
einen blutdurchtränkten Zettel, auf dem mühsam zwar, aber doch erkennbar, neun
Mal der Name Margrets stand. Auch weitere Paraphernalia, die einem Voodoozauber
zuzuordnen waren, wurden gefunden, eine tote Katze und ein totes zerrupftes
schwarzes Küken in einer Schachtel. Was noch eine Zeit lang blieb, war die
Inschrift auf marmoriertem Styropor in der Kirche.
Erst
die historisierenden Staatsanwälte, die durch das Absetzen der Serie „Cold Case“
arbeitslos geworden waren, griffen viel zu spät den Mord an Margret wieder auf,
erschnüffelten, wer in Gütersloh den Praktiken der schwarzen Magie zuneigte.
Sie mussten feststellen, dass diese weiter verbreitet war als angenommen. Dennoch
wurde der Kreis der möglichen Täter eingeengt. Aber immer noch zu den Verdächtigen
gehörten Frau Grebenstein und Frau Kim-Sebestyn, die erstere mit den bereits
bekannten Neigungen, die allerdings eher der weißen Magie zuzurechnen waren,
Frau Kim-Sebestyn sehr viel clandestiner. Denn erst als man nach ihrem
fluchtartigen Aufbruch aus Gütersloh ihre Wohnung öffnete, entdeckte man die
einschlägige Literatur und einige Paraphernalia wie merkwürdig zusammengesetzte
Salben und – freundlich gesagt – exotische Kleidungsstücke.
In einer Nach-Manoilescu-Ära brachte
man noch einmal die Cloaca der Maria
Goos auf die Bühne, um zwischen den gespreizten Beinen einer Stripperin Zivilisationskritik
zu üben. Die nächste Zivilisationskritik bestand in einer Wiederauflage des
Stückes Der Doktor und die Teufel von
Dylan Thomas in einer Inszenierung aus dem Wuppertaler Theater der fünfziger
Jahre des historisch gewordenen zwanzigsten Jahrhunderts, in seiner Wirkung
absichtlich dadurch verstärkt, dass von den Antihippokraten im Anatomiesaal an
noch lebenden Opfern die Plastination eingeleitet wurde. In einer Nebenrolle
trat aus Amphytrion eine sehr alt gewordene Luitgart Im hinzu, die ihren
ungewollten Aufenthalt mit einem Blockseminar in den halbtoten Theaterwissenschaften
verlängern musste. Mit diesem Ereignis versuchte die Universitätsspitze, sich
von der Beteiligung der Johannes-Universität an der Entwicklung des
Fortschritts zu distanzieren. Tatsächlich wurde es von den noch nüchternen
Protagonisten dann doch als Tanz auf dem Vulkan verstanden, der darunter enden
würde, als Negierung der Realität. Aber es war eine Flucht, der sich niemand
entzog, und es gab kein kündendes Glockengeläut.
Allerdings nicht wie in Basel, wo
seinerzeit die Kultur die Basler Zeitung
boykottiert hatte, sondern umgekehrt sah sich die WAZ nicht mehr in der Lage,
den immer wieder und hartnäckig geleugneten Verfall der universitären Welt zu
dokumentieren. Zu sehr breitete sich eine immer größere Verlegenheit und Scham
bei den Unbeteiligten aus. Auf den immer häufigeren und dringenderen Sitzungen
der Universitätsverantwortlichen malte weiter jeder nach seiner Begabung Blumen,
Spiralen, nackte Frauen und Männchen unkommentiert vor sich hin – nur wenig
früher wären die Ergebnisse Objekt einer Ausstellung zu intellektuellen Späßen
geworden –, wurde weiterhin darüber gegrübelt, was zwischen bekannten Beinen
doch noch zu finden sein könnte, träumte dem leicht fortgeschrittenen Alter entsprechend,
man könne jemanden – möglichst sich selbst – bei einem blowjob beobachten und dachte darüber nach, wie die Stiftungsgelder
nicht zu verbraten, sondern für die Beteiligten nützlich genutzt werden
konnten, z.B., um eigene Honorare in einer Liga mit Howard Stern zu
finanzieren. Und wer gar nicht mehr auf die Diskussionen um sich herum achtete,
vertiefte sich in die eigenen sexuellen Erinnerungen und versuchte eine
Rangliste der Erfolge und Erlebnisse aufzustellen. Die Selbstreferentialität
universitärer Äußerungen übertraf inzwischen bereits die vatikanischer
Enzykliken. Die Zeit war nicht mehr gegeben, sich mit einem universitären
Schlüsselroman in Anlehnung an Werner Zillig zu befreien. Es spielte auch keine
Rolle mehr, dass auch das Lupanar Güterslohs in dieser Zeit nach einem
offensichtlich unbeabsichtigten Kurzschluß abgebrannt war, eine andere
Herzogin der Academia an der Syphilis verfaulte, die sich ihr Gatte bei einem
Lakaien eingefangen hatte, weil Antibiotika knapp geworden waren oder das Verfallsdatum
längst überschritten hatten wie bei jenen, die man wenige Jahrzehnte vorher
nach Rußland oder in das bereits untergegangene Jugoslawien zu schicken
pflegte. Der allgegenwärtige Weltuntergang an einem letzten Ufer gewährte viele
folgenlose Möglichkeiten. Andere schwiegen. Sie hatten die Möglichkeiten der
Johannes-Universität genutzt, so wie die Chemikerin Jewgenia Jaroslawskaja, und
sie merkten erst jetzt, dass sie sich selbst auf dem Campus einen Gulag
geschaffen hatten. Andere hatten die Leichtigkeit des Seins genossen, die
Leichtigkeit, mit der sie Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinde geworden
waren, ohne zu merken, dass sie ihre Seele dem Teufel verkauft hatten, keinen
silbernen Knopf mehr hatten, mit dem sie ihn hätten erschießen können. Sie
paßten in die Reihe der naiven Gelehrten, die ihre Gelehrsamkeit und Spielwiese
mit der Mittäterschaft an unduldsamer Herrschaft, so wie der Chemikeronkel
Karls unter faschistischem und sozialistischem Vorzeichen, erkauft hatten. Sie
waren die Juniorprofessoren – oder eigentlich die Homunculi –, die gut bezahlten
Abhängigen eines selbstbestimmten Zeitgeists, eines sich selbst spiegelnden
Regisseurtheaters. Spät, zu spät erkannte Frau Professor Grebenstein, die immer
häufiger zu der kostbaren Sammlung von Prognostica griff, die die Bibliothek in
besseren Zeiten erworben hatte, so dass schließlich fast alle Bände die Wände
ihres Büros füllten, die Notwendigkeit, die Universität zu einem The
Greenbrier-Hotel auszubauen, um der ersten Nach-68er-Generation eine Zuflucht
vor ihrer Katabasis zu verschaffen. Sie versuchte es, und die Bautätigkeit
spiegelte Aktivitäten wider, die nicht mehr zum Leben gehörten. Mancher
Fenstersturz war auf halber Höhe entweder Mord oder Selbstmord. Doch immer
fehlte die Zeit, um auf halbem Wege „Vorsicht“ zu rufen, und die Kraft, sich
aus erdnahen Schuhen aufzuschwingen. Mancher Liebhaber konnte längst für die
nicht zu begreifende Gegenseite arbeiten, manche Geliebte die Herausgeberin
eines konservativen Blattes sein. Dies führte zu Aufräumarbeiten in der
Universität. Vor allem wurde dem längst in eine vermutete Senilität
abgedrifteten Karl mit Gerichtsbeschluß die Zeichnungsberechtigung für das
Münchbergsche Stiftungsvermögen entzogen. Statt seiner erhielt Theodor
Schlambusch, ein erfolgreicher Mittelständler aus dem Bielefelder Raum,
Procura, dem es noch einmal kurz gelang, entgegen den auseinanderstrebenden
Interessen der Gründermütter und –väter das Vermögen der Universität nicht nur
zusammenzuhalten, sondern sogar noch zu vermehren, da er die vielen zum Teil
fast verborgenen Quellen in einem Reservoir sammelte und dabei die Übersicht
behielt. Aber er merkte sehr früh, dass einiges sich nicht verborgen halten
lassen würde, nachdem das Vertrauen in die Johannes-Universität durch das Tun
zahlreicher Mitspieler und Nutznießer verlorengegangen war.
Andere kritische Geister, die sich
vielleicht doch an einem Schlüsselroman versuchten oder offen Kritik übten, wurden
marginalisiert. Niemand dachte daran, dass ein leidenschaftlicher Alexandriner
sich nur eine Sache nicht erlaubte, die Selbsttäuschung.
Und war sie nicht fast erblindet,
als ihr durch einen noch als solchen erklärten Studentenulk, um die Situation
nicht eskalieren zu lassen, die Tür zum Hörsaal B, der offiziell als Professor
Otto Saal in den Akten erschien, ins Gesicht explodierte? In ihrer Verzweiflung
dachte sie daran, den Sicherheitskräften zusätzliche rituelle Aufgaben zu
übertragen. Als bezahlte Söldner waren sie gebrandmarkt und unausweichlich an
das Schicksal Güterslohs gebunden. Als Lukas, kein Führer der studentischen
Massen, vielmehr inzwischen nur mehr ein dumpfer, verzweifelter Tropfen im Meer
der Protestanten, mehrere Kontrollstellen überwunden hatte, aber schließlich
doch aufgegriffen wurde, als er seine Zeugnisse aus seinem Zimmer aus dem
Haupthaus auf dem Campus holen wollte, wurde an ihm zur Abschreckung und als
Exempel das dhabh vollzogen, weil der
Zorn und die Angst immer allgemeiner geworden waren – er war so jung gewesen
und sah im Tode so alt aus, und Frau Grebenstein fragte fassungslos: „Wer
tötete den Toten mir?“ Und so, statt ihn völlig zu vernichten – Angela hatte
ihm heimlich eine Hand abgeschnitten, um seinen Mord zu sühnen, türmte man
Ruinen über seine Reste, und er wurde zum Basilisken, der immer von neuem das
Universitätsgelände bedrohte mit der nächtlichen studentischen Meute im Rücken
und zur überlebenden Idee.
Er
ist vorige Nacht gestorben unter einem Gitterwerk von Schatten, im Rauschen des
Windes, der schlechtes Wetter meldet. Er ist vorige Nacht gestorben, ohne ein
Wort der Vergebung, ohne Verständigung in bloßer Schuld, mit bloßem Lächeln. Er
ist vorige Nacht gestorben. Er ist befreit. Doch hat er selbst noch im Tod Leid
getan. Denn seine Mörder haben die Macht über ihn verloren.
Wenig später wurden zwei Mitglieder
des Sicherheitsdienstes von ihren eigenen Leuten verhaftet, nicht einmal wegen
Lukas, sondern, weil sie zunächst den Falschen erwischt hatten. Sie
entschuldigten sich damit, dass er sich nicht gewehrt habe. Aber da glaubte
schon niemand mehr, dass dies eine hinreichende Sühne sein könne, und sie
wurden neben vielen kleineren Strafen zur Wallfahrt nach Wilsnack im Brandenburgischen
verurteilt. Vielmehr mutierte die universitäre Elite in der Sicht der
Betroffenen zur kriminellen Bourgeoisie, obwohl auch Frau Kim-Sebestyn dem von
ihr damals favorisierten post-postmodernen neorealistischen Gütersloher Maler
Adam Müller-Stettenfurth den Auftrag gab, ein spätes Bild von Theagenes und
Charikleia anzufertigen. Dies war auch das Mal, bei dem man bemerken konnte,
wie Rechtsgrundsätze, die einen überführten Täter erforderten, beiseitegeschoben
wurden, um einem diffusen oder chinesischen Gerechtigkeitsbedürfnis Geltung zu
verschaffen. Glücklicherweise waren die Kräfte auf allen Seiten nicht stark
genug, damit einen Opiumkrieg zu entfesseln, doch es reichte, damit Lukas
einige Wochen niemals vergessen wurde, und es schwächte den zielgerichteten
Willen des Sicherheitsdienstes, der wie in größeren Systemen auch die Verantwortung
für die Entscheidungsträger übernehmen mußte. Es reichte auch, Tennyson zu zitieren: „Self-reverence,
self-knowledge, self-control – these three alone lead life to sovereign power.
But not for power – power of itself would come uncalled for, But to live by
law, acting the law we live by without fear, And, because right is right, to
follow right were wisdom in the scorn of consequence,“ oder zu markigen Worten
zu greifen, die Frau Grebenstein formulierte: „Aber inmitten dieser
Verwundungen und Zerstörungen bleibt der schöpferische Geist der Hochschule
wach und lebendig. Es wäre unmännlich und undeutsch, in die tatenlosen
Abgründe des Pessimismus und des passiven Abwartens abzusinken.“
All diese Maßnahmen belasteten zum
ersten Mal auch die finanziellen Möglichkeiten einer reichen Institution, auch
wenn es gelang, die Ausgleichszahlungen an die teilenteigneten und dadurch
verarmenden Bauern in der neuralgischen Zone des antifaschistischen Schutzwalls
auf den Bund abzwälzen. An niemanden jedoch konnte man die schwelende Unzufriedenheit
dieser Bevölkerungsteile abtreten. Hier rumorte ein Unruhepotential wie in den
zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts bei den Bauern in Hunan und zu Beginn
des unsrigen bei denen der Provinz Anhui. Das wachsende historische Bewußtsein
der Eingeschlossenen verursachte weitere realistische Depressionen.
Längst auch war die Stimme von Max
Rusedski, dem verantwortlichen Anführer des Sicherheitsdienstes, mit Sitz und
Gewicht im Universitätssenat, einem eigenen Büro im Rektorat und einem
berühmten Portrait Friedrichs des Großen über und hinter dem Schreibtisch an
universitären Entscheidungen beteiligt, und Frau Grebenstein schaute ihn
ängstlich an, wenn sie Pläne, die er ihr suggeriert hatte, im Akademischen
Senat vortrug und doch in vergeblichen Emanzipationsversuchen ihn zu verführen
suchte: „Du mußt für mich töten, wenn Du mich liebst.“ Das galt allerdings auch
umgekehrt, als Rusedski als Kontrollinstrument eine erweiterte Sippenhaft
vorschlug und damit seine innere Verängstigung offenbarte. Er begründete dies
damit, dass weiterhin zwar die breite Nutzung der gesellschaftlichen Potenzen
gegeben sei, dass es aber unter den Universitätsangehörigen keine Verunsicherung
geben dürfe, kein Zurückweichen und kein kapitulantenhaftes Verhalten. Auf der
anderen Seite hätten es aber die Universitätsangehörigen versäumt, einen
zufriedenstellenden Stand bei der Verankerung in der Zielgruppe der Studenten
zu erreichen und ihren Standpunkt in der Zielgruppe zu popularisieren.
Unterschwellig drohte er ihr damit, die notwendigen universitären Abstimmungsergebnisse
zu manipulieren. Frau Grebenstein mußte einen Satz formulieren, den sie
manchmal gedacht hatte, aber in guten Zeiten nie gesagt hätte: „Ich lehne eine
Zensur nicht mehr prinzipiell ab“, und es erwachten dunkle Erinnerungen daran, dass
so etwas doch nicht richtig sei. Sie mußte Rusedskis Vorschlag jedoch unterschreiben,
um sich weiter auf ihn stützen zu dürfen, und seine universitäre Stellung wurde
dadurch gefestigt, dass er zum Leiter der Abteilung für Extremsituationen
berufen wurde. In Frau Grebenstein schlummerten Phantasien, in denen sie sich
und Rusedski mal als Phoolan Devi und Koose Muniswamy Veerappan als Paar die
Wälder zwischen Gütersloh und Brackwede unsicher machen sah, strafend und plündernd.
Ein anderes Mal entdeckte sie sich in einer weltuntergangsskeptischen Liebeslandschaft.
Dann wieder überfiel sie ein religiöser Wahn, und sie suchte vergeblich ihre
thebäischen und mauretanischen Gefährten, damit ihr Blut Same der Erneuerung
werde, wenn sie denn nicht den an der Johannes-Universität immer stärker
nagenden Stürmen und Unwetter trotzen konnten.
Ahnte sie gelegentlich, dass
Rusedski von Übel war, so hätte sie ihn doch nie erschießen können, weil sie
ihn zu oft ohne Hosen gesehen hatte. Sie hätte ihn auch nicht tot in Tüchern
gehüllt in die oberste Etage des Präsidialamtes, des alten Kontrollturms
schleppen können, ihn an einem Arm und einem Bein ans Fensterkreuz hängen
können, um so zu zeigen, dass sie büße. Es war ein Teil des Soldes, den sie
einander zahlten. Aber nicht sie, sondern die Studenten außerhalb der Bannmeile
waren die Heuschrecken, und sie waren gleich den Rossen, die zum Kriege bereitet
sind; und auf ihrem Haupt wie Kronen dem Golde gleich, und ihre Antlitze gleich
der Menschen Antlitz. Frau Professor Grebenstein hatte keine Zeit mehr, die
gerechte Sprache zu benutzen, und so beobachtete sie, dass sie Schwänze hatten
gleich den Scorpionen, und es waren Stacheln an ihren Schwänzen; und ihre Macht
war zu beleidigen die Menschen fünf Monate lang. Und dennoch waren die
Ereignisse um die Johannes-Universität nicht bedeutend genug, als dass die
Steine hätten hörbar sprechen können, jeder Winkel eine Erinnerung beherbergt
hätte, jeder Schritt Aufmerksamkeit erregt hätte.
Dann wieder erklärte sie sich zur
Neokonservativen im Kampf gegen den Terrorismus der Gegenwart, ließ die längst
in sich zusammengesunkenen Kirchen auf dem Campus wieder aufblasen und versuchte
sich als Laienpredigerin. In ihren Predigten gerierte sie sich als Heiliger
Wolfgang und versprach den verwirrten Gegnern der Universität den vollkommenen
Ablaß, ließen sie nur von ihren Irrlehren und beteten für den Zusammenhalt der
akademischen Gemeinde. In der katholischen Kirche wies sie mit einem
überdeutlichen Zeigefinger auf das Altarbild, das Maria als gute Hirtin darstellte
und ebenso anrührend war wie das sehr ähnliche, das wir alle aus der Filialkirche
St. Wolfgang in Thaining bei Landsberg kennen, für das nicht Marie-Antoinette,
sondern eine unbekannte leichtfertig unschuldige bayerische Prinzessin Modell
gestanden hatte. Und schmerzlich angerührt dachte sie in solchen Augenblicken
daran, dass an einem solchen Ort nie die Epitaphien langer Reihen von
Archidiakonen hängen können würden, auch nicht die ihrer arbeitsamen und
treuen und tugenhaften Gattinnen. Vergeblich versuchte sie, Hendrick Busmann zu
bewegen, das Gnadenbild aus Kevelaer nach Gütersloh zu entführen, um die
Normalität einer Wallfahrt zu konstruieren. Stattdessen pilgerte sie zur
Madonna von Telgte. Um ihren Gottesdiensten die wahre Würde zu verleihen,
wurden jedes Mal die entsprechenden Merkblätter verteilt, auf denen die
liturgischen Teile, bei denen sich die Gemeinde zu erheben hatte, mit einem
Sternchen (*) versehen waren, etwas, das wohl kaum so abwegig war, wenn
russische orthodoxe Traditionen mit Cueca Tanzrhythmen, mit afro-amerikanischen
spirituals und dem Agnus Dei der Braunschweiger Kirchenordnung von 1528
gemischt wurden.
Sie floh vor der Bedrohung, und in
ihrer Not befürwortete sie die Einrichtung von Internierungszonen innerhalb des
Kontrollrings, die im internen Wortgebrauch des Wachdienstes bald zu Kaffernkrals
mutierten und doch die schönsten jungen Gesichter enthielten, verzweifelt und
versteckt trauernd und versucht, mit letzten Bleistiftstummeln auf Papierresten
schreckliche Erinnerungen festzuhalten und das Böse mit seinem wahren Namen
Brundibar zu benennen. Allein nur dem französischen Studenten Charles Dellon
gelang es, einen Text über Folter und Verfolgung aus Gütersloh
hinauszuschmuggeln.
Rusedski war aber keine so unglückliche
Wahl wie die des ersten Verfassungsschützers Deutschlands nach dem Kriege,
Otto John, er war auch keiner der unter einer reservatio mentalis zu stehen schien, keiner der hätte sagen
können: „Wir schwimmen doch alle in der gleichen Buchstabensuppe,“ sehr viel
mehr gehörte er zu der Gattung Mensch, die tierlieb ist, darüber hinaus handelt
und Ergebnisse erzielt. Und doch hatte er die Folgen der exemplarischen
Hinrichtung von Lukas unterschätzt. Diese war der Auslöser für das Phänomen
der schwarzen Witwen in Gütersloh, während Rusedski immer erschöpfter wurde, da
er auch noch zweimal in der Woche Frau Grebenstein flach legen musste und dabei
immer mehr das Gefühl hatte, ein trockenes Türblatt zu bearbeiten, selbst wenn
sie auf dem Höhepunkt wie die sterbende Mutter des Aristeides ihm ihre Brust
darreichte, verzweifelte Lust vortäuschend. Abgesehen von den psychischen
Begleiterscheinungen gab es keine anderen. Beide bezahlten lediglich einander.
Sie war zu alt, und er hatte vergessen, rechtzeitig Testoviron einzunehmen.
Auch als sie in der Hoffnung, die Durchblutung zu verbessern, aneinander
Trepanationen vornahmen, erwies sich diese Maßnahme nicht als Jungbrunnen, aber
es war eine Beschäftigung in hilfloser Zeit, in der sich Frau Grebenstein in
Augenblicken der Klarsichtigkeit an die Sagen ihrer Kindheit erinnerte und sich
in die „temps que Berthe filait“ zurücksehnte.
Gütersloh geriet als Negativum auf
die internationale Landkarte. Der einst als Ehrenbezeichnung eingeführte, als
Abgrenzung zu den inflationären Fachhochschulabschlüssen intendierte, als
Qualitätsbeweis anerkannte und hinter dem Namen geführte Code E.G.U.I. (eruditus/a güterslohensis universitatis
Iohannei) wurde allmählich zur Pflicht, damit jeder gewarnt sei, wie durch
die älteren deutschen Regeln, z.B. Dr. dent. (Bucuresti) oder
Otorhinolaryngologist (Dimashq) auf Praxisschildern, in Rechnungsköpfen und auf
Visitenkarten und in Ausweispapieren schreiben zu müssen oder bis zur
Kennzeichnung einer Professur aus der modernen Stadt Dalian. Die Deutungsmacht
entglitt den eigentlichen Protagonisten und führte zu ihrer Verunsicherung, so
dass sie schließlich in jeder ihrer Handlungen angreifbar wurden – non verbis, sed rebus, zu hart, nicht
hart genug durchzugreifen. Die Verfolger wurden zu Verfolgten. Und auf der
Flucht blitzten kurz ihre Ärsche. Höchste Alarmbereitschaft führte zu Immobilität,
führte zu angestrengten Revitalisierungsversuchen, indem man Yvonne Catterfeld
und gealterte und deshalb gepuderte berühmte deutsche Fernsehmoderatoren in
Anlehnung an die Pekinger Universität als Gastprofessoren einlud oder zu
Juniorprofessoren des Pop ernannte, die völlig innovative Unterrichtsmethoden
u.a. in Form der Hypnopädie einführten, oder, wenn das nicht zu helfen schien,
griff man zum Mittel des public viewing
im Glauben noch Aufmerksamkeit wecken zu können Man investierte in die spectacles vivants. Auf den sich immer
häufiger wiederholenden Sitzungen wichen die Teilnehmer immer mehr auf hilflose
Überlegungen über das, was vielleicht gehen könnte, aus. Man wagte sich vor mit
unmöglichen Kompromissen, die in der Konfrontation endeten. Das Ergebnis waren
gegenseitige Beschuldigungen, die personelle Verstärkung des Sicherheitsdienstes,
der Austausch von Personal, die Entlassung des universitären Glückes
wichtigsten Unterpfandes, Ms Caroline Ffinch. Mit jedem Tag waren die stetig
kreisenden Bewegungen ihrer Hände, ihr mit jedem Argument zustoßender Kopf mit
allzu stark artikulierenden Lippen wie sie es von amerikanischen Fernsehmoderatorinnen
gelernt hatte und immer unregelmäßiger und größer erscheinenden Zähnen
enervierender und quälender geworden. Überdies entwickelte sie auf ihre
älteren Tage poetische und poetologische Ambitionen und versuchte einen
weiteren Literaturpreis für die ihrer als einzigem Jurymitglied Ansicht nach
besten Akrosticha, Mesosticha und Telesticha bis hin zu isopsephischen Versen.
Die Gründe dafür wurden allerdings aus ihrer voruniversitären Zeit
hervorgeholt, und wieder kamen die grünen Aktendekkel zu Ehren.
Und eben die Schaffung der erwähnten
Sonderzonen: Im Senatssaal wurde eine Generalstabskarte von Gütersloh und
Umgebung aufgehängt, auf der mit roten – „wir“ – und grünen – „die“ – Lämpchen
der Frontverlauf immer wieder neu markiert wurde. Daneben hatte man eine
erbeutete Fahne des Feindes aufgespreizt, die als Zeichen den Heiligen Vitus im
Kessel trug und offenließ, ob man sich selbst als Opfer sah oder damit eine
Drohung ausstieß, um z.B. wie ein Fürstbischof zu verlangen, dass 500 Studenten
in Bußkleidern und barfuß vor dem universitären Führungsgremium erschienen.
Verlorengegangen waren Klarheit und Stärke eines Samurais, die Frau Grebenstein
einst ausgezeichnet hatten, wenn sie mit ihrer etwas eigenwilligen Art der
Zen-Meditation den Weg zu ihren Kraftzentren gefunden hatte und die
Entwicklung nach ihren Vorstellungen steuern konnte. Stattdessen begann sie in
den seltenen freien Stunden oder wenn sie sich eigentlich in den erholenden
Schlaf begeben sollte, sich der Arithmomantie und Onomatomantie hinzugeben –
mit der gleichen Nachlässigkeit, mit der Fulgidus
ille calix divino porcio mense als das Jahr 1426 interpretiert werden
konnte –, mit medizinischen Elixieren zu experimentieren, die ihr genau dazu
verhelfen sollten, ihren belasteten Magen und ihre Nerven besänftigen sollten.
Sie hantierte mit Kokain-Chlorhydrat, beschaffte sich Narcéïn-Chlorhydrat,
verteilte Pepsintropfen, arbeitete mit dem Krähen-Auge, der Nux vomica und vermischte diese Mischung
mit Samos- oder Muskatwein, den sie durch Hinzufügen von 96%igem Alkohol
verstärkte. Manchmal schüttete sie auch Jodtinktur oder Gerbsäure in ein
ähnliches alkoholisches Gebräu. Sie bereitete auch einen Flacon mit dem Gift
der ägyptischen Kobra vor, nachdem sie wie Kleopatra vor ihr verschiedene Gifte
an den Gütersloher pendents von Sklaven ausprobiert hatte und feststellen
konnte, dass der Biss der Kobra Schläfrigkeit und Schwere, aber keine
Schmerzkrämpfe verursachte.
Stattdessen aber erhielt der
tägliche Frontbericht Priorität. Wieder einmal waren fünf Studenten diesseits
einer Fußgängerbrücke gesichtete worden, wieder einmal waren an einem der
gepanzerten Wagen des Sicherheitsdienstes alle vier Reifen zerstochen worden,
wieder einmal war ein Mitglied eben dieses Sicherheitsdienstes im Dunkeln
gestolpert oder war von den aufmüpfigen Studenten zusammengeschlagen worden.
Gelegentlich allerdings gab es auch Erfolgsmeldungen, wenn wieder einmal eine
in die Außenwelt aus Plaisantville hinausführende Brükke zum eigenen Schutz
zerstört worden war.
Aus ihrem Zürcher Asyl
diagnostizierte Frau Pambach progressive fundamentalistische Entwicklungen,
kampfbereite Formen fortschrittlicher Spiritualität gegen die Feinde des
garantierten Erfolgs, die sich als Benandanti bezeichneten und aus den
eurasischen Steppen über uns gekommen waren. Die Maßnahmen Frau Grebensteins
interpretierte sie aus deren Sicht als kosmischen Krieg zwischen den Mächten
Gut und Böse, deren Selbstverständnis als Ritt auf dem Daumen durch das Weltall.
Die Furcht vor Vernichtung und nicht nur vor dem Verlust der eigenen Identität
veranlasse sie, so meinte Frau Pambach, Strategien und Praktiken aus einer
längst geschlossen geglaubten Schublade der Vergangenheit zu ziehen und
einzusetzen, die notwendig waren, wenn der Elan zur Offensive versiegt war.
Alle, die sich rechtzeitig Gütersloh
entzogen hatten, erkannten mit Trauer eine solche Entwicklung auf allen Seiten.
Ein schmerzhaftes Ende kündigte sich für Frau Grebenstein an, als sie
schließlich den Nachruf für ihren alten Gönner Professor Otto schreiben mußte,
der bis zum letzten Augenblick aktiv auf einer Kontaktreise nach Kiew
plötzlich aber letztlich nicht unerwartet verstarb. Zuerst notierte sie sich
die notwendigen Stichwörter, die danach in den Nachruf einflossen. Eingeleitet
wurde er pathetisch: „Seine letzte große Reise auf dem Dnjepr konnte er nicht
mehr beenden. Wir sind sehr traurig.“ Danach folgten Bemerkungen wie „die Fürsorge
für alle Mitarbeiter lag ihm besonders am Herzen, für ihre Anliegen hatte er
stets Zeit und Verständnis“, oder etwas weiter im Text „seine stete Aufmerksamkeit
galt der Unterstützung des Nachwuchses, der Förderung der Wissenschaft, der
Jugend und der Kindheit, die er in zahllosen wissenschaftlichen Beiträgen dem
Verstehen erschloß“. Die Liste seiner Ehrenämter und Ämter war endlos. Bis zu
seinem trotz allem unerwarteten Ende hatte er Wissenschaft, Gesellschaft und Politik
befruchtet. Um ihn zu charakterisieren, griff Frau Grebenstein auf die Analogie
mit Marquis Posa zurück, wobei sie offen ließ oder selbst nicht wußte, ob sie
auf die historische Gestalt, auf Schiller oder auf die Pariser Uraufführung von
1867 von Verdis „Don Carlos“ rekurrierte. Jede, auch die letztgenannte mit Posa
als Manager eines besänftigenden Pizzadiensts, war legitim. Sie hätte auch
schreiben können von seinem Mangel an Humor, seinem Mangel an Witz und seiner
Unfähigkeit, sich und die Welt und Menschen freiwillig zu parodieren, aber
dann wäre sie einer Selbstdarstellung bedenklich nahe gekommen. Sie schrieb
davon, dass die Johannes-Universität im Rektorat unter einem Glassturz eine
seiner chinesisch geschnittenen Jacken, seinen Tuxedo und Krückstock bewahre.
Weniger dicht und erregend war der Nachruf, den seine eigene Alma mater, in der
er nach seiner Pensionierung ein wenig an Einfluß verloren hatte,
veröffentlichte. Hier wurden seine seitenfüllenden Aktivitäten bis auf die gesondert
hervorgehobene Zeit seiner Präsidentschaft in dem Satz zusammengefaßt: „Der
Verstorbene hat sich in unterschiedlichen Wirkungsbereichen Respekt und
Anerkennung erworben. 12 Jahre lang wählten die Kollegen ihn zum Präsidenten
ihrer und seiner Universität. Sie werden sich daran erinnern, warum sie es
getan haben“. Wenig später ließ Frau Grebenstein unfreiwillig im Traum ihr
Leben in einer endlosen Kavalkade vorbeiziehen.
Einen weiteren Schock bedeutete die
Entdeckung, dass das im Zusammenklang mit Pharlap wichtigste Pferd im universitären
Stall der lokalen Förderung und Public Relations, Leslie Gun, von Hong Kong aus
des Dopings mit Hydrozy-Promazine überführt worden war. Selbst Versuche, dieses
Ereignis mit Hilfe schweizerischer und amerikanischer Anwälte ungeschehen zu machen,
weil Leslie Gun doch immer in der vordersten Front des sauberen Sports gekämpft
habe, dann sich von ihr zu distanzieren, ihr die Ehrendoktorwürde – so passend
im Ostwestfälischen für eine Reiterin – zu entziehen, scheiterte in einer
Zeit, in der sich alles gegen die Universität verschworen zu haben schien und
verfehlte die beabsichtigte heilende Wirkung. Der Liebesentzug auch des
heimischen Publikums war wenig später vollständig, als sie versuchte, sich
hinter Wortbildungen wie „Hygiene der Körperübungen“ zu verstecken und ihre
früheren eingelösten Honorarforderungen im sechsstelligen Bereich und ihre
empörte Ablehnung großzügiger Angebote, „ich muß eine Familie ernähren!“ gezielt
gestreut wurden. Aber wenigstens dachte Frau Gun noch an ihre existierende
Familie, an die halbwüchsigen Kinder Bert und Britta, an das notwendige Kindermädchen,
deren Photo wenig später auf dem Nachttisch Berts als einzige Erinnerung stand.
Natürlich dachte sie auch an ihren Mann, der ihr als herausgehobener Stallbursche
bei den Manipulationen leider doch nicht gut genug geholfen hatte.
Der wenig später erfolgende
Untergang der Universität verhinderte, dass Gerüchte aufgeklärt werden konnten,
es habe in Gütersloh überaus schmerzhafte und in Einzelfällen lethale Versuche
mit Gehirndoping, der Zufuhr fremder Hirnmasse auf mechanischem Wege, ähnlich
der Selbstverabreichung von Fremdurin bei olympischen Spielen gegeben. Es
sollten auch eugenische Versuche zur Sicherung des irdischen Glücks angestellt
worden sein. Die alten Modelle komplexer Ehen aus dem Oneida-Experiment wurden
wieder aufgegriffen, jedoch ergänzt durch entsprechende medizinische Hilfen.
Ein verzweifelter Schritt, den langen Weg der Genmanipulation abzukürzen und
den Ruf der Universität zu zementieren. „Das Erbe ist aufgebraucht,“ war die
einhellige mediale außeruniversitäre Ansicht. Kaum jemand war bereit, Frau
Grebensteins Beteuerungen, nichts gewußt zu haben, Glauben zu schenken, als
man auf den Seiten älterer Jahrgänge des Universitätsjournals Innovatio scientiae Begriffe wie
Prohormone und scheinbar wissenschaftlich wertfrei gebraucht Androstenedion
fand.
Die Pozzi, älter geworden, noch wach
geblieben, wie damals anläßlich der Gründungsfeierlichkeiten, schrieb
ebenfalls einen verfrühten, aber zutreffenden Nachruf auf die Johannes-Universität,
in dem sie das Schicksal der Universität mit dem des SSC Neapel verglich,
überdies erwähnte, dass sie das Geschenk ihrer Universität anläßlich der
Gründung eigentlich zurückfordern müsse, falls es nicht eventuell bereits
verscherbelt worden sei, Les Sepmaines von
Guillaume de Salluste du Bartas. Es habe schließlich seinen Sinn verloren. Die
Lotterie mit einem Fiat bzw. einem VW der Phaeton-Klasse hatte bereits während
der Gründungsfeier stattgefunden. Die Parallelen in den Verwicklungen in den
Grauzonen des Kunstmarktes waren frappant – die Spitze des Eisbergs wurde mit
dem angeblich gutgläubigen Erwerb von „Tarquinius und Lukretia“ aus dem Besitz
des Immobilienhändlers Vladimir Alekseevič Logvinenko erstiegen und ersteigert.
Die Zugehörigkeit der Universität zur Etenna-Mafia, die diesen Ort erfolgreich
hinter einem subtropischen Dschungel hatte verschwinden lassen, um ihn
systematisch und erfolgreich mit Detektoren auszubeuten, wurde immer
wahrscheinlicher, wenn auch nicht wirklich beweisbar, da angeblich
Gutgläubigkeit in die Provenienz der Funde zu ihrem Erwerb durch die
Universität geführt habe. Dazu gab es umfangreiche Belege.
Die Folgen, die Besuche der Polizei
und des Finanzamtes waren es ebenfalls. Noch hielten die finanziellen
Konstrukte, noch hielt die Fan-Gemeinde in Form von Schlägertrupps, die sich
Hüter des Fortschritts nannten, noch gab es nicht nur die fleischfreie Wurst
mit Friedensgeschmack, doch würde die Pozzi angesichts der pathetischen Worte,
die sie damals gefunden hatte, der Johannes-Universität auch in der Amateurliga
weiterhin alles erdenkliche Gute wünschen.
Sie schloß mit dem guten Rat,
Taubenschläge zu errichten. Im Gegensatz zu Rindern und Schafen, die bis zum
29. September geschlachtet und eingesalzen werden müssen, brüten die Tauben –
bis auf die Holztauben – in einem sechswöchigen Zyklus. Sie hüten ihre Jungen,
bis diese das geeignete Gewicht von etwa 500 g
für den Backofen oder die Kasserolle erreicht haben. Dieser Zyklus wird brav
die ganzen sieben Lebensjahre einer Taube aufrechterhalten, und sie haben
nichts dagegen, wenn die Jungen, nachdem wieder zwei neue Eier im Nest liegen,
weggenommen werden, da sie sie sowieso über die Nestkante in die
Selbständigkeit stürzen würden. Da beide Taubeneltern ausschließlich mit dem
Ausbrüten und Aufziehen beschäftigt sind, können Tauben in großer Zahl auf
engem Raum zusammenleben (bis zu tausend oder mehr). Dies gilt besonders für
die Carneaux und Mondain-Züchtungen, die in erste Linie zum Essen bestimmt sind.
Es wird genügen, wenn die Johannes-Universität alle sieben Jahre ein Taubenpaar
verschont. Und doch waren ihre Äußerungen mit Traurigkeit gesättigt, dass die
Realisation eines Traumes einmal mehr an den verschiedenen Wirklichkeitsebenen
gescheitert war, der Taubenschlag wie vor Jahrhunderten von George Huddlestone
nicht gesondert errichtet worden war, sondern das Herz der
Johannes-Universität, die Kasse, in die einige Jahre lang die Einkünfte aus
Schenkungen, Stiftungen und glücklichen Geschäften geflossen waren, genutzt
wurde, so dass allmählich die Elektronik verkotete und unbrauchbar wurde. Der
Schwung, etwas Neues zu schaffen, war abgerutscht in Desertion und Yoga. Der
Ruf, „wir unterwerfen uns niemandem in unserer Überzeugung an den endlichen
Sieg“, wurde bereits übertönt von Marschtritten, Flammen und fremdartigen
Gesängen. Die Amateurliga war der letzte Rest Hoffnung, etwas von einer
tragisch gescheiterten Epoche bewahren zu können, dass die Tränen, die man
dabei vergoß, den Boden befruchten würden. Sie hatte den Glauben an die
Wunderkraft der heiligen Elisabeth und Sant Iagos verloren.
Bevor sie dies schrieb war auch sie
einmal im chez André gewesen und hatte einen Vortrag über Les Dégénérés
gehalten, Frau Grebenstein auf einem Bock, den sie im Glauben, es sei ein
Pferd, mit Peitsche und Sporen bearbeitete. In Anlehnung an Collineau, den sie
witzig verschwieg, teilte sie die Degenerierten in vier Klassen und überließ es
ihren Zuhörern zu entscheiden, wer in welche gehörte: „Die erste Klasse ist die
der echten, d.h. permanent Degenerierten, die zweite ist die der
Konvulsivischen mit vorübergehenden Anzeichen der Degeneration, die dritte ist
die der Impulsiven, Getriebenen, die ohne äußere physische Merkmale lediglich
ihren tyrannischen Trieben folgen, die vierte ist die der – und sie suchte nach
einem deutschen Wort, das sie nicht fand – émotifs,
vielleicht Unruhigen, bei denen nur zwei Anzeichen auf ihre Krankheit hindeuten,
ihre merkbare Kleinlichkeit und häufige Irritabilität. Ohne dies allzu weit
auszuführen, läßt sich die Klasse der Degenerierten weiter unterteilen, in die
Idioten, die verlorenen Einzelgänger, in die leichte Abweichung des Idioten,
den Schwachkopf und den geistig minderbemittelten auf der einen Seite, den
Crétin auf der anderen. In diesemZusamenhang sind dann der Voll-Crétin, der
Halb-Crétin und der Crétinöse zu nennen. Die Klasse der Konvulsivischen kann
epileptisch, hysterisch oder choreisch sein, oft mit spasmodischen Bewegungen,
schnellen, zuckenden Bewegung wie von einem elektrischen Schlag. Manchmal kann
man auch von einer verpuppten Epilepsie sprechen. Die Impulsiven wiederum
zeichnen sich aus durch die Perversion ihres moralischen Verständnisses. Alle
vier Formen sind leider erblich.“ Abgesehen vom Bild zu Anfang ließ sie offen,
wer und was gemeint sei. Verstanden wurde sie sehr einseitig und mit großem
Beifall verabschiedet.
Zu diesem Zeitpunkt kam, nachdem die
Denkprozesse abgeschlossen waren, sich die Klarsichtigen längst geäußert hatten,
die Wissenschaftsministerin des Bundes zusammen mit Vertretern und
Vertreterinnen der involvierten Stiftungen, die die Wissenschaft nach ihrem
Bilde zu formen pflegten und nur noch innerparteiliche Konkurrenz und
Demokratie kannten, zur Zehnjahresfeier der Johannes-Universität, mit einem
Hubschrauber eingeflogen, so dass sie nichts vom Schicksal der Erdgebundenen
erfuhr. Unterschlagen wurden zu diesem Zeitpunkt die Gütersloher Notwendigkeit,
auf Hungernahrung zurückgreifen zu müssen, nämlich Pteridium aquilinum,
Potentilla anserina, Conopodium maius, Lathyrus montanus, Elytrigia repens,
Taraxacum obliquum, Orchis mascula, Equiseteum arvense, Stachys palustris,
Potentilla erecta, Chamaenerion angustifolium, Silene vulgaris, Polygonum
viviparum und Carum carvi, wobei zur Verschleierung dieses Fakts auf die deutschen,
minimal bekannteren Bezeichnungen verzichtete. Manches wurde sogar als
Besonderheit angepriesen wie die Wurzel des Löwenzahns als Gemüse und wohlschmeckender
Kaffeersatz.
Alle versammelten sich im Rektorat,
in diesem Tempel der Demokratie, den man besichtigte wie eine vergangene
Kultur: „Wir haben die Entwicklung der Johannes-Universität seit ihrer
Gründung vor zehn Jahren sorgfältig beobachtet und begleitet. Zwei Mitglieder
der jetzigen Regierung sind Absolventen dieser Alma Mater – sie unterschlug, dass
die Erfolgreichsten rechtzeitig das Studium abgebrochen hatten und nicht den
Momenten des Scheiterns auf politischen Posten nachtrauerten –. Die Erfolge
unserer Regierung gehen nicht zuletzt auf ihre anwendungsbezogen,
dienstleistungsbezogen, beraterbezogen orientierte Ausbildung zurück, auf den
Leitgedanken einer Kultur der schnellen Entscheidungen, die Bereitschaft, im
Team zu arbeiten, schnell zu reagieren und zu agieren, gordische Knoten“ –
immer wieder voller stiller, erkennbarer Begeisterung für die vorhandenen
Reste der eigenen klassischen Erinnerung, oder war es ein Knoten, den ein Prof.
Gordon erfunden hatte? – „zu zerschlagen, dies sind Merkmale der hervorragenden
Kompetenzproduktion Ihrer Universität. Sie haben sich der Notwendigkeit
heutiger wissenschaftlicher Tätigkeit gestellt, und so ist an der Johannes-Universität
Innovation nicht länger zufälliges Nebenprodukt der Forschung. Die gestrige
Wissenschaft ist heute ökonomisch ausgerichtetes und verwertbares Handeln.
Daher haben wir unsere Liebe von der Berliner Humboldt-Universität, die nur
ihre Nobelpreise aus den Jahren 1901, 1902, 1905, 1907, 1908 und 1910 zählt und
anführt – und so nicht einmal mit Würzburg konkurrieren kann –, endlich haben
wir beim Zählen die Finger zur Hand genommen, voller Enttäuschung über die
nicht realisierte Innovationskultur abgezogen und entschieden, Sondermittel des
Bundes zur Stärkung des so überaus großen innovativen Potentials der
Johannes-Universität dieser zur Verfügung zu stellen und ihren Standard als
Bundes-Stanford zu erhalten.“ Mit den Symptomen der üblichen Bunkermentalität
in Einklang stand die Selbstüberschätzung und der Glaube an den wie auch immer
gearteten Endsieg. Ältere Pläne wurden durch Frau Grebenstein der Wissenschaftsministerin
vorgelegt. Nach dem Vorbild der University of California sollten die anderen
Bildungsanstalten Ostwestfalens als Dependencen der Johannes-Universität reorganisiert
werden. Bielefeld sollte sich als Santa Barbara, Paderborn als San Diego
fühlen dürfen, Detmold und Lemgo galten als Los Angeles und Santa Cruz. Und
tatsächliche paraphierte die Ministerin die vorbereitenden Verträge bis hin zu
der Absicht, die genannten Städte in den bestehenden Kontrollring
einzubeziehen. Zu den Verträgen gehörten auch Auflösungserscheinungen an den
älteren Universitäten außerhalb Güterslohs, verbale, nicht verpflichtende
Übernahmeangebote an Dozentinnen und Dozenten und Sachbearbeiter und
Sachbearbeiterinnen. Für die letzteren wurden ad personam Überhangsstellen geschaffen oder Freikaufverträge
formuliert. Für die ersteren allerdings wurde ein Wissenschaftlerintegrationsprogramm
entworfen, mit dem man vor Jahrzehnten bereits weich und sanft Gelehrte der
untergegangenen DDR hatte auffangen wollen. Jetzt kamen all die Bedenken zur
Sprache, die man in gesellschaftlicher Zeit aus Höflichkeit nicht erwähnt
hatte, fehlendes Profil, Profilneurosen, Angrenzungen zur ganzen Welt. Man
überschätzte überdies ein wenig die Erträge aus den niedersächsischen ererbten
Gebieten, man unterschätzte den Anteil der längst im Übermaß privatisierten
Mittel, die möglicherweise die Namen Eva von Trotts oder Gertrud von
Plettenbergs trugen. Es waren eben doch nicht die 22 Milliarden $
Stiftungsvermögen, über die Harvard verfügte. Kurzfristig gelangte sie mit der
„rechte Tasche – linke Tasche Methode“, aber auch durch die Verleihung von
Ehrendoktorwürden an besonders interessante Personen wie Mordechai Vanunu
wieder in die Schlagzeilen der Presse, und die feindliche Übernahme – so
empfand es Frau Grebenstein – war für eine unbekannte Dauer abgewendet, da zwar
die Rektoren und Präsidenten der Universitäten in Berlin, Hamburg, München und
auf dem platten, sowieso unterversorgten Lande protestierten, ihr jedoch die
inzwischen altersgemäß und ihrer öffentlichen Bedeutung entsprechend mit
Hormonen und Ausgleichsarzneien wie Unmengen von Pfefferminztee, kleineren
Dosen mit Schweineblut oder Essigsirup und Häppchen von Schlangenfleisch
zusammengehaltene Frau Grebenstein mit vor Begeisterung noch einmal und zum
letzen Mal nassem Höschen lautstark zur Seite stand, mit zusammengepreßten
Knien zwar, aber die Arme in der Pose eines kurzlebigen Triumphators erhoben
wie einst Elias Bierdel, oder so wie vor Jahren ein männlicher Universitätspräsident
nach einem Bankett im Bundeskanzleramt und anschließender Veröffentlichung
hochfliegender, wenige um so mehr begünstigender Pläne für eine zu fördernde
Elite.
Sie hielt eine letzte große Rede: „Wir
danken der Bundesregierung, die mit uns den Optimismus eines neuen Aufbruchs
trägt und verbreitet. Das Meta-Ranking aus dem Frühjahr hat es bewiesen: Über
alle Rankings hinweg, auch bei gelegentlichen Rückschlägen, steht die
Johannes-Universität auf dem ersten Platz in Deutschland.“ Auch auf Englisch
oder Französisch hätte sie weitersprechen können: „Die Johannes-Universität ist
eines der führenden Zentren der Welt für theoretische Forschung und
intellektuelle Neugier. Sie wurde gegründet und existiert, um grundlegende
Forschungen in den Natur- und Geisteswissenschaften anzuregen und zu unterstützen,
nämlich das originelle und oft spekulative Denken, das unser Wissen um die
weltverändernden Wege erweitert. Daher bieten wir allen, die hier arbeiten, die
Freiheit zu Forschung, die bedeutende Beiträge auf allen Feldern der
Wissenschaft liefern wird.“ Und weiter: „Ich glaube, ich spreche im Sinne jedes
Mitglieds dieser Universität, wenn ich feststelle, dass wir alle kaum je mit
Belastungen und Herausforderungen wie denjenigen dieser Tage konfrontiert
waren. In solchen Zeiten besteht die Gefahr, dass wir eines vergessen:
Politisches Versagen – eine Ausnahme ist die Bundesregierung –, die Ignoranz
gegenüber Wissenschaft, finanzpolitische Torheit und die Denunziation von
Leistung, schlecht reden und die Intrige anderer Wettbewerber kommen von außen
und nicht von innen! Niemals dürfen wir es zulassen, dass dadurch das Klima von
Solidarität, unserer auf dem Briefkopf verewigten Corporate Identity und jenes
unerschütterlichen Optimismus‘ gefährdet wird, dem die Johannes-Universität
ihre Gründung verdankt. Ich bitte deshalb alle, auch weiterhin diesen Geist zu bewahren,
zu erweitern und sich zu ihm zu bekennen. Wenn wir so handeln, haben wir eine
erfolgreiche Zeit vor uns.“
Und sie formulierte ein letztes Mal
schöne Ziele und gab sie als Realitäten aus: „Wir sind kein Konglomerat von
Fachhochschulen, sondern eine wahre universitas, die im Dienste am Menschen
durch Forschung, Lehre und Erziehung die Erkenntnis der Wahrheit fördert, die
Studierenden zu eigenen Persönlichkeiten entwickelt und sie in die Lage
versetzt, sich selbständig eine eigene Stellungnahme zu den Grundfragen des
Lebens zu erarbeiten.
Wir betreiben keine Abkapselung
gegenüber dem lebendigen Leben und der von ihm durchpulsten Gesellschaft,
sondern großzügige Aufgeschlossenheit für alle im gesellschaftlichen Bereich
auftauchenden Fragen.
Unser Ziel ist die zielbewußte
Überwindung des trügerischen Entweder-Oder in jeder Gegenüberstellung durch
praktisches Erleben der Synthese, ist die Erziehung zu weltweitem Blick auf der
Grundlage voller Gleichberechtigung aller und uneingeschränkter gegenseitiger
Achtung, Dienst an wahrhafter Verständigung.“
Selbstbeschreibung, mit tiefster
Überzeugung vorgebracht, wurde zur Selbsttäuschung und dann zum tödlichen
Palliativ. Und mit der Wissenschaftsministerin unternahm die Rektorin
Grebenstein eine Begehung der universitären Einrichtungen, zeigte ein pulsierendes
wissenschaftliches Leben, da fast alle aus ihren Aktivitäten außerhalb
Güterslohs zu diesem Anlaß zurückgerufen worden waren und ihre wissenschaftlichen
Ergüsse in Bangkok, Colombo, Vechta und Umeå hatten stornieren müssen.
Allerdings war die Reihe mit laufendem Motor wartender Hubschrauber auf dem
Universitätsgelände lang. Frau Kim-Sebestyn erklärte in physischer Abwesenheit
von einer großen Leinwand, dass sich die leeren Zimmerfluchten ihres Instituts
nach dieser Entscheidung der Bundesregierung endlich wieder füllen würden.
Endlich auch könne sie das Projekt der digitalen Entschlüsselung der Kunst zu
Ende führen, nicht nur die malerischen Anteile Peruginos zu entdecken, sondern
auch seinen Schülern ihre Namen zurückzugeben. Honoriert wurde die späte Auszeichnung,
die die Universität erfuhr, mit einem imponierenden Scheck für den Wiederaufbau
des immer noch brachliegenden Berliner Stadtschlosses, der dann allerdings –
denn was schert mich meine Entscheidung von gestern – zur endgültigen
Umgestaltung des Palastes der Republik in ein Berliner Centre Pompidou eingesetzt
wurde.
Dies war noch einmal eine
Gelegenheit, zu der sich die endgültig zu Greisen gewordenen späten Freunde,
Professor Mann und Karl, im einsamen Haus des ersteren in Radevormwald trafen,
um Erinnerungen auszutauschen und über das Schicksal der von Karl initiierten
Universität zynisch zu raisonnieren und klapprig zu lachen – besonders gefiel
ihnen der unerschütterliche Gründungsoptimismus. Mit zittrigen Händen tranken
sie Tütentee und köpften eine Flasche Whisky, die ein ehemaliger Student bei
Mann gelassen hatte. Ausnahmsweise durfte Karl in Anwesenheit Manns und in
seinem Hause rauchen. Mann als der ältere der beiden zog die Verbindungen zur
Straßburger Reichsuniversität und zur unseeligen Diaspora der Überlebenden in
Tübingen im Winter 1944/45. Der pompöse Anfang wurde konstatiert, ein
beiläufiges Ende allerdings nicht anerkannt. Dazu war ihnen dieser Weltuntergang
zu nah. Verkalkt wie sie waren, waren beide bereit, an den Determinismus zu
glauben.
Ein Unglück kommt selten allein, und
Frau Grebenstein dachte mit ihren Getreuen fast zornig an die unvermeidliche
Wahrheit von Spruchgut. Die Gütersloher erkannten die Universität als
Fremdkörper in ihrer eigenen Stadt. Vielleicht fließt das Blut vieler Völker
und Rassen durch die Adern der Universitätsangehörigen, aber nicht eine Seele
findet sich, nicht eine Tugend, aber alle Laster eben aller Menschengruppen.
Und so wurde die Distanz unüberbrückbar. Auch außerhalb Güterslohs begann es zu
rumoren. Still und ruhig lagen die Besitztümer der Universität in
Niedersachsen, unanfechtbar waren die längst nicht mehr ausreichenden Erträge
der Stiftung Hannelore Münchbergs, aber das waren nurmehr peanuts im zwingend
erforderlichen Haushalt. In vielen Schachtelbeteiligungen begehrten die
Betroffenen auf, zum ersten Mal, als die rumänischen Pressebeteiligungen und
versuchte Manipulationen – Manoilescu hatte damit gar nichts zu tun gehabt –
ruchbar wurden, weil sie nicht darauf beschränkt blieben, sondern die Verbindungen
weit in die politische Elite hineinführten. Die Versuchung war zu groß, die
finanzielle Unterstützung und Kontrolle der Romania
Libera für Macht und Einfluß im Staate einzusetzen. Wie in solchen Fällen
üblich, wurde versucht, den Protest der Miteigner auszusitzen. Es wurde nicht
auf Protestschreiben reagiert, sondern nur im Interesse des ökonomischen Überlebens
der Zeitung mit einem „Relaunch“ argumentiert, der durch positiven und dennoch
investigativen Journalismus und positive Lebenshilfen herbeigezaubert werden
sollte. Der Glaube der Rumänen an den deutschen Ordnungssinn wurde mit fast
königlichen Bemerkungen über Primitivität und Schmutz honoriert und wurde
unangemessen, aber verständlich, mit der Abwahl siebenbürgischer Bürgermeister
vergolten. Der Repräsentant der Universität vor Ort erwartete Grüße, ohne
selbst zu grüßen, er war Mitglied und Macher in vielen Modernisierungsprogrammen
der rumänischen Regierung und zögerte nicht, die Vorteile eines autoritären
Systems für den wirtschaftlichen Erfolg hervorzuheben. „Genehmigungsverfahren
werden schneller durchgeführt, Enteignungen sind billig und unproblematisch.
Der Gewinn lugt immer schon um die Ecke, wenn man sich nicht allzu sehr von
beschwerenden humanitären Gesichtspunkten vernebeln läßt.“ Hier zum ersten Mal
bekam der souveräne Glanz der Johannes-Universität sichtbare Flecken des Bösen,
die sich noch nicht pandemisch, nicht einmal epidemisch ausbreiteten, aber die
Unverwundbarkeit an Ferse und Schulter aufhoben. Noch konnten die Beteiligten
mit Geld ruhig gestellt werden. Intern war die Lösung elegant, nach außen war
der Ruf der Zeitung und ihrer akademischen Eigentümer hinlänglich befleckt und
führte zu ihrem schleichenden, immer schleichenderen Tod. Das nächste Ereignis
spielte sich ähnlich weit in Budapest ab, als man mit Mehrheitsbeteiligungen
versuchte, die schweizerische und einheimische Konkurrenz zu verdrängen. Dann
folgte in noch größerer Entfernung Argentinien mit Página 12, mit einer Zeitung, für die die von der Johannes-Universität
kontrollierte Holding einmal mehr den ökonomischen Relaunch durch gute
Verbindungen zur Regierung auslöste und mit entsprechenden wohlwollenden
Kommentaren honorierte. Und schleichend, voranschreitend und immer geschwinder
wurde sie als das Haupt des Korruptionstotalitarismus in Deutschland ausgemacht.
Da überdies das argentinische Abenteuer ungewollt Teil weltpolitischer
Verwicklungen wurde, geriet die Universität auch in den Strudel der von der CIA
verbreiteten falschen Hundertdollarnoten.
Dies begann, ihre Stellung zu untergraben.
Wichtiger als die tatsächlich verfügbaren Mittel war das Vertrauen, das die
Universität einige Jahre unanfechtbar gemacht hatte. Nun aber mußten Frau Grebenstein
und die anderen erkennen, dass sie sich kaum noch von Borussia Dortmund
unterschieden. Aber von Sulla zu lernen, dazu waren sie nicht mehr in der Lage,
nicht einmal mehr, wie kleinere Geister, sich beleidigt zurückzuziehen. Es
fehlte ihnen der Realismus und die Beweglichkeit, die so lange durch die kanakischen
Mitglieder der Universität wirksam und nützlich gewesen waren. Geblieben waren
die provinziellen Größen, selbst wenn sie nicht nur den deutschen Paß besaßen
und glaubten, sie feierten kosmopolitische Feste, wenn sie statt des Reformationstages
Halloween feierten. Und doch: Nicht nur der Rosenstock, der den Vorgarten
mancher universitären Villa schmückte, hatte etwas anrührendes. Der Schrecken
wurde noch einmal für einen Abend verdrängt, als standesgemäß Kathrin und ihre
Quietschboys mit dem Hubschrauber für ein einmaliges Konzert auf dem
Universitätsgelände eingeflogen wurden. Die Kenntnis von den in Gütersloh
herrschenden Problemen war nicht bis ins Marburger Land vorgedrungen. Angehörige
aller Seiten trafen sich zu diesem Ereignis, zwar mit diskreten Schutztruppen,
die aber nicht eingreifen mußten. Alle durften ein kindliches dreidimensionales
Vergnügen bis zu einem nächtlichen Ende genießen.
Dies war auch das letzte Mal, bei
dem Angela ihre Schwester Friederike traf, die an der Universität geblieben
war, und die Trennung war sehr schmerzhaft. Noch einmal schrieb Friederike aus der
von sich selbst belagerten Stadt: „Was werde ich mich alleine und verlassen
fühlen, wenn Du wegkommen solltest. Aber, Angela, sollte es Dir gelingen, nach
Hause zu gelangen, dann versuch bitte, mich auch mitzunehmen. Fährst Du nach
Hause und ich bleibe hier, ja dann werde ich krank, wie ich nie in meinem Leben
krank gewesen bin. Ich habe immer solche Angst, Mama lebt nicht mehr, wenn wir
nach Jahren erst wieder nach Hause kommen. Es wäre schön, eines Tages plötzlich
vor der Tür zu stehen, mein Gott, wie oft habe ich mir nicht diesen Augenblick
in meinen Träumen ausgemalt. Also Angela, bitte, bitte nimm mich mit!! Ach, es
wird mir recht unheimlich hier in G., wenn Du weg bist. Ich glaube, ich muß
noch mehr Fatalist werden als ich es schon bin. Aber ich habe das Gefühl, ich
ertrinke und sage dauernd zu mir selbst, dass die Qualen nur einen Augenblick
dauern, dann ist das Bewußtsein weg, und alles ist Seeligkeit. Oder manchmal
habe ich auch das Gefühl, in einer Zelle eingesperrt zu sein. Ich versuche, mich
selbst zu beruhigen und sage, es ist alles nicht so schlimm, aber ich weiß,
wenn ich die Selbstbeherrschung nur eine Sekunde verliere, bekomme ich einen
Tobsuchtsanfall und renne gegen die geschlossene Tür. Inzwischen zwinge ich
mich, eisern weiterzudenken und die Vorbereitungen für eine unklare Zukunft zu
treffen.
Viele Grüße Friederike“
Während Angela erstarrt war nach den
sich häufenden Erfahrungen, weinte Friederike um den besten Freund ihrer
Schwester als habe deren Leid sie unmittelbar getroffen. Oft sah sie sich in
der Rolle Angelas, spielte diese bis zum Ende und brach schließlich erschöpft
zusammen, setzte sich so den Verdächtigungen des Wachdienstes aus. Auf dem
ganzen Campus gab es in der Endphase niemanden, der häufiger seine Papiere
zeigen mußte, wenn sie auch nur morgens, ganz Routine, von der Baracke 23 zu
einer sinnentleerten Lehrveanstaltung hinüberhuschen wollte. Angela blieb im
täglichen Leben außerhalb Güterslohs, brachte den Eltern die geretteten
Unterlagen und ließ sich eine sittsame Zeit lang auf Gespräche mit ihnen über
Lukas und die Machtlosigkeit ein.
Immer häufiger faßte Frau
Grebenstein, wenn sie morgens, oft noch im Dunklen, in ihrem Postkasten nach
dem täglichen Zeitungsbündel, den Westfälischen
Nachrichten, der Süddeutschen
Zeitung und anderen griff, die es beide zu dieser Zeit nur noch in der
Gütersloher Ausgabe gab, immer in eine klebrige Masse fauler Sardinen, vor sich
hin schimmelnder Äpfel und Tomaten, ein Grund, die Arzneimittelquote, die
neben den K-Medizinen und natürlichen Hilfsmitteln inzwischen Hormonpräparate
und Bisphosponate umfaßte, um Sedativa zu erweitern, ihre Dossiers in Anlehnung
an ihre Lehrmeister immer häufiger und paranoider zu konsultieren, um
verständnislos zu eruieren, warum und für wen sie das Ziel solch infantiler
Angriffe geworden war. Später am Tage kamen mit der Post und Hauspost
Briefchen mit als Anthrax getarntem Backpulver. Ihre untaugliche Reaktion war
der Rückfall in die Bunkermentalität, in der das Mißtrauen gegen jede andere
Minderheit wuchs. Gegner wurden die merkwürdigen Ausländer, Rechtsextreme, die
perversen Homosexuellen, bloße abartige Jahrmarktphänomene, die nur noch durch
Aids an ihrem Endsieg gehindert wurden. Es war die schleichende bereits überall
spürbare Orientalisierung Europas, nicht Globalisierung, sondern Unterwanderung
mit Balkanesen und Levantinern. Sie nannte es nicht so, sondern zog sich in die
historische Analogie zurück, indem sie von mittelalterlichen Bischöfen sprach,
die aus ihrer süditalienischen Heimat bis auf die britische Insel berufen
worden waren, oder von der internationalen Kaufmannschaft, so dass man Jahrhunderte
später Straßennamen nicht mehr erklären konnte, weil die Familie Raillard
inzwischen ausgestorben und vergessen war.
Also forderte sie jetzt den zubeißenden
Rechtsstaat neben der Kinderbetreuung für alle, wie vor Jahren eine der klugen
bundesrepublikanischen Parteien gefordert hatte. Es konnten doch nicht die
selbstgeschaffenen Homunculi sein, über die man die Kontrolle verloren hatte.
Alle wirksamen Hilfsmittel, jung oder jugendlich zu bleiben, waren aufgrund der
Umstände Frau Grebenstein verwehrt. Der Schlaf floh sie, zu Spaziergängen hatte
sie keine Zeit, da sie ununterbrochen an Paketlösungen arbeiten mußte. Die
Freude an der geistigen Beschäftigung war ihr abhanden gekommen, auch die am
eigenen Erfolg. Sie hatte auch den Versuch aufgegeben, Bonbons mit dem Siegel
der Universität zu verteilen, um so den vergangenen Anfängen zu wehren. Da ihre
Handlungsspielräume immer weiter eingeengt wurden, sich auf ihren Führerbunker
beschränkten, litt sie unter ihrer Arbeit.
An einem späten Abend setzte sie
sich schließlich an ihren Schreibtisch im Rektorat, tatsächlich ganz allein,
nur die Überwachungskameras des Sicherheitsdienstes waren längst auch auf den
Innenraum gerichtet, schauten zu, registrierten den Lärm ihrer letzten Tränen,
die Verformungen eines immer noch schönen Gesichts und versuchten mit hoher
Auflösung zu lesen, was sie noch einmal mit der Hand schrieb, da sie offensichtlich
nicht die Absicht hatte, das Geschriebene als Thesen der Öffentlichkeit an die
Türen der immer noch aufgeblasenen Kirchen zu heften sondern das Papier
sorgfältig faltete und in den Safe legte, diesen verschloß und langsam und
müde, das Licht ausmachte, den Raum verließ, der nur mehr vom Infrarot der
Kameras durchdrungen wurde, ob im Schatten sich ein Schatten bewege. Und doch
war dies ein später Augenblick, in dem sich ein Herz ihr hätte zuwenden können.
Allein hatte sie ihren Stolz noch nicht verloren. Ihr Haar hatte im Dunkel
seinen Glanz nicht verloren, ihr Gesicht war so deutlich wie in Porzellan
gezeichnet, und selten hatte sie so klar nach vorn geschaut, als hätte sie eine
liebenswerte Siegerin sein können, hätte sie nicht gewußt, dass die
Johannes-Universität a dream revolved
geworden war.
Sie wanderte hinüber zum Haupthaus
der studentischen Wohnsiedlung, das den Namen einer früheren
Wissenschaftsministerin der Bundesrepublik Deutschland trug, Platz bot für vierhundert
Studenten und Studentinnen, für einhundertundzwanzig studentische Familien mit
oder ohne Nachwuchs. Sie erinnerte sich daran, dass es errichtet worden war mit
dem Ziel, eine lebendige und herausfordernde Gemeinschaft zu schaffen, berühmt
für ihre Toleranz und ihr internationales Verständnis. Hier hatten Lukas und
Angela ein Appartement geteilt, und Friederike wohnte quasi als Geisel immer
noch dort. In der Vorstellung Frau Grebensteins war das Haupthaus zu einer Art
Baracke 23 eines Lagers geworden, die besonders berüchtigt war für ihre
subversiven Elemente, die die Gesamtuniversität terrorisierten und den Kontakt
mit dem Feind in den Wäldern aufrechterhielten. Rusedski schloß sich aus dem
Schatten kommend an. Gemeinsam gingen sie weiter, wenn auch nicht mehr in dem
löffelengen Gleichschritt, den sie angenommen hatten, nachdem sie kurz nach
Einrichtung des Wachdienstes in einer Schrecksekunde aufeinander zu geflohen
waren, damals in der Erwartung, dass Intellekt und physische Kraft, Durchsetzungsvermögen
und Geld gemeinsam es noch einmal schaffen könnten: „Gudrun, das ist kein
sicherer Ort mehr, um ihn allein und ohne Schutz aufzusuchen. Dort hat der besagte
Lukas gewohnt und seinen schlechten Einfluß geltend gemacht. Wir sollten die Wachen
verstärken und die doch immer mögliche Kommunikation nach außen unterbinden.“ Rusedski
war jetzt dort angelangt, wo man jeweils die Panzer des Gegners über die
unschuldigen Opfer auf unserer Seite rollen sah. Mit solchen Bemerkungen und
stillen Erwägungen beschäftigt hasteten sie gemeinsam an den Lilienbeeten, den
Rosensträuchen, an den mit Ackerringelblumen, Borretsch, Alant, Hahnenfuß,
Mittelwegerich, Maiglöckchen und Ehrenpreis bewachsenen Grasflächen vorbei.
Immer noch hatte sie verständnislos
in gutem Glauben geschrieben: „Die politischen Tagesaufgaben haben die Wissenschaften
erstickt. Wir haben dem Liberalismus und der Freiheit gedient, sind jetzt
selbst zu Konterrevolutionären und prügelnden Polizisten geworden.“ So war sie
wie die amorphe Masse der wie betäubt auf Gütersloh marschierenden Studenten
zur Zwangsschauspielerin in diesem Film geworden. Sie hatte ihr ganz
persönliches Vermächtnis hinterlassen, den Willen, dass man ihr in den letzten
Stunden nicht zur Hilfe kommen solle, im Vorgriff auf eine erlösende Euthanasiegesetzgebung.
Ihre Enttäuschung konnte sie nicht mehr verbergen, zu einem Schritt über die
Balkonbrüstung fehlte ihr der Sinn für das Pathos. Und in der Nacht hörte sie
nur noch der Gott ihrer Kindheit: „Hilf mir, wenn es Dich denn gibt, Du
Arschloch!“ Aber sie entschuldigte nichts von ihrem Tun, da es geschehn war,
erklärte nicht hehre Beweggründe zum Auslöser schließlich gescheiterten Tuns.
Sie gewann an Größe, die sie zwar früher hatte vermitteln können, bis zum Ende
aber nicht besessen hatte.
Niemand der Beteiligten konnte
wirklich begreifen, was schief gelaufen war, da wir die Ästhetik des
Andersseins und den nichtkonformen Hedonismus usurpiert hatten, unsere Macht
durch Verschachtelungen, die von der eigenen Gruppe kontrolliert wurden,
gesichert hatten. Durch immer mehr Übernahmen von Entscheidungsfunktionen
durch Mitglieder hätte eben dieser doch eigentlich funktionieren sollen. Und
niemand mehr konnte unsere Aktivitäten kontrollieren. Gab es keinen anderen
Grund als den, dass der Sicherheitsdienst nicht nachkam mit der Transkription
der abgehörten Telephonate, dass das Geheimnis des Unheils lediglich in 123.000
Stunden nie abgehörter Gespräche in den mehr als hundert in Gütersloh
gesprochenen Sprachen verborgen war und hätte vermieden werden können? Es war
doch ein vollständiger Sieg gewesen, nach dem keineswegs die Alten mild lächelnd
das Zepter übernommen hatten, sondern sie selbst die Früchte geerntet hatten.
Sie waren die Jugend gewesen, die zum Augenblick gehört hatte und der ihr
gehörte, in dem sie mit sicherer Hand, klarsichtig und daher machtvoll die Reinheit
einer neuen Welt erzwungen hatten. Ein Anschein dieser erfolgte durch die
Wir-Gruppe, die groß und zu unübersichtlich geworden war. Sie waren zum Adel
geworden, zu Konfliktlösungen unfähig, nur noch fähig zu Bestrafung und Rache,
nur zu binären Konflikten fähig, die unberechenbar eskalieren und nur durch
Machterhalt bewältigt werden konnten. Sie hatten ihre dörfliche Vergangenheit
aufgegeben mit den dort vorhandenen Disziplinierungsinstrumenten, der kollektiven
Rüge, die keine Berufung zuließ, aber lange funktionierte.
In der Realität setzte sich nicht
die gerade vorherrschende Theorie der ewigen Expansion durch, die die Welt in
eine immer kälter, in der Verzweiflung immer schöner werdende Wüste
verwandelte. Man hatte nicht gesehen, was man hätte sehen können, dass nämlich
alle anonymen Systeme an ihrem Ende angelangt waren und sich nicht mehr die
Studenten allein, sondern im Generationenverbund bis hin zu den Urgroßeltern,
auf den Marsch begeben hatten. Aus der Not geboren war in der Nähe auf Distanz
die Distanz aufgebrochen worden, wenn es auch mangels Masse nicht zum Big
Crunch kam, sondern durch die Umkehr der Antimaterie zum Big Rip. Die
Universität auf dem Flughafengelände wurde in einer Feuersbrunst weggerissen,
riß das deutsche tertiäre Bildungssystem mit sich, und in diesem Chaos
versuchten die Hinterbliebenen das ansehnliche Stiftungsvermögen untereinander
aufzuteilen, die inzwischen wie eine ausgepreßte Zitrone mit zwei schwarzen
Augenpunkten und senil gewordene Frau Jentner – doch so senil war sie nun auch
wieder noch nicht, dass sie nicht selbst ihre Todesstunde verbergen konnte wie
ihre ganze leibhaftige Person hinter Empfindungen der Macht und des Hasses, die
nicht verstehende Frau Grebenstein – doch galt ihre Stutzigkeit noch nicht der
eigenen Person. Nur wenn sie in ihr Reformhaus ging, um ökologisch abgebautes
Salz für 70 Cent und chemisch unbehandeltes Orangeat für 30 zu kaufen, brachen
die Eigentümerin und ihre einzige Verkäuferin in panischen Widerwillen aus,
weil sie sich jedes Mal von neuem darüber beschwerte, dass die Verkäuferin die
Summe im Kopf errechnet hatte und dann in die Kasse eingab, statt die Posten
einzeln einzutippen. Wenn sie dann einen neuen Bon bekam, fehlte ihr die
Spezifizierung der von ihr gekauften Waren. Dort war einer der wenigen Plätze,
wo sie sich unendlich Zeit nahm, ohne in Führerbunkermentalität zu verfallen.
Es gab die immer starrsinniger
gewordene Frau Kim-Sebestyn, die längst entweder als Muse oder zumindest als
überaus erfolgreiche Sekretärin und Agentin großer mit ihrer Hilfe
großgewordener Künstler drei weitere Namen zwischen ihrer alten und jetzt alt gewordenen
Person geschoben hatte und so von außen unkenntlich und doch gleichzeitig
vielen Banken bekannt geworden war, sich als Peggy Guggenheim auf Kosten
universitärer Mittel fühlte, selbst zu einem Gesamtkunstwerk, das ihre Umgebung
adelte, geworden war und überdies eine 50 Mill. € Versicherungssumme für ihre
inzwischen für wissenschaftliche Zwecke digitalisierte Kunstsammlung kassiert
hatte, die in einem selbstinszenierten Feuer, bevor „höhere Gewalt“ die
Auszahlung verhindert hätte, in der größten Kunstkatastrophe seit dem
Britart-Inferno zu Grunde gegangen war. Da diese Kunst ausgestellt und nicht gelagert
worden war, erübrigte sich die Frage nach dem Wert magazinierter Werke, jedoch
nicht nach dem Verlust der Geschmackskultur und Kennerschaft der Moderne. Einige
Tage untersuchte die Kriminalpolizei, ob es sich um einen Sabotageakt handele,
einige Wochen suchten die Detektive der Versicherungen nach Anhaltspunkten
einer Verantwortung Dritter. Noch aber schwebte die Erinnerung von der
Bedeutung der Johannes-Universität über dem Brandherd, und so wurden die
notwendigen Unterschriften vielleicht mit einigen Zweifeln, aber insgesamt doch
ohne Zögern geleistet. Einen Vorteil hatte die Klarheit einer
Versicherungssumme. Es war hinterher nicht so schwierig wie im Falle Picassos,
das Erbe aufzuteilen, wenn es auch leise Verdächtigungen gab, dass viele Werke
mit Museumsrabatt gekauft worden waren, die tatsächlich aber den Eigentumsvermerk
von Frau Kim-Sebestyn trugen, wodurch wiederum diese als Begünstigte der Versicherungszahlungen
erschien. Die Auseinandersetzung um die Umrechnung immanenter Verluste in
zählbare Werte trieb Frau Kim-Sebestyn noch einmal in die
Interpretationshohheit, so dass sie mit Serra die schon seit Beginn der
Menschheit bekannte Schönheit von rechteckigen Kuben von neuem entdeckte.
Jetzt konnte man sagen, dass
wahrscheinlich alles zerstört sei und dass man nur mehr darüber lesen könne. Nachdem
sich aber alle der Verantwortung entzogen hatten, tauchten auf dem Markt
außerhalb des diskreditierten und teilweise zerstörten Gütersloh nicht nur
meterweise die Inkunabeln der Universitätsbibliothek, sondern auch die aus Magdeburg
übernommene Sammlung präparierter Gehirne und 278 Affenschädel auf, während der
konsternierte Gütersloher Normalbürger auf die Ankunft eines Mel Gibson aus
Rauch- und Nebelschwaden hoffte und sich darüber besorgt zeigte, dass die
genmanipulierten Golfgraspollen inzwischen bis nach Hamm getrieben worden
waren, weil niemand sich mehr dafür verantwortlich fühlte, den Rasen kurz zu
halten. Über Gütersloh wölbte sich ein Aschendom, der den glitzernden Bruder
Christoph Steinmeyers, eine der letzten Erwerbungen, die Frau Kim-Sebestyn
getätigt hatte, blind werden ließ, und im Benzingestank der Autos, die die
Szene im Stau zu verlassen suchten, starben viele kleine Tiere. Eines der
letzten Bilder, das sich einprägte, waren im Vordergrund die Überlebenden, die
nichts mehr in ihrer Einheit verband, Frau Grebenstein und Rusedski. Frau
Grebenstein war zu Attis geworden und damit zu Rusedski, indem sie in der
Rechten seinen abgetrennten Penis mit iambischen Akzenten schwang. Sie hielt
ihre linke Hand an die Stirn und lachte, während er mit der einen Hand in der
Nase, mit der anderen zwischen den Zähnen porkelte. Beide belegen ihre Zugehörigkeit
zu den Alexithymen. Nur sie überlebten von denen, die sich im engeren Spektrum
der universitären Exekutive befunden hatten, von denen, die das Stigma der
Verantwortung an sich trugen. Ihre Hilfstruppen, der Sicherheitsdienst, hatten
sich in gegenseitiger Meuterei zerfleischt, hatten den Strafvollzug übernommen
und griffen auf die Strafen des Barock zurück, indem der gerade handlungsfähige
dem Gegner die Brust mit glühenden Zangen kniff, die rechte Hand abschlug, auf
dem Rad die Knochen brach und die zermalmten Körper auf dem Rad zur Schau
stellte. Schließlich blieb der einzige Ire übrig, der in Ermangelung eines
Gegners sich selbst entleibte.
Van Groningen war inzwischen
pathologisch unfähig, auf einen derridaischen Trick oder Tick zu verzichten.
Seine typologischen Überspitzungen wirkten manchmal nur noch wie Droodles. Sein
Vergnügen an der eigenen Ingeniösität, seiner Rolle als David zu der Zeit, als
Absalon die Kebsweiber seines Vaters vor den Augen Israels beschlief, wurde als
irritierend exklusiv empfunden. Dem Schüler, Zuhörer, Leser blieb nur noch die
Beobachtung seiner Selbstbefriedigung, wenn er wohl immer noch aufmerksam, doch
mit geschlossenen Augen glaubte, den Sitzungen im Präsidialamt zu lauschen und
damit zu gelegentlicher Entspannung beitrug, weil man ihn den schlafenden
Professor nennen konnte. Einmal jedoch wachte er auf, als er meinte einen
Beitrag zu den inzwischen notwendig gewordenen Sparmaßnahmen der
Johannes-Universität leisten zu müssen. Er schlug vor, die Finno-Ugristik als
wenig produktives Fach aufzugeben. Alle Anwesendenwaren froh, verzichtbares
Kleinvieh aufgeben zu können, und der Antrag wurde einstimmig angenommen.
Später zeigte sich, dass dieses Fach an unserer Universität nie exisitiert
hatte.
Es halfen die alten Mittel aus der
Zeit, als Adel noch verpflichtete, und Sluggan zog sich stilvoll unter Mitnahme
des ihm verfügbaren Universitätsvermögens und aller ihm persönlich erteilten
Forschungslizenzen zuerst kurz nach Irland – er wollte noch einmal die irischen
Wiesen riechen – und dann in das immer noch existierende Nordkorea, das keiner
hatte haben wollen, zurück, dem er mit dem dort enteigneten Stiftungsvermögen
die Lebensspanne um weitere zehn Jahre verlängerte und wo er in Anlehnung an
die Fernuniversität Hagen, an der er bereits in Gütersloh mitgewirkt hatte, in
Wiju, unmittelbar an der nach China führenden Freundschaftsbrücke einen
Studiengang Master of Peace Studies einrichtete, während in der Ferne sich die
Johannes-Universität quälte wie der zum endgültigen Tode verurteilte Stern EF
Eridani und niemand mehr dort die Kraft aufbrachte, mit Robinson zu überleben.
Der Abgang Sluggans aus Gütersloh
war sehr wohl komplizierter gewesen. Er war ein potentieller Bündnispartner
Rusedskis, und er hatte sich anläßlich einer der unzähligen Lagebesprechungen
der Universitätsspitze bereit erklärt, als agent
provocateur ins Chez André zu gehen. Die jungen Leute dort konnten sich
eine solche Doppelzüngigkeit nicht vorstellen und empfingen ihn zuerst als
neuen Bundesgenossen, hörten sich nach Karls präsenilen Entäußerungen zum
Multikulturalismus Sluggans Lieblingsvortrag über Irland als revolutionärem
Vorbild an und fanden Gefallen an seiner Beschreibung ihres Zustands, den er
als Auszeit für Gedankenzeit bezeichnete, bis sie an seinen Versuchen, sich der
Verantwortung und Veröffentlichung seiner Worte zu entziehen, merkten, dass er
mit der geforderten Brutalität nur Strategien einer Konterrevolution anwandte
und sie für die Verteidigung des status
quo zu instrumentalisieren versuchte. Schnell entzog er sich der Drohung,
geteert und gefedert zu werden, durch Flucht.
In Wiju durfte Sluggan seinen
Maybach 62 bei sich haben, den er noch in Gütersloh über Anastasia Zbarskaya erworben
hatte, ihn allerdings nur mit seinem koreanischen Chauffeur benutzen. Das war
Yi Hakpo, an dessen Ernennung zum Professor an der Johannes-Universität Sluggan
in einer Spätphase noch einmal kräftig mitgewirkt hatte. Zunächst tat er einer
Kollegin in Bochum einen Gefallen damit, er tat es auch für sich, um sich mit
einem Wissenschaftler aus dem friedliebenden Korea unmittelbar
auseinandersetzen zu können. Die Bindung war stärker geworden, als Professor Yi
von einer Nacht zur anderen von seinen Leuten nach Korea zurückberufen wurde,
weil einmal mehr ein diplomatischer Schmuggelring unerwünscht zerplatzt war.
Weil er danach verbrannt war, war er eben nur noch als Chauffeur und Sekretär
geeignet. Beide setzten sich mangels Benzin täglich eine halbe Stunde hinein
und betrachteten von dort aus die Welt, wie sie sich in den giftgrünen Wogen
des Yalu spiegelte. Inzwischen waren beide so alt, dass sie über ihre möglichen
Nachrufe nachdachten, gelegentlich sogar das vanitas-Motiv in Erwägung zogen „the
boast of heraldry, the pomp of power, ..., Await alike the inevitable hour“,
oder sie spielten mit der stabreimabhängigen Semantik verschiedener Sprachen,
ob unvergeßlich bleiben werde der Toten Tatenruhm oder nur dommen over den
døde. Und Sluggan verwechselte sich immer häufiger in dieser Zeit mit Francisco
de Miranda. Am Ende geschickter als Lord Black of Crossharbour hatte Sluggan
darauf verzichtet, auch das Kleingeld aus der Universitätskasse zu stehlen,
seine Freundinnen, ebenso kleinere Zuwendungen an Wohltätigkeitsvereine etc.,
bezahlte er aus den abgezweigten Pauschalsummen, aus den Buchgewinnen, die in
die Millionen gingen, beim Wohnungstausch an der Ostseeküste bei Rostock oder
über dem Central Park in New York. Es gelang dank eines von ihm kontrollierten
kleptokratischen Subsystems, einer Kumpanei von Lehrenden und Verwaltenden und
tatsächlich einigen wenigen Studenten der ersten Generation, die an Frau
Grebenstein vorbei eine Nebenherrschaft über die Universität errichtet hatten.
Und da er es schon immer verstanden hatte, die Interpretationshoheit für sich
zu beanspruchen, sah er die verwirrten Studenten als Briten und die Angehörigen
der Universität als die irischen Opfer von Drogheda. Er sah sich in der Rolle
Napoleons, zwar ohne Prozeß, aber doch zu Unrecht verbannt worden zu sein. Er
entwarf neue Staaten- und Weltordnungen, einen nordeuropäischen Staat von
Tromsö im Westen bis zur Kola-Halbinsel für die Gerechtigkeit gegenüber der
samischen Urbevölkerung unter Einschluß der Skoltesamen, der Pomoren und der
durchtriebenen norwegischen Küstenbevölkerung, und er schuf ein fiktives
Imperium inter mares von Polen im Norden bis zur rumänischen Schwarzmeerküste
unter Einschluß aller danubisch geprägten Länder, also auch Griechenlands,
Tschechiens, Weißrutheniens und der Ukraine als Mittelerde Europas. Er
erkannte die Möglichkeit, dass in Afrika die Grenzen fielen, die Nationen Zentralasiens
zu einem turko-iranischen souveränen Gebilde zusammenfanden. Dazu lud er ein
alle, die nicht ihre Nation, aber sehr wohl ihre staatliche Souveränität
aufzugeben bereit waren. So wurde Nordkorea für einige kurze Jahre wieder so
etwas wie das Zentrum globaler Widerborstigkeit. Die Absolventen dieser Ausbildung
wurden über das Reisebüro „Gentlemen“ in die garstige erste Welt geschleust. Und
die Asche Sluggans wurde schließlich in der Mündung des Yalu verstreut, während
auf der Insel im Fluß eine Gedenktafel auf Koreanisch und in Han‘gul
geschrieben an ihn als Freund des koreanischen Volkes und westlichen Verkünders
des Kim Ilsong-Gedankens erinnerte. Auf dieser Stele konnte man auch zum ersten
Mal erfahren, dass sein zweiter Name Burmand gewesen war, und um sich unbewußt
einen Teil seiner Selbstachtung zu erhalten, hatte er das Pseudonym Misneach gewählt. Aber auch dies geschah
erst, nachdem man mehrere Lebensversicherungen aus dem kapitalistischen
Ausland in Anspruch genommen hatte. Dann aber wurde kolportiert, dass sein
Leichnam nicht in Gänze verbrannt worden sei, man habe sein Herz bewahrt, und
jetzt pumpe es einmal im Jahr Blut, ein Wunder also, das danach viele Gläubige
nach Wiju lockte und mehr touristische Gelder einbrachte als über den Eintritt
zur Zeugenschaft seines Sterbens hineingekommen wären. Flankierend und
kollateral verdiente auch die Hotellerie Wijus daran.
Yi Hakpo wurde als Sekretär sein
Nachlaßverwalter. Dieser bestand zu einem recht späten Zeitpunkt nurmehr aus
einem Testament, dessen Echtheit in folgender Weise bewiesen wurde: „Wir haben,
Genossen, im Arbeitszimmer des Genossen Sluggan folgende Niederschrift
gefunden, die von ihm für den Fall seines plötzlichen Todes verfaßt wurde.
Diese Niederschrift stellt sein Vermächtnis zun seinen letzten Willen dar, der
für uns alle, die wir seine Gedanken teilen, heilig ist. Ich, Yi Hakpo habe das
Dokument nach dem Diktat des Genossen Sluggan persönlich auf der
Schreibmaschine geschrieben und es enthält einige persönliche Verbesserungen
und Ergänzungen, die von der Hand des Genossen Sluggan gemacht sind. Es
unterliegt daher keinem Zweifel, dass diese Niederschrift vollkommen
authentisch ist und auf die direkte Veranlassung und den Willen des Genossen
Sluggan hin geschrieben worden ist.“
Davon kamen auch die zahlreichen
Professoren und Dozenten, die gerade in dieser Zeit der Gefährdung der
Universität aufgrund ihres Renommés eine ihrer zahlreichen Gastprofessuren
wahrnahmen oder eines der internationalen Kulturinstitute des Bundes leiteten
und daher ungerechtfertigt im Exil überwintern konnten. Justiziabel war nichts
an ihrem Verhalten gewesen. Sie waren nur die bekannten Gesichter, die man
allzu lange wahrgenommen und verinnerlicht hatte. Davon kamen auch diejenigen,
die auf halbem Wege der Erfolgsgeschichte der Johannes-Universität lächelnd
unterlegen waren und resigniert hatten. In Holstein blätterte Frau Hilpert beim
nachmittäglichen Tee in alten Photoalben, von denen ein halbes Erinnerungen an
Gütersloh enthielt. Ihr Neffe versuchte, sie dazu zu überreden, diesen Schatz
zu bewahren, sie aber nahm eine Schere, zerschnitt in den Abendstunden Photos,
Briefe, Exposés und Memoranda – aus achtungsvollem Respekt auch die ihrer
Mutter, anders als Nigel Nicolson –, weil sie der Überzeugung war, Geschichtslosigkeit
sei die beste Medizin, anders als Karl, der Gleichgültigkeit als einziges
Heilmittel ansah. Beiden gemeinsam war der fehlende Drang, einen Beweis ihrer
Existenz zu hinterlassen. Und so blieben von Valerie Hilpert und ihrer Mutter
für eine kurze Zeit nur Gerüchte und vague Erinnerungen, während Karl vergessen
weiterlebte, allein vor sich hinmurmelnd oder fast zahnlos kichernd. Frau Kim
Sebestyn zog sich nach Skt. Thomas zurück und übernahm die Rolle von Frau
Iversen als Plantagenbesitzerin, heiratete wie diese ihren Verwalter und überlebte
alle anderen.
Das Spiel begann von Neuem, erneut
mit Diskussionen, ob die Opfer bei 500° an einem Hitzeschock gestorben oder bei
etwa 300° verbrannt waren, mit der fehlenden Heiterkeit und ohne willige
Zeugen der Vergangenheit. Und die Verjüngung der Gütersloher Bausubstanz war damit
möglich geworden. Es gab keinen Kurt Gerstein, der Zeugnis ablegte, es gab
keine Diagnose, dass die Hauptdarsteller sich wegen abgebrochener
psychiatrischer Behandlungen bis zum Ende unter posthypnotischem Einfluß
befunden hätten, dass es einen dégénéré
supérieur gegeben habe. Dem Ereignis wurde mit seiner anthropologischen
Dimension die Zeugenschaft für das Ewig-Menschliche übertragen in der immer
wiederkehrenden Erwartung, Erfahrung sei nichts anderes als die Anwendung der
Lehren der Vergangenheit.
Die Überreste wurden in einem
sentimentalischen Museum um den Epitaph einer Söldnerarmee versammelt, das dem
seit einigen Jahrzehnten üblichen Usus entsprechend nach Abbau und Verdrängung
aller in der Endzeit errichteten Sperrzonen in Gütersloh errichtet wurde. Und
da das Ereignis nicht als Apokalypse erfahren wurde, brauchten die
Überlebenden nicht unbedingt Chinesisch können. Einige waren allerdings
darunter, da sie an der Partnerschaft zwischen der Schule am Hada-Tor in
Beijing und dem Stiftischen Gymnasium teilgenommen hatten und mit den
vergifteten Tauben die Marietta-Bar in die Schule geholt hatten.
Es gab allerdings auch noch die
Bürgermeisterin von Gütersloh, und diese dichtete in Anlehnung an ältere
westfälische Hausinschriften global auf Hochdeutsch: „O Leute, wie ist’s Euch
durch‘s Feuer ergangen, nachdem des Vaters Zorn war wider Euch entbrannt, Euer
Tempel war zerstört, viele unserer Schwestern und Brüder zogen betrübt in ein
anderes Land.“ Und sie überhöhte ein schlechtes Theaterstück, als sie bemerkte,
Gütersloh sei wieder nur ein Punkt in der Welt, während die Universität ihre
Rolle als Lehrerin aufgab. Doch nach nur wenigen Jahren wechselte ebendiese
Rolle und Kostüm und wurde, was alle Welt wird, Theater. Auf die glanzvolle
Periode der Entprovinzialisierung folgte jedoch zunächst die handfeste
Reprovinzialisierung.
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