Mittwoch, 12. September 2012

Lesender Weise 24



The end

Ein erster studentischer Jahrgang war nach fünf Jahren in laut formulierter Eupho­rie von allen Seiten mit ihren Titeln Bachelor of Art, Bachelor of Science, als Ma­ster und als Doktor gar in die Welt entlassen worden, um als Führungskräfte im Globaleinsatz tätig zu werden. Die Universität hatte dafür zweckgebundene Son­dermittel vom Bund erhalten. Das Bild anläßlich der Verabschiedung aus der Uni­versität ähnelte amerikanischen Collegefilmen und -serien mit einem happy end, wenn die Paraphernalia der Academia in die Luft geworfen wurden und die Haupt- und Nebenrollen reduziert auf ihre Öffentlichkeit voneinander Abschied nahmen, um die Welt zu erobern – und sie neu verstehen lernen mußten. Sie besetzten die Stellen in den Institutionen und Konglomeraten und Kombinaten, die von der Johannes-Universität mit ihrem durch finanzielle Potenz gewonnen Einfluß kon­trolliert wurden oder zum Teil erst geschaffen worden waren. Es waren die Besten und die Eingeweihten, die sich aus eben diesem Grunde nur formalen Auswahl­verfahren stellen mußten. Sie hatten mit ihren Professoren und Professorinnen Gebilde geformt, die sie jetzt mit ihrem Leben und für ihr Leben füllten. Sie hatten noch in der Aufbruchseuphorie Widerstandskraft gezeigt und mit ihrer Weigerung, ihr Studium als Instrument zum frühzeitigen Wechsel in das Berufsleben zu ver­stehen, den Erfolg fürwahr beschworen.
Sie begründeten ihre elitäre Konstitution mit einem Zitat des Lucian von Samosata, indem sie allerdings auf eine Quellenangabe verzichteten: „Weder Löwen, noch Bären noch Eber lieben einen anderen Mann ihrer Art. Sie werden in ihrer Lust nur zu den weiblichen Tieren getrieben. Was ist daran erstaunlich? Was wir kraft unseres Verstandes wählen, können Tiere wegen ihrer Dummheit nicht erreichen. Hätte ihnen Prometheus ode rein anderer Gott Verstand gegeben, lebten sie nicht in der Wüste oder im Wald und würden sich gegenseitig verschlingen, Sondern wie wir würden sie Tempel errichten, in Häusern am Herd leben und sich gemeinsamen Gesetzen unterwerfen. Durch die Natur fehlen ihnen die Gaben, die man nur durch den Verstand erwirbt.“ Den Rest unterschlugen sie: „Ist es da verwunderlich, dass in dadurch unter anderem die männliche Liebe entgeht? Lö­wen lieben nicht einander, aber sie sind auch keine Philosophen, Bären lieben nicht einander, aber sie können auch nicht die Schönheit der Freundschaft verste­hen.“ Und sie unterschlugen noch mehr.”
Diese Absolventen machten ihre Erfahrungen, wie gut ein ungestörtes Einflußsy­stem funktioniert. Die besten aus dieser Elite, Ergebnis der Hochleistungsoberstufe des alten Stiftischen Gymnasiums, sollten die Fackel weitertragen und von ihren Professoren an diese Aufgabe herangeführt werden. Immer weiter blühte die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden und in der Forschung war die Teil­nahme aller Berechtigten, also auch der Studenten gesichert. Es gelang für die eigenen Schüler, die beglaubigt und gefördert in die Welt ihrer Lehrer entlassen wurden.
Nun war damit das Netz gesponnen – und was tun mit der nächsten Generation zur Perpetuierung des Paradieses, das die Gleichaltrigen anfingen altbacken zu finden, die jüngeren nicht mehr suchten? Diese nun erfuhren den weiteren Weg beim Ver­such, auf ähnliche Posten zu gelangen oder sich wissenschaftlich weiter zu qualifi­zieren. Und dabei merkten sie, dass sie exorbitanten Wissensvermittlern, denen das Wissen längst ausgegangen war, ausgesetzt gewesen waren. Helenas Betreuer nahm Kapitel ihres Dissertationsentwurfs mit auf eine Auslandsreise und ließ zwi­schen Weihnachten und Ostern nichts von sich hören. In den nächsten fünf Jahren bekam Sylvia die Gelegenheit, fünf oder sechs Mal mit ihrer Betreuerin kurz zu sprechen, die ihr bei diesen Gelegenheiten sagte, dass sie auch ohne Betreuung gute Fortschritte mache. Als Angela in einer ähnlichen Situation sich verlassen fühlte, durfte sie sich telephonisch bei Frau Professor Grebenstein ausweinen. Jakob hatte den Eindruck, dass die für sein Projekt eingeworbenen Drittmittel willkommen wa­ren, er jedoch so schnell wie möglich verschwinden solle. Thomas verstand schließlich nicht mehr den Sinn einer Doktorarbeit, die von allen mit trivialer Duldsamkeit gesehen wurde, während die Angehörigen des Instituts einander ihre egos massierten, indem sie aufzählten und einander erzählten, in welchen Stiftungen sie als Nutznießer oder Gutachter tätig waren. Es gab auch die umgekehrte Erscheinung, so wenn Rebeckas Betreuer dauernd kritische Bemer­kungen machte und insinuierte, dass sie nur ihren Eltern zu Liebe die Promotion anstrebe. Und je eifriger sie war, um so mehr Aufgaben wurden ihr aufgebürdet, so dass sie schließlich jeden Kontakt mit ihrem Betreuer vermied. Susanne hatte sich noch nicht einmal drei Monate mit ihrem Thema beschäftigt, als ihr bereits die Zweifel ihres Betreuers an ihren Fähigkeiten zugetragen wurden. Angela wurde durch immer neue Kritikpunkte aufgehalten, wurde aufgefordert, bestimmte Passa­gen aus ihrer Arbeit herauszunehmen – die dann in publizierten Arbeiten ihres Betreuers – wie, Sie lassen nicht forschen? – erschienen. Sie erfuhr auch, dass ihre Betreuerin im Institut über sie Klatsch verbreitete, während ihr selbst seltene zehn Minuten und im Vorübergehen ein „Hallo, Angela“, gewährt wurden. Es schien als würden sie alle gedrillt, jede seltene Bereitschaft ihrer Betreuerinnen und Betreuer als Akt der Gnade zu verstehen. Einige Betreuer wollten Entwürfe sehen, andere auf keinen Fall, und so erinnerte das Verfahren von Tag zu Tag mehr an Gefäng­nisreformen des späten 19. Jahrhunderts, als Häftlinge dazu verurteilt wurden, den ganzen Tag eine funktionslose Kurbel zu drehen. Kathie hatte das zunächst so erscheinende Glück, einen Betreuer zu finden, der ermutigend und überaus positiv auf ihre Überlegungen reagierte. Als sie glaubte, auch konstruktive Kritik einfor­dern zu dürfen, wurde die Frequenz der Treffen erhöht, es kam zu Einladungen ins Restaurant und nach Hause und keineswegs zu allgemeinen Partys, bei denen sie mit ihrem schwingenden Rock die Gläser vom Tisch fegen konnte. Schließlich sah sie keinen anderen Ausweg mehr als das Betreuungsverhältnis zu beenden. Und doch war er längst nicht so impertinent, wie der in einer zweiten Berufungswelle an die Johannes-Universität gelangte Friedrich Kunzel, der Sozialmanagement – die immer wiederkehrende Frage unter den Kollegen war, was das sei – lehrte, ursprünglich aber katholische Theologie hatte studieren wollen, bis ihn seine nicht zu sublimierenden Triebe in Gewissensqualen stürzten und ihn veranlaßten, ihnen sündig und ständig nachzugeben und die Loyalität seiner Kollegen und Kollegin­nen für die Freiheit des fleischlichen Geistes einzufordern.
Justus hatte mit Frau Kim-Sebestyn eine inzwischen zur Weltautorität, zur Riesen­muse und Riesenmutter gewordene Betreuerin, in der Präsentation von Kunst in­strumentell-technisch hervorragend wie Madonna, ein Kunstwesen, ohne pädophi­le Rätselkostüme und dennoch verlockend, eine der Siegerinnen über die vater­rechtliche Gesellschaft, die immer als Beraterin oder als Teilnehmerin an Talk­shows unterwegs war und zu Hause ihren Studenten als Blick in die Zukunft Prak­tika im Uniseum, überwiegend bestückt mit ihren Leihgaben, aber eben auch mit spannenden Laboranordnungen – wie hören Elefanten einander? – verschaffte, da­mit sie museumspraktische Kompetenzen wie in Vitrinengestaltung und Muse­umsführungen erwarben und somit mit ihrer höheren wissenschaftlichen Qualifi­kation Aufgaben erfüllen konnten, die entweder schlecht bezahlt oder sehr viel besser ehrenamtlich wahrgenommen wurden. Zunächst war sie sehr engagiert ge­wesen und hatte Justus lange Literaturlisten zu seinem von ihr vorgeschlagenen Thema zu modernen Museumskonzeptionen in die Hand gedrückt. Er sollte über das Ding an sich statt des Objekts seine Forschungen durchführen, das Museum als Ort, an dem man mit dem Ding wie auf dem germanischen Thing kommuniziere. Hierin war sie eine der wenigen Kunsthistoriker, die die Anregungen des franzö­sischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour aufgegriffen und weiter­verfolgt hatte, wie sie sich auch mit anderen soziophilosophischen Entäußerungen ausein­andergesetzt hatte, so mit dem von Kamper en passant postulierten auditiven Zeitalter, in dem die Bilder sprechen lernen müßten, um sich dem Beschauer mitzuteilen. Dann aber hatte sie nie Zeit für ein Gespräch und verlor sogar die er­sten drei Kapitel der Arbeit.
Natürlich waren dies die jammerlappigen realitätsfernen Studenten, die nicht ver­gessen konnten, aber auch nicht verstanden, die Situation für sich zu nützen oder zu erkennen, wie sie das überwiegende Desinteresse zu ihren Gunsten als Bergstei­gerhilfen benutzen konnten. Selbst ging Frau Kim-Sebestyn bald neue Wege. Sie gehörte nicht zu denen, die einen im Museum vergessenen Staubsauger für einen Jeff Koons hielten. Bis sie nicht wußte, ob dieses Millionenobjekt tatsächlich zur Sammlung des MOMA gehörte, beschränkte sie sich auf einen intelligenten Ge­sichtsausdruck und wartete auf die Begeisterungsstürme ihrer Begleitung. Sie war bereits als Kind mehr zufällig in eine frühe dadaistische Ausstellung der Nach­weltkriegszeit geraten und war durch Duchamps Schere in Plexiglas bereits damals für die Schönheit funktionaler Formen – ob sie auch funktionierten? – sensibilisiert worden. – Das war etwa zur gleichen Zeit gewesen, als sich Karl in die Bilder Os­kar Schlemmers verliebte. – So war sie eine engagierte Verfechterin des Museums als Depositio und nicht als Ort der Expositio und klammerte sich zum Beweise an die Aussagen der großen Künstler des 20. Jahrhunderts. Diese Vorstellungen ver­suchte sie, auch in eine Gütersloher Museumslandschaft umzusetzen, reagierte aber mit einem Tadel, wenn Kritik an der Hängung eines der Form nach immer noch konventionellen Bildes laut wurde, weil sie nicht den Intentionen des Kün­stlers entsprach: „Man kann einen Museumskomplex nicht jedem Kunstwerk an­passen.“
Und doch: Justus wurde Opfer der wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Betreuern und Prüfern, was bedeutete, dass er zwischen beiden zer­rieben wurde und ratlos wie in einem Palindrom vor und zurücklief. Der eine hatte die frühen Publikationsaktivitäten unterstützt, der andere hielt es für eine Invasion seiner Wissenschaftsdomäne.
Robert hatte sie das Thema gegeben, „Wie Bilder lügen – der Betrug der Natur­wissenschaften an der Realität“, er sollte für sie die eingefärbten Photos aus dem Weltraum analysieren, und beide gaben sich auf halbem Wege der Illusion hin, zur Diskrediditierung einer modernen angemaßten Leitwissenschaft beigetragen zu ha­ben. Zwar verfügte nach einer gewissen Zeit die Kunstgeschichte über den größten Fundus wissenschaftlicher Photographien in irgendeiner deutschen Institution, doch wurde diese Arbeit nicht mehr vor dem Untergang Güterslohs abgeschlossen, obwohl Robert unter den Jungen einer der Verbündeten der etablierten Moderne blieb und eben diesen Untergang im fernen Houston, Texas überlebte und erst in der Emigration wieder zu seiner Doktormut­ter stieß und wieder – Jahre später – die Fackel der Aufklärung in die Berliner Humboldt-Universität hineintrug.
Petra hatte ihre Arbeit längst abgegeben, und Professor Schneider gab sie ihr nach einem Jahr mit der Bemerkung zurück, sie sei veraltet. Er schlug ein anderes The­ma vor, er schlug einen anderen Betreuer vor. Er empfahl Petra anderen Kollegen, lehnte sie selber ab, machte die fünfzigste Wendung und drehte sich so lange bis er sich überhaupt nicht mehr an Petra erinnern konnte. Immerhin war dies ein Grund für das Rektorat unter Frau Professor Grebenstein, eine kollektive Promovierung Petras durch den Nucleus Political Governance durchzusetzen und sie mit blenden­den Noten aus Gütersloh zu verabschieden. Dass sie in den Lehrkörper aufgenom­men wurde, konnte im letzten Moment durch andere Versprechungen abgewendet werden. Stattdessen wurde sie, nachdem sie den Sperring um Gütersloh überwun­den hatte, Sachbearbeiterin im Bundeswissenschaftsministerium und so schließlich doch so integriert, dass sie ihre ursprüngliche Unterschrift unter eine Resolution gegen die Selbstbefriedigung der Dozenten zurückzog – ein kurzer Erfolg des noch immer fortschrittlichen Establishments, das Vermeidungsstrategien aus dem eige­nen Machtkampf internalisiert hatte.
Ältere Studenten, die den Weg der Weiterbildung gewählt hatten, hatten sich, ein gefördertes Selbstverständnis unserer Gesellschaft seit mehreren Jahrzehnten, von ihren Familien aus einem früheren Leben emanzipiert, hatten neue kongeniale Partner gefunden und, wie Julia, dadurch die Verbindung zu ihren Kindern, Tim und Tina, verloren, die sie nicht mehr erkennen wollten und sie bei immer seltener werdenden Begegnungen nur noch schweigend anstarrten, bis beide Seiten schließlich erleichtert auseinandergingen. Und so war die neue Lebensplanung Fluch und Gottesgeschenk. Nichts davon war justiziabel und einklagbar wie ameri­kanische Schadensersatzsummen.
Die Präsidialspitze der Johannes-Universität streute die Erhebungen von Personal­beratungsfirmen – so dass auch weitere Dienstleister profitierten –, aus denen die Studenten erfuhren, dass sie als Geschäftsführer oder zumindest leitende Ange­stellte zwischen 50.000 und 1 Mill. bzw. 30.000 und 500.000 € verdienen könnten. Sie verglich ihre Absolventen mit denen der 1898 gegründeten Handelshochschule Leipzig. Leipzig Graduate School of Management. Dort erzielten mehr als die Hälfte der Absolventen Einstiegsjahresgehälter von über 50.000 €. Dieses Ergeb­nis habe der erste Jahrgang der Johannes-Universität um etliche Prozentpunkte übertroffen. Angenommen wurde ein Reihe bis unendlich. Manchmal wurden auch in unserer modernen Zeit mit checks und double-checks die entsprechenden Erhe­bungen verwechselt, wenn die Jahresgehälter (Median) für Spezialisten und Mana­ger verschiedener Branchen zum Beweis für die eigene Effizienz vorgestellt wur­den. Welche Stellen kamen denn sonst für die Absolventen einer Eliteuniversität in Frage? Und die untere Grenze wurde doch nur aus wissenschaftlichem Ethos her­aus genannt. Stephan als Biochemiker strebte die Promotion an und hatte etwa 18.000 € netto im Jahr zur Verfügung, Charlotte hatte Business Management abge­schlossen und verdiente danach etwas mehr als 30.000 €, Kathrin war Juristin und hatte eine Stellung für etwa die gleiche Summe in Aussicht, Karoline ebenso und auch Danielle, obwohl sie gar nicht abgeschlossen hatte, Joseph und Sarah waren bereit, fast für jede Bezahlung eine nicht zu findende Arbeit als Raumfahrtphy­siker respektive Psychologin anzunehmen. Zu den regelhaften Gewinnern gehörte Andrea, die sich in Usbekistan als Touristikchefin hatte verkaufen können und Einkünfte sowohl vom usbekischen Staat als auch von internationalen Entwick­lungsinstitutionen bezog und überdies eine Gewinnbeteiligung vereinbart hatte, die denen in den neuen Verträgen von Fußballstars in nichts nachstand. Es war nicht verwunderlich, dass sie zu den tumultuario primatum ductu contenti gehörte.
Zu den Gewinnern gehörten zunächst auch die Professoren, die unter dem Deck­mantel der Drittmitteleinwerbung Gebühren für die Prüfungsbetreuung und sich zu Akademiemitgliedern erhoben. Hinzu kam die versteckte Förderung nicht mehr der Tabakindustrie – diese hatte in Gestalt der Fa. Reemtsma längst sinnentleert und nur mehr aus ästhetischen Gründen eine kostbare Plakatsammlung gestiftet, darunter Lucian Bernhards Affiche für Manoli-Zigaretten, Ludwig Hohlweins Empfehlung für Riquet-Tee, Xanti Schawinskys erotisch aufgeladene Werbung für Olivetti, Jupp Wiertz‘ japonisierende Empfehlung der Kaloderma-Seife, Ernst Kutzers für Günther Wagner mit schwarzer Tusche herumklecksender Pelikan und Edmund Edels signifikanten Hinweis auf die Berliner Automobil-Ausstellung von 1906, schließlich auch Arbeiten von Duchamp, Cassandre und selbst Kokoschka und nicht zuletzt frühe Werbeplakate Gütersloher Firmen, wie z.B. für die Fahrräder de Firma Miele um 1930, und parat zur Belehrung des Beschauers stand ein vollständiger Satz der Zeitschrift Das Plakat in sieben Bänden und neunzehn Heften im Regal –, sondern längst waren es Mittel der Bundesagentur für Arbeit, mit der Forschungen zur günstiger werdenden Arbeitsmarktlage durchgeführt wurden. Man griff auf die Aufrufe des Auswärtigen Amtes aus dem Jahre 1971 zu­rück: „Der höhere Auswärtige Dienst braucht junge Beamte, die im In- und Aus­land, auch in tropischen Klimazonen und unter schwierigen Lebensbedingungen, zu arbeiten bereit und imstande sind.“ Man zitierte dazu die Besoldungstabellen der Gegenwart. Die Dozenten und Dozentinnen werteten ihre persönliche Hausse zum Verständnis der Welt aus und erklärten ihre fortschrittliche Lehre. Sie hatten erfahren, wie man sich als alerte Persönlichkeit von Job zu Job hochhandeln konn­te, als erfolgreicher Macher nicht mehr die Mobilität ihrer Studenten einfordern und überdies zur Tugend erklären konnte. Die Ochsentour von vielleicht zehn Jah­ren im selben Betrieb, um Vertrauen und spärlichen Lohn zu gewinnen, das konnte doch nicht der Weg der von uns ausgebildeten Elite sein, der man unter anderen und schlechteren Bedingungen nur achselzuckend erklären konnte, dass einige universitäre und Faktoren der ökonomischen Praxis dem erprobten wissenschaft­lichen Ausbildungsmodell leider nicht gefolgt waren. Und weiter verkauften sie den gesunden Menschenverstand als Innovation, wenn sie ihren Studenten die fünf Gebote eines guten Managements vortrugen: 1. Erledige immer nur eine Angele­genheit zu einer Zeit, 2. Erkenne das Problem, 3. Lerne zuzuhören, 4. Lerne zu fra­gen, und 5. Lerne, Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Damit wurde die aus Herr­schaftswissen gespeiste Transparenz gewonnen und vertreten.
Statt auf Überlegungen des 18. oder 19. Jahrhunderts griffen die Entscheidungs­träger auf Listen der Zentralen Arbeitsvermittlung aus dem Jahre 1971 zurück, die inzwischen von der Bundesagentur und Job-agencies fortgeschrieben und mit zeit­genössischeren Bezeichnungen versehen wurden. Die geistes- und sozialwissen­schaftlichen Fächer vermittelten angeblich immer noch Allgemeinbildung, aber eben nicht die harten Fakten, die unmittelbar von jedem erkannt werden konnten. Man wählte Obergruppen wie „Bildungswesen“, man mußte frühere Ober-, jetzt Untergruppen eliminieren, weil es sie nicht mehr gab, wie z.B. die Pädagogischen Hochschulen. Diese waren nach Überzeugung unserer Entscheidungsträger zurecht jetzt seit Jahrzehnten mit den Universitäten zusammengefaßt worden. Dafür aber gab es die Möglichkeit, sich an Fachhochschulen und Fachschulen zu profilieren. Im weiteren Bildungswesen, den Volkshochschulen, den Schulen in privater Trä­gerschaft und in den Goetheinstituten waren die Posten der Leiter und allenfalls auf der nach unten nicht offenen Richterskala die Posten der Referenten für die Absolventen offen. Und keineswegs zuletzt steht der Weg zur Selbstreproduktion offen, indem man sich in die Bildungspolitik und –planung begibt, obwohl bis heute das Didaktikdefizit – Didaktik ohne Inhalte – bei all denen beklagt wird, die nicht planen. Die zweite Obergruppe ist das Dokumentationswesen von Archiven über wissenschaftliche Bibliotheken bis hin zu öffentlichen Büchereien, die dritte die mediale Kommunikation angefangen von den Verlagen und Buchhandlungen über Presse, Rundfunk und Fernsehen, heute natürlich nicht nur mit all den Mög­lichkeiten des e-learnings, sondern darüber hinaus mit der gesamten Bandbreite der modernen digitalen Technik. Natürlich wird diese Obergruppe fein ausdiffe­renziert, um die Bandbreite der Beschäftigungsmöglichkeiten zu verdeutlichen. Du bist es selber schuld, wenn du nach all den guten Ratschlägen keinen Erfolg hast. Obwohl es mit den anderen Obergruppen Überschneidungen gab, folgt man dem Zeitgeist und schafft eine weitere, die „Eigeninitiative“, „Selbständige Tätigkei­ten“ genannt wird, zu denen PR-Tätigkeit ebenso gehört wie der Einstieg in die Managerkaste, aber ebenso der Ein-Euro-Job und die doch heute so beliebte Teil­zeitarbeit, in Anlehnung an die guten alten Zeiten, wenn in Francos Spanien für eine Person drei Jobs zur Verfügung standen, um den Tag zu füllen. Spanien ist überall. Es gibt Arbeit. Die letzte Möglichkeit ist der „Globale Markt“, der Ein­stieg in den deutschen diplomatischen Dienst, die Arbeit in den NGOs und schließ­lich in der EU und in der UNO und deren Unterorganisationen. Es ist beruhigend, dass die Welt sich doch nicht so schnell ändert, sondern nur das Vokabular. Dies galt auch für den Versuch, durch historische Analogien den Elan neu zu entfachen. Deutschland hätte nach 1989, so wie 1870, beginnen sollen, die Chancen der Ver­einigung, die in beiden Fällen eine Wiedervereinigung war, zu nutzen. So wie Deutschland 1865 weniger Stahl produzierte als Frankreich, 1900 jedoch bereits mehr als England und Frankreich zusammen, so hatten wir nach 1989 die Chance, die USA, Japan und China mit unserem Innovationsschub zu düpieren.
Und schließlich wurden sie vertröstet wie die Minderheiten im türkischen Fern­sehen. Die bosnischen Türken bekamen eine halbe Stunde, obwohl sie gar nichts brauchten, die Kurden mehr Zeit, obwohl sie längst ihre Satellitenschüsseln auf die ganztägigen kurdischen Sendungen aus dem Norden des Irak eingestellt hatten. Man wollte ihnen das Etikett einer aggressiv unterwürfigen Menge anheften. Ob­wohl sie ausgebildet waren, wurden die Absolventen weitergebildet. Es dauerte keine fünf weitere Jahre mehr und die Massen der prospektiven Manager und Wel­tenlenker, die man durch die Sozialwissenschaften geführt hatte, marschierten durch das Rote Meer der Desillusionierung auf Gütersloh, Bremen, Witten-Her­decke, Koblenz, Berlin, Oestrich-Winkel und andere Orte der Wissensgesellschaft, um der Sprachverwirrung ein Ende zu bereiten und die versprochenen Stellen im gehobenen Management einzufordern, während eine Mehrheit sich in vergeblichen Boykotts versuchte, eine Minderheit auf den Uferwegen entlang Dalke und Ems im Rausch versumpfte, einzelne sich neben der Universitätsbibliothek oder auf dem Universitätssportplatz wahlweise verbrannten oder erschossen, namenlos alle, weil morgen schon vergessen. Aber die Mehrheit marschierte wie Joseph, den sei­ne Brüder nach Ägypten verkauft hatten, gegen die Anweisungen, die jetzt leader­ship hießen, gegen die langen bürokratischen Wege, die zu flachen und damit ebenso langsamen Hierarchien geworden waren, gegen die Kommissionen, in de­nen management by discussion umgesetzt wurde. Karl erinnerte sich an den Pro­fessor Brühl, der das Tempo charkterisiert hatte, mit dem im Mittelalter soziale Hierarchien durchschritten wurden, in vier Generationen vom Leibeigenen zum Hausmeier. Oder an das späte Mittelalter, als Handwerker zu Ratsherren wurden. Die repressive Toleranz der Universitätsspitze hatte sich bereits im Vorfeld unter dem Druck der erkennenden Unzufriedenheit in unterschiedlichste Erlasse gleicher Intention verwandelt, z.B. „Flugblätter, ausdrücklich benannte Streikziele etc. einzusammeln und an den Bereich „Changemanagement/Personal“ weiterzuleiten, die diese zur Neutralisierung an das „Contentmanagement“ übergaben. Insbeson­dere bei Pressekontakten ist die Weitergabe von Informationen ausschließlich über den Geschäftsbereich „Unternehmenskommunikation“ sicherzustellen. In den je­weiligen Einrichtungen sollen Leitungskräfte bestimmt werden, um die Studien- und Prü­fungsverweigerung zu begleiten, Einzelheiten schriftlich zu dokumentieren und diese an den Geschäftsbereich „Changemanagement“ weiterzuleiten.“
Justus erkannte in einem lichten Augenblick, wie sehr auch das Gütersloher Uni­versitätsmodell zur Entstehung des kultivierten und intelligenten kongolesischen Stammes der Lele – allerdings ohne Amusement – beitrug. Um die Erniedrigung der älteren Generation durch Verlust der Macht zu vermeiden, waren dieser im Laufe der Zeit so viele Rechte zugesprochen worden, die den klassischen Rechten der Vielweiberei und der Verfügbarkeit über Grund und Boden so sehr entspra­chen, dass die Folgegenerationen zu Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit ver­urteilt waren. Damit wurde die Balance zwischen den Generationen immer em­pfindlicher und mußte bis zu einem bitteren Ende durch imer neue und kom­plexere Konventionen stabilisiert werden.
Die armen törichten Protestierer erkannten den neoliberalistischen Zug, der die Planwirtschaft über Zielvereinbarungen und Controlling in die Universität hinein­getragen hatte. Es wurden zwischen der Universitätsleitung und den verschiede­nen Untergliederungen im Rahmen strategischer Fünfjahrespläne Zielvereinba­rungen getroffen, die bedeuteten, dass man innerhalb des Systems jährlich unten evaluierte und jährlich nach oben rapportierte, wie weit die erreichten Resultate den Zielvereinbarungen entsprachen. Mit vielen von ihnen hätte man sich nicht verbünden wollen unter anderen Bedingungen, wenn die Resentiments von Jahr­zehnten hochquollen, von Bonzen und Spekulantentum gemurmelt, bürgerliche Spießigkeit und Scheinmultikulturalität wie in Babylon an die Wand gezeichnet wurden. Dann hätten manche, voran Angela, und wären sie mitmarschiert, auch Professor Mann und Karl, den egoistischen – oder anders gesagt: sehr kreativen – Komödianten, die sich in Gütersloh eingeschlossen hatten, den Vorzug gegeben vor der selbstgerechten Wahrheit. Über Angela senkte sich eine noch größere Trauer. Sie alle hatten die Erfahrung gemacht, dass der französische Protest „heute keine Forschung!“ wirkungslos verpufft war, und so marschierten sie gegen jene, die auf die entscheidenden Posten gesetzt worden waren, weil sie über die besseren Netzwerke verfügten. Herr Krüger ist der bessere Wissenschaftler, aber Frau Lahnberg hat die besseren Verbindungen, aus denen sich Geld, Ruhm, Be­kanntheit und langfristige Entwicklungen auch für dritte generieren lassen.
Sie hatten keinen Führer, der ihre keineswegs zusammenhangslosen Ressentiments in Worte fassen mußte. Sie waren zu desillusioniert, den Vorbildern aus Serbien, Georgien oder der Ukraine, Otpor oder Pora, zu folgen und mit ihren Körpern die Abfahrt gefährlicher Busse zu verhindern. Sie waren sich viel zu wenig ihrer poli­tischen Kraft bewußt, untereinander unzufrieden, zerstritten, glücklich und un­glücklich verliebt, wurden in einer Liebesbeziehung verlassen und trugen damit wieder das Leid der ganzen Welt in eben diese hinaus. Es fiel so vielen von ihnen natürlich zu hierarchisieren, so dass sich immer neue Abhängigkeiten aufgebaut hatten, Cliquen geschaffen und Abgrenzungen vorgenommen wurden, die zu allem Über­fluß auch noch im fast öffentlichen email-Verkehr dokumentiert wurden und nicht mehr zurückgenommen werden konnten. Immer wieder brach die gemein­same Front auseinander, so dass schließlich nur die gemeinsame Katastrophe übrig blieb
Umgekehrt war die Zahl der Profiteure zu klein, um ihr imaginiertes Alexandria zu verteidigen. Aber sie, die nicht dazugehörten, hatten als Führer die Neugierigen, die durch Forschungs- und Arbeitszeitgesetze gezwungen worden waren, in die in­nere Emigration zu gehen, sie hatten die Alten, deren Gehirne mit 65 Jahren zwangsweise abgeschaltet werden sollten. Sie hatten als Gewissen Pierre Guby, der als einziger der alten Riege und nicht senil ihre Desillusionierung teilte und dafür in Kauf nahm, von den sogenannten Kollegen als Doppelspion entlarvt und verachtet zu werden, da es nicht um Augenblicke der Wahrheit, sondern um den archetypischen Urzustand der Nibelungentreue ging. Allerdings beteiligte er sich nicht aktiv, sondern saß aufmerksam schweigend gelegentlich mit den jungen Leu­ten zusammen, eingesunken in die Mitte eines alten durchgesessenen Sofas, wäh­rend Angela und Lukas spannungsgeladen und sprungbereit rechts und links von ihm auf der Kante hockten und dabei sich selber vergaßen. Ein seltenes Mal zeigte er ihnen ihre Zuneigung, wenn er ihnen anzüglich freundlich dafür dankte, dass er Teil ihres clusters of excellence hatte sein dürfen, in der sicheren Überzeugung, dass sie, obwohl jung, gelernt hatten und denken konnten – aber doch auch manch­mal ohne ihn sein müßten, um dann über sie hinwegstarrend resignierend zu sagen: Vellem litteras nescirem.
Die einzigen, die ihn später noch verehrten, waren die Einwohner des Kirchspiels Isselhorst, wo er gern in der ehemaligen Post, einem späteren Schuhgeschäft, das er als Bleibe übernahm, gewohnt hatte, weil ihm die Etymologie des Namens Esels Horst und die klassische Verbindung von Landwirtschaft und einfacher Tex­tilindustrie so gut gefiel und er sich nie mit der wahrscheinlicheren Erklärung Giselas Horst anfreunden konnte. Sie errichteten ihm eine Art Hühnengrab mit zwei Bänken, um verdiente Ruhe zu finden als wäre es sein Sesenheim und mit einer Inschrift „Zu gut für eine Welt von Mängel, eilst du ein spät verklärter Engel, dem Himmel, deiner Heimat zu“. Auch einige seiner Studenten versuchten in ihrer fiebrigen Trauer ihn dadurch zu ehren, dass sie seine unveröffentlichte Autobio­graphie auf eigene Kosten veröffentlichten und ihn der Lächerlichkeit derer preis­gaben, die in Gubys Augen nie gezählt hatten, weil sie aus Respekt und Verständ­nis nicht private Details entfernten, die erste peinliche, jugendliche, ununterdrück­bare Erektion beim Tanz mit einer doppelt so alten Frau, den ersten unglückseligen Versuch in einem Bordell als étudiant en goguette. Aber ihm wären diese Enthül­lungen nicht peinlich gewesen, viel peinlicher die Zuneigung seiner Studenten, die über ihn im Geleitwort schrieben: „Er verwandte unglaublich viel Zeit und Kraft auf seine Studenten, gleichgültig, ob sie Anfänger waren oder sich bereits für die weite Welt jenseits von Gütersloh emanzipierten. Er verwandte eben solche Kraft auf die Inhalte, wenn er uns Studenten die Bedeutung des Sprachenerwerbs nahe­bringen wollte mit solchen Bemerkungen wie: ‚Ich habe eine Reise ins Ausland vor, allerdings nicht in die Sklaverei nach Algier wie Hermann Winkelhannes, der polyglott nach siebzehn Jahren zurückkehrte, aber seinen westfälischen Dialekt vergessen hatte und so nur noch als Lektor für arabische Dialekte geeignet war, ich wünsche im Gegenteil, mit den Eingeborenen zu verkehren und zu wissen, warum das Schiff, auf dem ich fahre „Kongen af Assianthe“ heißt: dies kann ich nur, wenn ich ihrer Sprache mächtig bin. Das sind die nächstliegenden Gesichtspunkte, wenn wir Lateinisch, Griechisch und Hebräisch lernen.‘ Natürlich war er der Men­tor, aber er war auch unfreiwillig der große Bruder am anderen Ende des Tele­phons tagsüber und nachts, wenn man ein wissenschaftliches Problem oder nur eine persönliche Krise hatte. Er war immer aufrichtig, immer ehrlich in seiner Be­urtei­lung, aber dies hilfreich und konstruktiv. In seiner Güte brachte er nur Gutes in diese Welt.“
Von Seiten der Universitätsspitze floh man in den Chauvinismus der Schwäche und nannte diese Reaktionen fehlende Solidarität. Seinen Kollegen hatte er, als er noch nicht resignierte, schalkhafter als vor Jahren anläßlich der Gründungsfeier­lichkeiten die Bürgermeisterin von Gütersloh die Leviten gelesen: „Die Menschen haben jetzt, was sie wollen, die größte Freiheit im Denken und Handeln. Nichts ist so abgeschmackt, dass das Denken es nicht zu ergreifen, die Zunge es nicht auszu­sprechen wagt, nichts so dreist, dass die Begehrlichkeit sich nicht daran zu machen, die Hände es nicht in Angriff zu nehmen wagen.“
Zum ersten Geburtstag nach seinem Tode versammelten sich noch einmal seine Freunde und Feinde. Der Balzan-Preis war zu bedeutend als dass man sich einer solchen Ehrung ohne folgender übler Nachrede hätte entziehen können. Seine Schüler erzählten liebevoll Anekdoten über ihn, Frau Kim-Sebestyn als Vertreterin der Universität konstruierte seine Bedeutung für diese, auf dass man einen Nachmittag lang daran glaube. Dazwischen schoben sich vorgetragene Sentenzen aus seinen Werken und Skripten umrahmt von musikalischer Begleitung durch einen sogar regional bekannten Baß-Bariton, der vor lauter Expression gelegent­lich sein Gesicht zu verlieren drohte, dem die Augen aus dem Kopf zu fallen schienen und dessen Ringe an Zeigefinger und Ringfinger der rechten Hand immer wieder sein kaum vorhandenes Bäuchlein illuminierten. Der Nachmittag trödelte dahin gemischt mit Offenheit, Kalkül und Vorbehalten, mit Schulter­klopfen und Wiederbelebungsversuchen früherer Kommunikationsfähigkeit. Einige waren noch einmal nach Gütersloh gereist für einen Tag, von Montreal, Berlin oder Bonn, um am selben Tag noch die Rückreise anzutreten.
Nicht von Guby initiiert, nur unwissentlich angeregt, entstand in seinem Rücken die einzige studentische Gruppe, die in der diffusen Protestbewegung so etwas wie ein eigenes Profil hatte. Das waren die WOGs, die sich so nannten, weil ein anderer Säufer in Wiedenbrück ihrem Palaver zugehört hatte und dann fragte, ob sie etwa die Tierärzte ohne Grenzen seien. Sie waren ein loser Verbund und nur wenige wollten tatsächlich, typisch für eine vorsichtige, desillusionierte Jugend, wirklich Farbe bekennen. Diese vague Stimmung brachte schließlich auch nicht mehr als Georg Herweghs viertägige Irr- und Wanderfahrt mit der Pariser deutsch-demokratischen Legion in Deutschland und deren Ende durch die Württemberger bei Dossenbach zu Stande, und es war anzunehmen, dass die Überlebenden in der Zukunft verbittert und ohne Verständnis für die immer neuen realistischen Umsetzungen in einer neuen Gesellschaft enden würden.
Angela, inzwischen mit Lukas liiert, weil sie ein seltenes Mal Guby zwischen sich vergaßen und dann wieder so sehr an ihn denken mußten, dass sie ihn miteinander teilen wollten, hatte in der Frühzeit des Marsches einen Traum. Der Universitäts­campus war ein riesiges Schiff. Sie alle, auch Pierre Guby trugen Matrosenanzüge. Dann befahl Guby: „Anker lichten! Leinen los!“ und das Schiff glitt davon. Am Rande von ground zero stand die Rektorin Grebenstein und stöhnte: „Das ist irre­gulär!“, und die restliche Belegschaft bildete den Chor: „Das ist irrrreguläääär!“ Man hatte allen Soziologen geglaubt, dass die Jugend der Gegenwart leidensfähig sei, nicht zur Revolution bereit. Am Ende hatten die Grebenstein und ihr Gefolge kaum noch Gelegenheit, die Trauerkleidung abzulegen, zu groß war die Gemeinde der jetzt betroffenen Profiteure. Alte Sitten und Rituale bekamen neue Lebendigkeit, dass immer häufigere Influenzaepidemien immer wieder gedeckte Farben erforderten.
Oft traf sich dieser Kreis, wenn er nicht artgerecht auf dem Mael-dun oder dem zu Ehren von Guby und seiner Polyglottie sogenannten ton guedet hinter der Hünen­burg zusammenkam, in der erst kürzlich entstandenen Kneipe, dem Chez André, hinter dem Cinemax hinter dem Bielefelder Hauptbahnhof. Diese war ein zwölf Meter langer und nur zweieinhalb Meter breiter Schlauch, in dem man dicht gedrängt am Tresen stand. Sie witzelten resigniert meist über sich selbst. Begei­sterten sich auch über Hitchcock-Filme, Kastrationsanspielungen oder ödipale Nu­ancen. Sie kannten die Musikszene so gut, dass sie zu einem Insiderzirkel wurden, wenn Lukas Favoriten aus der chinesischen, japanischen und selbst isländischen Popszene melodisch kurz andeutete, mindestens Textfetzen kannte, die Lächerlich­keit entlarvten. Von dort war es nicht mehr weit zu ad hoc Poesielesungen, fast Slams, jedoch ohne Musik. Dazu liefen nur schweigend in einer Endlosschleife Kindheitsvideos mit der schwatzhaften Sara Kuttner. Manchmal zog einer einen zerknitterten Zettel aus den Jeans hervor. Seltener war das ein bloßes sprachliches Experiment, das sich um die garstige Welt der Gegenwart nicht scherte, häufiger war die akademische Politsatire bis hin zur Obszönität. Ein großer Erfolg waren Anspielungen auf die euphorische Stimmung anläßlich der Universitätsgründung vor Jahren, deren Reden in gedruckter Form vorlagen und in gewisser Weise ver­gleichbar waren mit dem kleinen roten Buch des großen Vorsitzenden oder dem kleinen grünen, das einmal die Trikots der Iserlohner Eishockeymannschaft geziert hatte. Und die Begeisterung war groß, als Lukas vortrug: „Die Leptodeira annulata gleitet über das Blatt, leise, gefährlich und nimmersatt. Die Froschembryonen, sie spüren das und wollen sie belohnen, gleiten hinab in das rettende Naß, zu früh, um danach noch lange zu leben, doch mit der Chance, noch einmal einen zu he­ben.“ Oder sie luden alt und töricht gewordene Menschen zu Vorträgen ein, so wie es Karl an einem späten und warmen Sommerabend geschah, der aber nur in der La­ge war, in Analogie zur gegenwärtigen Situation alte, längst obsolet gewordene Pro­bleme der Sprachverwirrung einmal mehr umzuwälzen: „Überfordern wir nicht unsere nichtdeutschen oder nicht deutschstämmigen Mitbürger? Zunächst folgen wir dem Muster abstiegsbedrohter Fußballvereine mit der Forderung „Steht auf, wenn ihr aufrechte Borussen seid!“ Über Tage wurde auch in der FAZ nach dem Mord an Theo van Gogh gefordert, die muslimische Gemeinschaft im abendlän­dischen, von christlicher Kultur geprägten Europa solle aufstehen und bewei­sen, dass sie nicht zu Recht als Sympathiesumpf für den grassierenden muslimi­schen, offensichtlich überwiegend arabischen, Terrorismus angesehen werde. Dies scheint sogar für den Terrorismus indonesischer Provenienz weitgehend zu stim­men. Wenn dies dann aber für jemanden, der seit dem Ungarnaufstand von 1956 bis einschließlich heute nicht mehr auf die Straße gegangen ist, recht eindrucksvoll wie jetzt in Köln geschieht, zweifeln wir plötzlich und lauschen auf die unter­schiedlichen Töne, die verschiedene untereinander rivalisierende Organisationen der überwiegend offensichtlich nicht organisierten Muslime, diese in Deutschland wieder ganz überwiegend Türken oder türkischstämmig, von sich geben.
Erstens frage ich mich, ob wir inzwischen nicht nur in einer aus mehreren kultu­rellen Strängen bestehenden Gesellschaft mit unterschiedlichen historischen Er­fahrungen leben, gleichgültig, ob wir sie als multikulturelle Gesellschaft oder als Parallelgesellschaften wahrnehmen (siehe auch den erfreulichen Leitartikel von Volker Zastrow in der FAZ vom 26. November 2004), nicht nur in einer Gesell­schaft, in der eine spürbare Minderheit die Verkehrssprache Deutsch etwa so be­herrscht wie Immigranten in der angelsächsischen Welt Englisch bzw. Amerika­nisch – ich erinnere mich an meine Bleibe in London in der Cathnor Road in She­perds Bush in den späten fünfziger Jahren, in der viele Bewohner, einschließlich der Engländer, mit einem Wortschatz von maximal fünfhundert englischen Wör­tern, darunter ein unverhältnismäßig hoher Anteil liebenswerter ordinärer Füll­wörter aus dem Genitalbereich, und mit sympathischer Kleinkriminalität, z.B. mit dem Vertrieb gestohlener Fernsehgeräte, in einer überwiegend harmonischen Sym­biose zusammenlebten. Und dennoch kam es kurz danach zu den Rassenunruhen im benachbarten Notting Hill, heute in den Englischlehrbüchern unserer Schulen zum Glück zum Karneval der Kulturen mutiert, während für Rassenunruhen heute wohl eher andere Londoner Stadtteile oder die Städte in den Midlands zuständig sind –, sondern auch wir als Deutsche scheinen entweder nicht mehr über hin­reichende deutsche Sprachbeherrschung zu verfügen oder geben uns, häßlicher interpretiert, einer immer größer werdenden Doppelzüngigkeit hin. Vielleicht den­ken nur böse Menschen, dass unsere Lichterketten, unsere spontanen Proteste gegen Sozialabbau, gegen Hartz IV, gegen Rassendiskriminierung, gegen Neofa­schismus, gegen Atommülltransporte und für, für und für von interessierten und manchmal betroffenen staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisatio­nen bestellt oder zumindest erwünscht sind. Das Schöne ist, dass, solange ich poli­tisch korrekt, oft auch zustimmend, schweige, ich nicht in einer Busladung zum Ort des Geschehens gekarrt werde, sondern unbelästigt zu Hause bleiben kann. Sind nachweislich Frauen an ihren Kopftüchern und Männer an ihren Schnurr­bärten zur Kölner Demonstration gezogen worden? Ich nehme an, die Mehrheit war in der „Ditib“ organisiert und damit bereit, die formulierten Vorgaben ihrer Organisation zu akzeptieren. Ist der Bericht über die Demonstration in Köln über­dies der richtige Ort, sich über die tatsächlich oder angenommen fehlenden Deutschkenntnisse von Herrn Çakır auszulassen? Natürlich ist eine der wenigen Segnungen, in der Diaspora leben zu wollen oder zu müssen, die mögliche Zwei­sprachigkeit, also Schande über Herrn Çakır, aber der Moment erscheint mir doch für den Gebrauch des Türkischen sehr geeignet.
Zweitens glaube ich sehr wohl, dass man darüber streiten kann, ob die Türkei zu Europa gehört und zu dem begründeten Ergebnis kommen kann, dass nicht, weil sie noch in osmanischer Zeit bis auf Teile Thraziens ihre geographisch gesehen europäischen Gebiete eingebüßt hat, weil sie andere historische Erfahrungen ge­macht hat, dass man diese Frage aber auch anders diskutieren kann, wenn man in der Europäischen Union in erster Linie eine pragmatische Interessengemeinschaft im Sinne Franz des Ersten sieht und nicht den Hort abendländischer Werte mit den Grausamkeiten der Französischen Revolution – das Ergebnis heiligt die Mittel –, mit dem europäischen Sklavenhandel, mit der in Kauf genommenen Hungersnot in Indien 1877/78, mit dem britischen Burenkrieg, dem Einsatz von Gas im Ersten Weltkrieg, dem Bombenkrieg im Zweiten und dem deutschen Versuch der voll­ständigen Ausrottung der Juden im Gegensatz zum armenischen Genozid oder der bis vor kurzem praktizierten Kurdenpolitik oder einer immer noch bedenklichen Justiz. Allerdings hat unser ehemaliger Staatssekretär des Ministeriums für Vertei­digung sicherlich nicht ohne Grund so schnell seiner Auslieferung von Frankreich nach Deutschland zugestimmt, da Marion von Haaren uns inzwischen das Santé-Gefängnis vorgestellt hat. Wir hören, sehen und lesen auch vom türkischen Straf­vollzug. Er kann uns in vielem kaum gefallen. Umgekehrt kritisieren wir Santa-Fu oder sonstige laxe und darum folgenschwere Sicherheitsverwahrungen bei uns. Und natürlich bin ich froh, dass nur Randbewohner unserer Wertegesellschaft Guantanamo und Abu Ghraib zu verantworten haben – um so erschreckender, wenn ein solches Verhalten mitten im Zentrum unserer Wertegesellschaft, in Coes­feld, nachgespielt wird. Wie gut, dass wir Kenia, Malaya, Oman und andere Orte des Geschehens vergessen haben. Wir haben Mitleid mit den Kurden und fordern... was?, akzeptieren aber trotz mentaler Vorbehalte die zentralstaatliche spanische Politik gegenüber den Basken, weil wir dort zumindest bereit sind, den Standpunkt beider Seiten zu berücksichtigen und überdies mehrheitlich einen Horror vor Kleinstaaterei pflegen (siehe Jugoslawien), wenn diese in unserem Kulturkreis droht. Ich erinnere mich an die verbreitete Bewunderung für den sozialistischen Internationalismus, der inzwischen wohl von den meisten, wie immer zu spät und nach großem Leid, als großrussischer Imperialismus erkannt worden ist. Überdies haben wir inzwischen auch „litauische“ Oligarchen integriert – oder noch nicht? Natürlich kann man darüber streiten, ob die Türkei zu Europa gehören soll. Ich wundere mich mehr darüber, dass die Türkei selbst es will, ich fürchte – im Inter­esse der Türkei – aufgrund eines bei uns ebenfalls gepflegten Pragmatismus, der die Realität nicht erkennt – oder doch sinistre Pläne? –, aber vielleicht verständ­lich, wenn man, wie auch Israel, seit Jahren als Europäer mit den Europäern Fußball spielen darf – die Schuld unverantwortlicher Funktionäre.
Wir mögen amüsiert sein, wenn die Türken, seit etwa achthundert Jahren in Klein­asien, sich auf die Hethiter oder sogar auf die Sumerer berufen – siehe Sümer Bank und Eti Bank, vor allem aber das archäologische Museum in Ankara, u.a. nicht mit dem von Alexander durchtrennten gordischen Knoten, aber den denkbar schönsten gordischen Möbeln –, gleichzeitig aber, zwar nicht in den Museen, in den Ruinenstädten und in Iznik/Nicaea oder Istanbul/Konstantinopel, die helleni­stische und byzantinische Zeit, die sie schließlich erlebt haben, doch ziemlich unterschlagen. Bis vor kurzem hat der türkische Staat auch seine osmanische Ver­gangenheit weitgehend ausgeblendet, allenfalls überkritisch gewürdigt. Unter­scheiden sie sich darin so sehr von uns, die wir wichtige intellektuelle Wurzeln in Ionien an der kleinasiatischen Küste finden, mit Xenophon irgendwo bei Trab­zon/Trapezunt endlich das Schwarze Meer sehen, uns inzwischen sogar auf ägyp­tische Wurzeln besinnen, ganz zu schweigen vom im römischen Kolonialgebiet auf der Europa gegenüberliegenden Seite des Mittelmeeres entstandenen Chri­stentum. Genau wie die Türken verdrängen wir in unserem Bewußtsein die Ent­wicklungen in der Ostkirche und pflegen unsere west- und mitteleuropäische Syn­these. Irgendwie sind wir nicht konsequent: erst seit 1453 gehört Konstan­tinopel eigentlich zu uns. Und dabei sollten wir identitätsstiftende Bemühungen ernst nehmen. Die Geschichte und die Gesellschaft in ihr lebt und überlebt durch fleischgewordene Fiktionen. Wir sind alle in Schuhe geschlüpft, die uns ursprüng­lich nicht gehörten und haben so das wunderbare Konstrukt des Römischen Rei­ches deutscher Nation gefunden.
Drittens frage ich mich, ob der türkische Staat leisen Spott verdient, wenn er, wie ehrlich auch immer, aber politisch lügen können auch wir, sich explizit dem Pro­test der westeuropäischen Staaten gegen die Ermordung van Goghs anschließt und die Türken oder türkischstämmigen Deutschen auffordert, diesen zu artikulieren. In diesem Zusammenhang wird einmal mehr angenommen, dass der Beweis dafür, dass es sich um eine bestellte oder gar angeordnete Demonstration handele, mit der perfekten Organisation und mit gedruckten Plakaten erbracht werden kann. Ich würde mich sehr wundern, wenn dies nicht – glücklicherweise – auch bei vielen deutschen Demonstrationen der Fall wäre, normalerweise etwas, das nicht nur von den Staatsorganen, sondern auch von der sogenannten bürgerlichen Presse zustim­mend zur Kenntnis genommen wird. Auch ich benutze gern die Wendung „orien­talische Übertreibung“, aber selten habe ich sie weniger passend gefunden. Ich kann mich an keine Demonstration in Deutschland in den letzten vierzig bis fünf­zig Jahren erinnern, bei der die Zahlenangaben der Veranstalter und der Polizei nicht genau in der beschriebenen Weise auseinanderklafften. Der Rausch der gro­ßen Zahl scheint mir nicht unbedingt ein Indiz für orientalische Übertreibung zu sein (siehe die Kriegsberichterstattung aller Zeiten und Länder). Zurück zur Tür­kei: Es sieht so aus, als forderten wir immer wieder von ihr, sie habe sich in einer uns akzeptablen Weise zu reorganisieren und zu verhalten. Wenn sie es dann tut, be­zweifeln wir ihre Aufrichtigkeit. Das erinnert sehr an die amerikanische Politik vor dem Irakkrieg, Bedingungen zu stellen, ihre Erfüllung anzuzweifeln und auf schrecklichste Weise „ätschbätsch“ zu sagen, nachdem sie offensichtlich erfüllt waren. Insgesamt wird die „Ditib“ als verlängerter Arm des türkischen Staates be­schrieben, als vom Verfassungsschutz beobachtete Organisation auch Milli Göruş, aber was ist das Islam-Archiv in Soest? Gefällt allein der wissenschaftliche An­spruch, der in der Bezeichnung „Archiv“ behauptet wird, so dass darüber keine Informationen gegeben werden müssen? Selim Abdullah hört sich nicht sehr westfälisch an. Wo liegt der Fehler der Bundesregierung, wenn sie Kontakt zu einer türkisch-muslimischen Organisation sucht, deren Ausrichtung für uns Un­eingeweihte wenigstens zum großen Teil verständlich ist? Ich halte unsere freie Demokratie für ein kostbares, daher auch teures Gut. Damit müssen und werden wir hoffentlich trotz vielfacher einschränkender Überlegungen weiterleben, aber das hat selbstverständlich zur Folge, dass wir Leute wie Kaplan lange ertragen mußten oder unseren Anteil an der in die Jahre gekommenen iranischen Revo­lution hatten, wenn in Paris oder in Hamburg an der Außenalster dafür Pläne geschmiedet werden konnten und der „Unwert“ unserer laissez faire-Gesellschaft von eben diesen Personen festgestellt wurde. Ist es aber nicht das Recht und die Pflicht unseres Staates, gesellschaftliche Entwicklungen zu beobachten und nach bestem Vermögen zu bremsen, die nach unserem und allgemein heutigem Ver­ständnis undemokratische Ziele verfolgen, auch und gerade für ihre Heimatländer mit späteren Folgen für uns? Würden wir auf deutschem Staatsgebiet z.B. eine mi­litante monarchistische französische Bewegung dulden? Oder konkreter: die ETA? Aber irgendwie ist der Orient, der für mich als Kind bei Wien begann, eh suspekt. Seine Machthaber sind bis ins innerste Mark autoritär, so dass jeder Oppositionelle zunächst als positives und schützenswertes Gegengewicht gesehen wird – unsere sympathische Zuneigung zur Opposition.
Ich bin auch der Überzeugung, dass Rechtsstaatlichkeit eine absolute und unan­tast­bare Voraussetzung ist, dass Recht für jeden wahrnehmbar sein und eingefor­dert werden muß. Wie es im einzelnen formuliert wird, könnte diskutiert werden, ist auch vom Wertewandel etc. abhängig. Auch bei uns ist es noch nicht lange her, dass der Staat sich strafrechtlich aus dem Intimbereich seiner Bürger zurück­ge­zogen hat. Und soweit ich weiß gibt es oder gab es zumindest in diesem Bereich keineswegs eine Gleichzeitigkeit der Anpassung in den jetzt der EU angehörenden Staaten. Statt „bestellt und geliefert“ zu schreiben, sollte man eher anerkennen, dass der türkische Staat bereit ist, unseren Vorstellungen ein ganzes Stück Weges zu folgen.
Das übrigens der türkische Staat geneigt ist, auch die türkischstämmigen Deutschen als Türken zu sehen, dürfte nicht nur dem Selbstverständnis der Be­troffenen entsprechen, sondern sollte auch den Ungarn mit ihrer Diaspora in der Slowakei, in Rumänien und in Serbien und den Deutschen mit ihrem tief­ver­wurzelten ius sanguinis vertraut sein. Statt laut nach Integration zu schreien und in den renitenten Türken hier eine Fünfte Kolonne der Türkei zu sehen, sollten wir die Janusköpfigkeit vieler Türken vielleicht als Chance begreifen: die Almancılar, von denen es viele in der Türkei gibt, könnten dann bei einem etwas ent­krampfteren Verhalten unsererseits eine wirkungsvolle Avantgarde nicht des Chri­stentums, aber einer praktizierten Demokratie sein. Tragen wir doch einmal etwas Handfestes zum Globalisierungsgerede bei, so wie die Dänen um 1900 die Butter nach Sibirien brachten, besonders, da wir in unserem Verhältnis zur Türkei nicht mit dem Odium einer Kolonialmacht belastet sind. Schaffen wir es doch, dass man von Afra in Augsburg und Bavaria in Tipasa spricht.
Und viertens doch etwas zum Islam. Er mag terroristische menschenverachtende Neigungen unterstützen, ich glaube aber nicht, dass er dies in seiner Orthodoxie tut, allenfalls in seiner Praxis. Sollte er doch einen großen Teil der Verantwortung tragen, dann befindet er sich, wenig hilfreich, gegenwärtig in dem Entwicklungs­stadium, in dem wir uns von den Waldensern bis zum Dreißigjährigen Krieg be­fanden, also noch vor der Aufklärung. Auffälliger scheint mir allerdings der Zu­sammenhang mit den historischen Erfahrungen des größten Teils der muslimi­schen Ökumene und vor allen Dingen der arabischen Welt. Zur Zeit von Ibn Khal­dun wäre ich sicherlich nicht ungern als Araber geboren worden, aber spätestens seit 1500 nicht mehr, als erst für einige Jahrhunderte ihre früheren Sklaven ihre Herren wurden – in Ägypten sogar schon früher –, dann vor allem die europäi­schen Mächte Großbritannien und Frankreich, und heute die alles bestimmende Macht der USA versucht, ihr Schicksal zu entscheiden, und das, obwohl sie doch einmal groß und mächtig waren und nach ihrer festen Überzeugung – was ist denn sonst geblieben? – die wahre Lehre zu ihnen, nicht zu irgendeinem anderen ge­kommen war. Dies weckt, um nicht auf konkrete Beispiele einzugehen, ein Gefühl der Ausweglosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe. Wir unterstützen, um die angebli­che Ordnung aufrecht zu erhalten, arabische Potentaten, wir beseitigen sie wie Saddam Hussein, wenn sie aufmüpfig zu werden drohen, nachdem wir sie vorher pfleglich behandelt haben. Wir haben seit vierzig Jahren jede Chance für eine Lösung des Palästinenserproblems auch im Sinne der Palästinenser verstreichen lassen in dem Glauben, damit unserer eigenen Verantwortung, oder doch Schuld irgendwann und irgendwie ledig zu werden usw. usf. Und jetzt sind die nicht­arabischen muslimischen Altlasten des Russischen Reiches und der Sowietunion in Zentralasien unter Einschluß des Nordkaukasus und Afghanistans dazugekommen, wo wir wieder faktisch Partei ergreifen für unsere zugegebenermaßen entfernteren Verwandten und gegen den Schwächeren und uns auf kostenlose humanitäre (kri­tische) Bemerkungen und hinterher oft teure Hilfeleistungen beschränken. Hin­zu werden mit großer Sicherheit die früheren zentralasiatischen Sowjetrepubliken kommen mit in erster Linie von den Russen zerstörten oder deformierten älteren Strukturen. Und selbst China betreibt eine fast identische Politik in Xinjiang.
Wäre ich Araber oder auch nur Muslim in einer dieser Regionen und nicht ganz so feige, wie ich von Natur aus bin, ich glaube, ich würde auch keinen anderen Aus­weg mehr sehen als in der Seele zu versteinern oder mich nach Möglichkeit, ab­hängig von meinem IQ, der Minderheit der Selbstbediener anschließen.
Vielleicht fällt es uns zu schwer, den bestmöglichen Rat an alle jene zu geben, über die sich unsere moralische Empörung ergießt, sich am besten nicht zu weh­ren, weil wir dann sehr bald das Interesse verlieren, am besten Leuten wie Sprin­ger, Richard Desmond oder den Barclay Brüdern zu erlauben, als Vertreter unserer kulturellen und zivilisatorischen Werte die Kontrolle über die Medien zu über­nehmen. Dann werden wir uns fügen und mit gutem Gewissen leben.“
Dennoch blieben die Pläne, ihr Schiff auf Gütersloh zu steuern, sehr diffus und wenn, dann nur noch mit zerstörerischem Ziel. Nur der kleine, etwas dickliche An­dreas mit der Andeutung eines Schnurrbarts über der Oberlippe wäre doch immer noch gern zu den Lehrveranstaltungen der Johannes-Universität gegangen, sprach von Scheinen, Klausuren Hausarbeiten mit höchstens dreitausend Wörtern und zeigte sich immer wieder beunruhigt, was ihm wohl in Zukunft und bei einem Wechsel an eine der ausgelaugten, aber weiterhin existierenden staatlichen Uni­versitäten anerkannt werden könne.
Von Gütersloh wurden diese Treffen interpretiert als Konvergenzzentrum für alle Beschwerden gegen die moderne von hier aus geschaffene Welt. Und Frau Profes­sor Grebenstein, inzwischen langjährige Rektorin der Universität, erklärte erst klar, dann immer mehr stammelnd, ihr Unbewußtes hervorlallend, während die Welle über sie zusammenschlug, es sei doch nur ein Kommunikationsproblem, es seien keine Fehler gemacht worden, allenfalls könne man über den Verlust der nu­minosen Qualitäten des Kommunizierens klagen, aber man könne über die Proble­me sprechen, müsse es gar, wie über die psychologische Bedeutung des Klanges von Hartz IV versus Clement II vor einigen Jahren, dieses schreckliche Erlebnis einer demokratisch gewählten Regierung, die von einem bloßen Eierhagel vom Sockel gestürzt wurde. Sie hielt Reden und Ansprachen, in denen sie von der abso­luten Vorreiterrolle der Johannes-Universität im akademischen Gesellschaftsseg­ment sprach, von der wissenschaftspolitischen Kompetenz der Verantwortlichen mit ihr selbst an der Spitze der Malltitjuhhd oder Mülltitüdö oder Mülltüte. Sie appellierte, ohne sich ihres latenten Jewtuschenkoismus bewußt zu sein, an die in den Wäldern um Gütersloh kampierenden Studenten: „Wir haben gemeinsam, dass wir angetrieben durch die Differenz das Gemeinsame entdecken, das es erlaubt, miteinander in Beziehung zu treten und gemeinsam zu handeln.“ Sie erklärte das Gütersloher universitäre Modell als chancenorientierte Orientierung, in dem durch die gegenseitige Erbringung von Leistungen eine signifikante Ablaufoptimierung erreicht worden sei. Sie stolperte nicht über Buchstaben, sondern über ganze Wör­ter. Sie entgleiste in religiöse Metaphern, wenn sie der Johannes-Universität hei­lende Wirkung zusprach. Man habe von den Stirnen der Dozenten mit Tüchern den Schweiß gewischt und sich mit diesen dann abgewischt. So sei Fähigkeit und Leistung übertragen worden. Jetzt aber begegne man eben dieser fast heiligen Institution mit Mißtrauen. Sie forderte den Runden Tisch und erntete Unglauben, sie brachte kurzfristig einen Kreis zusammen, und alle Teilnehmer behaupteten wenig später, man habe sie mißverstanden, oder ihre Forderungen seien nicht er­füllt. Um sich Klarheit zu verschaffen, ließ sie in der allgemein gewordenen sprachlichen Verwirrung für immense, aber immer noch verfügbare Summen durch Personalberater individuelle Assessment Center durchführen, so dass sie in einem nächsten Schritt den Protest der Studenten als Reglementierung der freien Wissenschaften und als eine groß angelegte Säuberungswelle, als Einschüchte­rungsversuch gegen den fortschrittlichen akademischen Geist, um die Demokratie und den Fortschritt einzuschüchtern, zu verunsichern und von der Johannes-Uni­versität zu vertreiben, geißeln konnte. Sie ließ sich gerichtlich bestätigen, dass sie sich eigentlich für die Interessen der Studierenden einsetze. Sie organisierte Panels mit handverlesenen Gästen, die hinterher das gemeinsame Essen in einem in­zwischen überteuerten Gütersloh zahlten, unter der Regie unpolitischer Talkshow­moderatoren, um zu beweisen, wo die Mehrheit stand.
Dunkelmänner, Hintermänner wollten die Uniformierung der Universität. Studen­ten, ausgerechnet Studenten – sie selbst waren einmal die Speerspitze des Fort­schritts gewesen, waren sich sicher gewesen, „aus den andersartigen Formen ge­sellschaftlichen Zusammenlebens in China“ lernen und neue Lösungen ableiten zu können – versuchten fortschrittliche Wege der Wissenschaft und Karriere zu boy­kottieren, wie einst der Reichsjugendführer des Großgaus Arabien oder die An­führer studentischer Rowdies in China. Als weitere Lösung versuchte sie, Selbst­kritik zu üben. Sie sei einer falschen political correctness erlegen, sei von falschen Führern verführt und geblendet worden. Weder sie noch ihre Mitstreiter stürzten sich jedoch in einen kollektiven Selbstmord wie die Indianer nach dem Blick auf etwas Unbekanntes. Verständnislos erkannte sie bekannte Verhaltensweisen. Sie agierte, als schaute die Welt immer noch auf Gütersloh und nicht längst auf Clark County, Ohio. Sie konsultierte ihren mentalen Berater, den sie als Managerin der Universität längst und trotz ihres medikamentalen Sammelsuriums unter Vertrag genommen hatte und schrieb ihm. Darin wurde deutlich, wie sich das Mißtrauen in den Reihen eingenistet hatte, Freund und Feind nicht mehr unterschieden werden konnten. Sie beschrieb ihr Dasein in Gütersloh, als sei sie auf der Flucht zusam­men mit einer Gruppe von Menschen, die sie kannte, aber unter diesen angespann­ten Bedingungen nicht mehr erkennen konnte. Frau Kim-Sebestyn wurde zur Nutte erklärt, Herr Sluggan hatte sich mit dem Tafelsilber davon gemacht. Die Studen­ten, zu denen sie immer ein gutes Verhältnis gehabt zu haben glaubte, fielen ihr in den Rücken, verrieten sie an die Feinde in der undurchschaubaren Welt vor den Toren der Stadt. Sie glaubte, den kollektiven Irrsinn einer Revolution erkennen zu können, der sich bis zu einem Bürgerkrieg auswachsen könne. So rief sie nach dem alt gewordenen Professor Otto, der auch jetzt noch zum Instrument der Analyse griff und erklärte, nie solle sie etwas so törichtes zugeben. Auch, dass die Wirtschaft, die immer wieder den Eilmarsch durch die Ausbildung gefordert hatte, begann, über den dramatischen Qualitätsverlust, der lange hinter schönen Begrif­fen versteckt worden war, zu lamentieren und zwar nicht explizit – dazu war sie als Mitsünderin zu sehr involviert –, aber doch eine Rückkehr zu früheren Aus­bildungsgängen forderte, dies sehr wohl meinte, wenn sie eine Verlängerung der Ausbildungszeiten und eine partielle Abkehr vom allzu starken Praxisbezug hin zum Grundlagenwissen forderte, all dies solle man nicht übermäßig beachten. Bei den studentischen Aufrührern diagnostizierte Professor Otto, sie seien eben nicht mit vier Jahren in die Schule gekommen, eine seiner liebsten Überzeugungen, für die er sogar den Vorwurf in Kauf nahm, Menschen manipulieren zu wollen. Und das stimmte auch, denn sie hatten Jahre gebraucht, um zu verstehen, was mit ihnen geschah. Sie verstanden immer noch nicht. Die Eliteuniversität, die Johannes-Uni­versität in Gütersloh, war dort angekommen, wo die Politik und die großen nicht ganz so desinteressierten Stiftungen mit genüßlichem Lachen und das Beharrungs­vermögen der ersten Netzwerkgeneration – trau keinem über dreißig, und wenn Du selbst Dich dieser Altersgrenze näherst, setze sie hinauf – sie hingesteuert hatten: Wir hatten Lebensplanungen geglaubt, die besagten, dass man als zwanzigjährige Frau wahrscheinlich das hundertste Lebensjahr erreichen werde, das Interesse an Musik, Kunst, Literatur oder Theater in den nächsten achtzig Jahren vertiefen kön­ne, um das eigene Leben kultiviert zu genießen. Sie könnte die Herausforde­rungen des 21. Jahrhunderts – vielleicht sogar des 22. Jahrhunderts – verstehen mit Hilfe der umfassenden Ausbildung an der Johannes-Universität und dem ebenfalls von dieser Universität begleitend zur Verfügung gestellten lebenslangen Lernen. In drei Jahren werde man den ersten Universitätsabschluß erreichen, dann eine Zeit lang arbeiten. Mit Mitte zwanzig oder knapp dreißig werde sich der Wunsch nach zwei oder drei Kindern einstellen – ein Wunsch, der die Forderung der deutschen Demographie befriedigt. Daraufhin werde die berufliche Tätigkeit be­fristet auf Teilzeit umgestellt. Werden die Kinder selbständig sein, kehrt sie für einen zwei­ten Abschluß zurück an unsere Universität, um danach ihren Beruf wie­der ganz­tägig und in einer höheren Position auszuüben oder sogar in einer ganz anderen Tätigkeit Erfolg zu haben. Um die Ausfallzeiten für Ausbildung und Kinderer­ziehung auszugleichen wird sie gern bis siebzig voll arbeiten, danach zehn weitere Jahre in Teilzeit. Dann aber, wenn sie mit achtzig in Rente geht, hat sie noch zwei volle Jahrzehnte vor sich, in denen sie wahrscheinlich bei guter Ge­sundheit ihren Leidenschaften – Musik, Kunst, Literatur oder Theater – fröhnen kann oder die Zeit mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln genießt. Für den männlichen Studen­ten sehen die Perspektiven ähnlich aus, wenn man nur fünf Jahre abzieht. Die Irra­tionalität war die Wirklichkeit geworden. Die Sozialutopien aus den Kinderbü­chern Edith Nesbits hatten sich erfüllt.
Für die Merkwürdigkeiten des Systems waren die ursprünglichen Macher nicht mehr verantwortlich. Im Gegenteil taten sie so, als könnten sie nicht begreifen, dass jemand solcher Dummheiten fähig gewesen sei. So schrieb Professor Otto noch einmal über von ihm initiierte oder mitgetragene Studiengänge, dass sie endlich nur in die Bildungskatastrope führen könnten.
Wir hatten eine Inhaltskultur entworfen, die sich einer Überprüfung von außen entzog, aber tatsächlich waren wir Wissenschaftsmanager mit Buchhalterallüren geworden, was wir im Innersten unseres Herzens wohl auch von Anbeginn waren. Nachdem wir Elite-Studenten gewesen waren, konnten wir die Notwendigkeit, Aushilfsjobs annehmen zu müssen, wegen des outsourcings nach Indien emigrie­ren zu müssen, nicht begreifen, und hatten nicht der Wahrheit geglaubt, dass die Welt weder flach noch rund, sondern eine Pyramide sei. Wir hatten in Budapest und Gütersloh studiert und den Masters erworben und Berufserfahrung in Kigoma und Genf gesammelt. Dabei waren wir aber darüber getäuscht worden, dass die Welt größer war. Auch andere Grundwahrheiten wurden nur geglaubt, wenn sie wie das Rad statt der dafür notwendigen Zugtiere neu entdeckt aus hoch honoriertem Munde kamen, nämlich, dass ta­lentierte Studenten sich überall durchsetzen würden.
Mißverstanden wurde die Erkenntnis, Elite müsse sich von unten entwickeln. Dies war eine Forderung auch der Johannes-Universität gewesen. Jetzt fiel sie auf sie selbst zurück. Gelernt wurde von den Geisteswissenschaften die Bedrohung der Zivilisation durch die Technik, von den Naturwissenschaften die Unaufhaltsamkeit der Technik. Daraus ergab sich die Schlußfolgerung der Hoffnungslosigkeit, und daraus entwickelte sich der Haß auf die entmenschlichende, entindividualisierende Kontrolltechnik durch die computerisierten Datensysteme, durch die statistischen Instrumente der Politischen Wissenschaften und Verhaltenspsychologie. Wieder einmal war 1948 erreicht, und die Absolventen der Johannes-Universiät flohen zum kleineren Teil in die scheinbare Einsamkeit, zum größeren versteckten sie sich in der gegen ihre falschen Schöpfer marschierenden Masse im Teutoburger Wald, da sie die therapeutische Wirkung des Aufstands nicht in heilsamen homöo­pathischen Dosen erfahren hatten. Es fehlte ihnen der machtbewußte Doppelagent, der sie erfolgreich hätte führen können, der aus eigener Kenntnis die desaströsen Folgen ihnen hätte erklären können für die politische Freiheit in einer Gesellschaft mit einer machtvergessenen Schicht. Es fehlte ihnen der Anführer, der das Land vor ihnen erst einmal hügelte, erklärte und strategisch nutzte.
Sluggan versuchte sich in Analysen der kulturpubertären Intellektualität der heu­tigen Jugendlichen und ihrer Entwicklung zu Erwachsenenintellektualität, die er seiner eigenen Generation zugestand. Und somit nahm er sich als Maß, die dritte Generation seit dem Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nach seinem Bilde zu messen. Er konstatierte Mehltau aufwirbelnd entlang angeblich endloser empirischer Reihen den törichten Verlust der Aufweichung repressiver Sexual- und Konsumverzichtsnormen, die seine Generation herbeigeführt hatte, und die Rückkehr der Jugend zur Selbsttäuschung über strukturelle Werte, die wiederum die Generation vor ihm bereits verleugnet bzw. unglaubwürdig hatte werden las­sen. Er beklagte in seiner Studie, dass die jungen Erwachsenen den pädagogischen Wert der audiovisuellen und elektronischen Medien nicht mehr selbstverständlich anerkannten, und er ließ sich darüber aus, dass vor allem Männer das psychosoziale Moratorium zwischen biologischer Geschlechtsreife und der sozialen Reife nicht mehr mit hedonistischen Inhalten füllen konnten, während – was er nur in einer vertraulichen Passage seines Berichts bemerkte – die Frauen in diesem Lebenszeit­abschnitt noch genetisch bedingt Nachholbedarf hatten. Sluggan holte auch den Wettbewerb „Mondialogo“ in seiner Spätblüte noch einmal nach Gütersloh, wobei seinem Naturell entsprechend der mondiale Dialog dem Wortklang nach dem Mo­nolog schließlich viel mehr entsprach, der Dialog nicht allein durch die Paßge­setze der ganzen Welt, sondern zusätzlich durch die lokalen Kontrollmechanismen in Gütersloh definiert wurde. Und so maß man sich mit Hilfe des Kollegen Slug­gan selbst und jammerte über die Untauglichkeit der nächsten und übernächsten Gene­ration, und man war ratlos, wie Hanne Riepel, der Belesene. Man vergaß, dass man jetzt im postreproduktiven Alter war und den eigenen Eltern das gelehrt hatte, was man nun von der lebenden Studentengeneration erfuhr. Stattdessen veranstal­teten die Verantwortlichen universitäre Kinderfeste, mit denen, die noch übrig wa­ren, um dem Aufruf „Sal a la calle y baila!“ der Studenten etwas entgegenzuse­tzen. Auch Frau Grebenstein, die als eine ihrer letzten wissenschaftlichen Arbei­ten, nicht mehr selbst forschend, ein klarsichtiges Buch zur Gleichzeitigkeitsfalle von Beruf und Familie lanciert hatte, rätselte nur mehr über die Wahrheiten, für die sie hätte einstehen können und verzweifelte daran, dass ihr internalisierter Liberalis­mus nicht mehr akzeptiert wurde. Manchmal war sie dann so verwirrt, dass sie nicht mehr wußte, ob sie ihre Briefe mit universitärem, deutschem oder sozialisti­schem Gruß unterzeichnet hatte. Oder sie verfiel in historisierende Reden in An­lehnung an Ginés Peréz de Hita, indem sie von den Studenten vor den Toren Gü­terslohs als jenen sprach, die dahinschwinden werden, da ihre Existenz nichts an­deres sei als ein bereits allzu lange andauernder Kampf, widerrechtlich die Rechte Güterslohs in Besitz zu nehmen.
Eine temporäre Lösung, die bis zu einem hoffentlich glücklichen Ende wahren sollte, war die Errichtung einer Bannmeile wie um das immer unfertige Berliner Regierungsviertel, da auch die Chinesen begannen, dort ihre Filialregierung in Sichtweite zum Hauptquartier der Christdemokraten zu errichten. Zu spät hatte man damit begonnen, den unwissenden Testpersonen Neurochips zu implantieren. Dort, wo es gelang, entpuppten sich diese als überaus störanfällig. Alles geschah so überstürzt, dass selbst die deutsche Sprache verkürzt werden mußte und Frau Grebenstein ihre Anweisungen mit dem Satz enden ließ, „Sist verbindlich.“ Und da es einmal unkorrigiert als Makro in den PC gelangt war, wiederholte sich diese Formel immer wieder. Im besten Falle konnte man Renegaten des Systems da­durch immobilisieren.
Gütersloh hatte unter dem Einfluß der innovativen Bauten auf dem Universitäts­campus im Verlauf von Dalke und Ems den Charakter eines fast venezianischen Zoos erhalten, womit es sich gern verglich, dabei das verträumte Fredriksund im Norden der Insel Seeland vergaß, das in Größe und Bedeutung so viel angemes­sener war. Was blieb der Stadt auch übrig, da ihr die Klippen von Ronda oder Cuenca fehlten. Nach der Bannmeile, die sich nur bedingt tauglich zeigte, da das demokratische Verständnis, von der demokratischen Elite wie Frau Jentner, Frau Grebenstein und Herrn Sluggan und anderen beklagt, mit dem Klerikofaschismus Gubys und der Studenten erklärt und gekennzeichnet, fast völlig degeneriert war, wurde ganz Gütersloh zur gebührenpflichtigen Zone erklärt, als erste deutsche Stadt in Anlehnung an London, Oslo oder Bergen, an die Versuchsreihen in Stock­holm, nicht aber an die Entscheidung der Stadt Trondheim, die Versuche, gebüh­renpflichtige Gettos einzurichten, aufzugeben. Der Schutz wurde zum Gefängnis, die Furcht vor Übergriffen zur Ehrfurcht vor der Schlagfertigkeit des Gegners. Man gab sich nicht nur mit Überwachungskameras zufrieden, sondern bestellte einen der vielen privaten Wachdienste, die sich insgesamt der securitas rühmten, sich high fidelity oder protective agency nannten, obwohl ihre Chefs in der Regel bes­sere russische Sprachkenntnisse hatten, die in der zweiten Generation, bei denen, die nun tatsächlich mit deutschen Schäferhunden und einem unkontrollierten Waffenarsenal die tägliche Arbeit machten, allerdings ein wenig versiegt waren. Die Akten ihrer Väter oder ihre eigenen waren vor der Zeit vernichtet worden. Eine Überprüfung ergab zudem, dass die Universität ihrer Sorgfaltspflicht genüge getan hatte.
Stationiert waren die Mitglieder des Wachdienstes in einem Ring um Gütersloh an den Autobahnausfahrten im Süden der Stadt, am nördlichen Stadtrand von Rheda und Wiedenbrück – besonders beliebt als Standort wegen des Biers und städti­schen Flairs –, in Herzebrock, wo man den Posten im Betonwerk Eudur einrichtete, der alten Ziegelei Hagedorn, und in Harsewinkel – um die Beschau­lichkeit Marienfelds nicht zu stören –, in Blankenhagen, Isselhorst, bereits auf Bielefelder Gebiet, Avenwedde, Friedrichsdorf und schließlich Sürenheide. Außer­halb dieses Rings ging manche Sehenswürdigkeit, manch geeigneter Konferenzort vorloren. Die Vereinbarungen mit dem Fürsten von Bentheim über Schloß Rheda wurden vom Fürsten für Null und Nichtig erklärt, ebenso von der Familie Henkel­mann der Mietvertrag über das Anwesen Haus Aussel in der Gemeinde Batenhorst unmittelbar südlich von Wiedenbrück, welches mit seinen schmalen Eckbauten so ungemein geeignet gewesen war für interdisziplinäres und exzellentes Forschen, wenn die Koryphäen der Welt einmal mehr nach Gütersloh schnürten.
In der anfangs noch recht ruhigen Zeit bewachten sie meist nur die Wachlokale. Bald kamen zu den zunächst zivilen VW Polos gepanzerte Fahrzeuge hinzu und der Rat der Stadt Gütersloh bemühte sich erfolgreich im Verein mit Land und Bund, dem Sicherheitsdienst hohheitliche Aufgaben, das Recht der Verhaftung, das Recht zur Erhebung von Strafgebühren und schließlich bis hin zur licence to kill, zu übertragen. Der private Sicherheitsdienst, nie von den Verpflichtungen zu rechtsstaatlichem Verhalten angekränkelt, konnte von den Erfahrungen nationalso­zialistischer, sozialistischer, amerikanischer, irakischer, türkischer, der eigenen und globaler Gefangenenbetreuung profitieren, konnte die von Mendez Pinto bis zu den Wachmannschaften in Abu Graib beschriebenen Foltermethoden erproben, vor allen Dingen die Entwürdigung, indem die Verdächtigen gezwungen wurden, sich vor weiblichem Verhörpersonal oder vice versa auszuziehen. Hinzu kamen im Laufe der Zeit Betonsperren und Stacheldrahtzäune, die in unübersichtlichem Gelände die Über­wachung erleichtern sollten, manchmal wurde die Begrenzung von den Schein­werfern der Sicherheitsautos oder bereits degenerierter Güterloher Mitbürger in Licht getaucht. Gebühren an den Einfalltoren nach Gütersloh, die Teil der Ein­nahmen der Sicherheitskräfte waren, wurden erhoben, ähnlich der mittelalterli­chen Sitte, die Zolleinnahmen an den einzelnen Stadttoren einzelnen Lehnsneh­mern zuwies. Menschen, die es nach Gütersloh verschlug, konnten es nicht wieder verlassen, bevor sie nicht eine Aufenthaltserlaubnis erworben hatten. Diese war keineswegs unkompliziert zu bekommen, und so entwickelte sich ein neuer Berufsstand, der des Despachante, der die entsprechenden Kontakte in einem undurchschaubaren bürokratischen Dickicht gegen entsprechende weitere Gebüh­ren herstellte. Die kleine Welt wurde zunehmend privatisiert, und im Laufe kurzer Zeit wurden die Aufgaben, die der Sicherheitsdienst meist freiwillig übernahm, immer vielfältiger. Schließlich wurden auch einige Namen seiner Angehörigen bekannt, wenn auch meist nur die Familiennamen, so die von Tranfeld und Kayser, die im eigenen Interesse immer mehr Bestimmungen ersannen und begannen, Bin­nenzölle auf die allgemeinsten Waren, keineswegs nur auf CDs und PCs, sondern auch auf Jeans, Socken und Honig zu erheben, was umgekehrt dazu führte, dass auf der anderen Seite eine ingeniöse Schmugglermentalität erwachte, auf beiden Sei­ten eine Kumpanei zwingend notwendiger Korruption.
Es gab Ausnahmen wie Frau Grebenstein und Frau Kim-Sebestyn, die mit Privi­legien und elektronischen Meßgeräten, die von Toll-Collect zur Verfügung gestellt wurden, ausgestattet unmittelbar unkontrolliert nach Gütersloh hinein und wieder hinaus konnten. Das führte zu einer etwas anderen Wahrnehmung der Realität durch die Privilegierten, die sich immer mehr dem Verhaltenstopos Marie-Antoi­nettes anverwandelten.
Unterdrückt wurde von allen Beteiligten und Verantwortlichen das Wissen, dass man damit das Rechts- und Gewaltmonopol des deutschen Staates aufgab. Immer wieder fand man anonyme Blutspuren im Gras. Wie eigentlich jedes abnippelnde System wurden die Kontrollen intensiver, unübersichtlicher und schließlich sinn­los. Die Universität bzw. der Wachdienst waren berechtigt, Sichtvermerke in den Personalpapieren anzubringen, die Ausfüllung der erstaunlichsten Fragebögen nach der Club-, Religions- und Parteizugehörigkeit bis zu den Vornamen der Eltern und Großeltern zu verlangen und durchzusetzen. Damit verlängerte sich der Weg nach Gütersloh ganz erheblich. Hinauszukommen war etwas leichter. Diese Maßnahmen betrafen vor allem die studentische internationale Gemeinde, während sich mit den alteingesessenen Güterslohern sehr bald eine Art Vertraulichkeit, verbun­den mit einem bloßen Durchwinken und dem Zahlen einer Monats­pauschale, ent­wickelte. Manche Studenten aus Indien, aus den afrikanischen und arabischen Ländern oder aus Bielefeld oder Osnabrück verbrachten ganz normal oft mehr als drei Stunden in den Fängen eines der Kontrollposten, besonders, wenn diese, weil sie die merkwürdigen Schriften nicht lesen konnten, die merkwürdigen Namensbe­standteile nicht zuordnen konnten, solche unbekannten Papiere bis zum Schluß aufbewahrten und erst die Schmidts, Duponts und Browns mit Wohnberechtigung in Gütersloh abfertigten. Und mancher Kontrollposten bohrte aus lauter Verlegen­heit und Nachdenken seine Nasenlöcher immer weiter auf, verharrte aber in der Anonymität, seinen Namen wie in nicht so guten alten Zeiten und Systemen nicht preisgebend, sondern nur als Organ handelnd.
Und so traf sich die universitäre und Gütersloher Gesellschaft weiterhin mit einem Gefühl, alles Denkbare für die Sicherheit getan zu haben, bei Billing und Gastwirt Schmale, tanzte Dancing Mathilda, den Tanz vor dem Untergang, so dass die Lok­ken wirbelten wie scharfe Klingen und man sagen konnte „der Weisen Kunst, des Narren Spiel, nichts hilft’s, es gilt dem Tod gleich viel“. Man merkte nicht, dass die Barbaren vor ihrem Alexandria standen, die Venezianer vor Konstantinopel und 250 Jahre danach die Osmanen, dass sich die Dunkelheit über ihren sonnigen Frei­zeitpark gesenkt hatte und man selbst in die Barbarei versank, weil man Gütersloh wie Pitcairn nur noch mit einem Langboot erreichen konnte, dass der Allmächtige nicht mehr verzieh, weil man nicht im Geheimen handeln konnte. An jedem klaren Gedanken und tiefen Gefühl herrschte Mangel. Die Welt bestand aus Liebschaften und Affären. Nur wenige entschlossen sich, sich an den Nachkommen des Auc­tions-Commissarie Wilhelm Vogel, Friedrich Vogel, zu wenden, der in Anlehnung an seinen Vorfahren eine Auswanderungsagentur eröffnet hatte, um die Willigen nach Bielefeld, Lemgo oder gar bis nach Hannover zu schleusen.
Niemand merkte auch, dass Bannmeile und bewaffneter Ring eine übliche, aber meist langsamere Entwicklung beschleunigten. Nicht nur waren die Handys in China inzwischen moderner, war das öffentliche Verkehrsnetz in der Türkei besser. Wie in den Airtrains zum JFK Airport drehte sich die Haltestellenanzeige in den Zügen in einer Endlosschleife, in der man nie von „Station C, Federal Cir­cle“ loskam. Das Tor zur Welt kostete inzwischen mehr als fünf Euro, auch wenn man es nicht durchschreiten wollte. Die Spielmöglichkeiten der PCs wurden im­mer mehr eingeschränkt, so dass man Namen nicht mehr finden konnte. Die Kosten erreichten schwindelnde Höhen und wurden auf die Benutzer abgewälzt, die schließlich nicht mehr für eine diskrete home security zahlen konnten. Diese wurde in ihren Maßnahmen daher immer brutaler und simpler.
Margret Gent, eine der zuletzt noch berufenen Professorinnen für Rhetorik voller Angst vor Spinnen und Gewürm, selbst wenn sie tot waren und sie doch nicht mehr nach ihrer Mutter rufen konnte, um sie mit dem Besen wegzukehren, saß wie versteinert verspätet gekommen am Rand eines Tisches mit einem Teil der Kolle­gen und wartete. Der Abgrund zur folie circulaire rückte immer näher. Bevor sie von ihrer Villa auf dem Universitätsgelände aufgebrochen war, hatte sie sich im Spiegel geprüft. Ihre Frisur saß fest, ihr schwarz rot schräg gestreiftes enges Kleid paßte genau und bedeckte ihren Körper bis knapp zum Knie. Eigentlich hätte sie mit allen anderen in weißen Gewändern wie jungfräuliche Vestalinnen kommen sollen, wie die betäubten Gespielinnen am Ende der Zeitreise – und das, obwohl sie vor Jahren vergeblich in der Kirche mit einem Martin Kascher kopuliert wor­den war und ihre Schőnheit nicht in Glück hatte verwandeln kőnnen. Stattdessen aber folgten dann die sienafarbenen Strümpfe, absichtlich im Ton ein wenig zu dunkel, und ihr Körper wuchs aus schwarzen hochhackigen Pumps empor. Sie konnte sich zeigen mit ihren fünfzig Jahren plus, die ihr zur Last geworden waren. Sie brachte noch einmal aus einem ganz persönlichen Bedürfnis den Pariser Chic in die grau werdende Universität und Stadt. Jetzt aber spürte sie heimliche Blicke an ihrem Bein entlang, und sie war sich bewußt, dass ihr Kleid etwas hochgerutscht war und wahrscheinlich das Ende des Strumpfes und vielleicht etwas mehr zeigte. Die Versteinerung ergab sich aus einer unglückseligen Freude, Aufmerksamkeit zu erregen, Erregung zu verursachen. Daher durfte sie sich nicht bewegen, weil sonst der Erfolg verschwinden würde. Und doch eignete sie sich nicht mehr als Geliebte, wenn sie dies denn je wirklich getan hatte, da sie die Mehrheit ihrer hinreichenden, aber kaum exzessiv zahlreichen Liebhaber in der Regel bis zum Ende der kurzen Affaire gesiezt und behandelt hatte wie einen zufälligen Frühstücksgast, den man bittet, die Zuckerdose herüberzureichen, nachdem der Coitus als physische und angenehme Notwendigkeit vollbracht war, um sich nicht wie eine läufige Katze am Tischbein zu reiben. Manchmal bedauerte sie ihre Zurückhaltung. Kurz nach ihrer Berufung anlässlich eines Empfangs ihr zu Ehren hörte sie zufällig in ein Ge­spräch zwischen Frau Kim-Sebestyn und ihrem Sohn hinein: „Johann Berg? Er mag ihr Neffe sein. Er war der Geliebte meiner Mutter.“ Und sie sah sich außer­stande, gegen eine erfundene Wahrheit zu protestieren, weil es eine der wenigen war, von denen sie auch heute noch träumte – vielleicht einer der seltenen Gründe, ernsthaft an eine Wiedergeburt zu denken, um dann alles anders zu machen. Sie hatte Johann Berg, zwanzig Jahre jünger als sie, als Sohn einer Freundin gut ge­kannt, und genau das war das Problem gewesen. Voneinander angezogen fühlten sich beide. Bei einem Tanz spürte sie seinen erigierten Penis und würdigte ihn mit Gegendruck. Wissend, aber ohne eine Übereinkunft und damit folgenlos trennten sie sich nach dem Tanz, auch wenn sie immer mal wieder daran dachte, wie es wäre, fünfzehn Zentimeter von ihm in sich zu spüren. Wenn sie sich dann aber in seiner ausschließlichen Anwesenheit rücklings auf eine Couch warf oder bei Gele­genheit immer wieder über ihren Schoß strich, reagierte wiederum er nicht, son­dern nur mit Freundlich- und Höflichkeit. War die Sehnsucht nach physischer Nä­he aus der Ferne schmerzhaft, so wurde es, wenn sie einander nahe waren, zu einer andauernden verspielten Zuneigung und Freude, den anderen zu sehen. Es blieb eine Beziehung des Vielleicht, vielleicht auch, weil man sich des anderen nicht wirklich sicher fühlte, eine Zurückweisung fürchtete, die Scham gezeugt hätte. Und so wurden die Andeutungen des anderen vom anderen klug nicht aufgegriffen, weil beide wussten, dass der Weg zur Verführung von beiden Seiten sehr kurz war. Nie ging Margret so weit, beim Abschied mit einer scheinbar flüchtigen Berüh­rung schelmisch rhetorisch zu fragen: „Was ist denn das?“ Wäre es zu mehr ge­kommen, hätte sie ihn gefragt, ob sie für ihn zu schwer sei, wenn sie auf ihm lag, und er, ob sie bequem säße, wenn sie ihn denn geritten hätte. Nie ließ er seinen ihr vorbehaltenen Handkuss hinauf bis zu ihrer Schulter klettern. Eine Reihe von Jahren bestand dieses unterschwellig erregende, aber immer vertrauensvolle Ver­hältnis. Nie aber wurde sie seine Geliebte oder er ihr Geliebter, auch wenn ameri­kanische Soziopsychologen herausgefunden hatten, dass kaum andere Verbin­dungen glücklicher waren als die zwischen einer fünf Jahre älteren Frau und einem entsprechend jüngeren Mann – dies hat etwas mit „inhibition“ zu tun. Im Kopf ihres Sohnes hatte sich eine scheinbare Wirklichkeit festgesetzt, was nur als uner­füllter Wunsch und wahrscheinlicher als Möglichkeit bestanden hatte.
Sie waren gemeinsam hinaus aufs Land gefahren, hatten nebeneinander auf einer Wiese am Hang der Burg Grenzau gelegen und den blauen Himmel genossen, das Wissen, dass der andere da war ohne Berührung, obwohl ihre brüchige Haut schön war wie die feinste Craquelé-Glasur. Er lag neben ihr und träumte von Wünschen, die frei sind und bis zum letzten Jota erfüllt werden. Einer seiner Wünsche wäre gewesen, mit seinem harten Glied in ihrer Scheide ruhend einzuschlafen und mor­gens erfrischt in gleicher Stellung zu erwachen, um zu beider Befriedigung die Angelegenheit zu Ende zu führen. Da er sich aber in juristischen Finessen und im Kleingedruckten nicht auskannte, verzichtete er darauf, diesen Wunsch auszu­sprechen. Ihre Lust versank in der Zärtlichkeit. So waren auch ihre Gespräche über Gott und die Welt von hinreichend mittlerer Tiefe und unbefangener Spontaniität, in denen die Skala Margrets von Ernsthaftigkeit bis Zynismus reichte, doch nie mit Heiterkeit, wozu Johann gern und tatsächlich fähig war. Hätte man jedoch ein Le­bensalter später sein Gehirn darstellen wollen, hätte es ausgesehen wie eine der Karikaturen, auf denen es aus nackten Frauenleibern zusammengesetzt ist, in dem alle damals unerfüllten Wünsche unvollkommen vollendet wurden.
Dennoch wünschte sie, sie wäre keine Spätgeborene, hätte einen Namen, der nicht schon einer Blume gewidmet worden war, sondern sie sei die Hortensia Lepaute, die Frau des Uhrmachers, nach der Commerson die Hortensie benannte. Sie träum­te sich in die Rolle ihrer Urgroßtante, von der in der Familie behauptet wurde, sie sei in Riga als Marmorfigur aufgetreten bevor sie einen reichen russischen Zobel­händler ergattert und zur Heirat veranlaßt hatte.
Als sich dann schließlich die Gruppe auflöste, teilweise etwas besäuselt, alle aber schweren Herzens in einsame Behausungen zurückkehrten, mußte Margret wider­willig ihre Schlachtplatte und die zwei Biere bezahlen, die sie getrunken hatte. Mit ihrer stärker werdenden Weitsichtigkeit konnte sie die verschiedenen Münzen nicht mehr genau erkennen, mußte vielmehr die Kellnerin bitten, die richtigen aus der Handfläche zu nehmen. Das bedeutete, dass sie die zu zahlende Summe von 11,90 auf 12 € aufrundete. Dabei fiel ihr ein, dass sie am nächsten Morgen Unre­gelmäßigkeiten in ihren Bankauszügen in der Bank klären mußte Sie wanderte al­lein, unglücklich und mit der Welt hadernd zu ihrem Zuhause zurück. Immer wie­der kamen ihr die Schuldigen in den Sinn, die verantwortlich dafür waren, dass sie jetzt hier im Kessel von Gütersloh gelandet war, weit entfernt vom Meer, das sie doch liebte und in konventionellen Gedichten mit seinen blauen Dünen gepriesen hatte. Es war der Vater, vor dem sie geflohen war, weil er sie ihre Schönheit nicht zur Schau stellen lassen wollte, es war der Mann, den sie allzu schnell gewählt hat­te, der ihr nicht die Bühne, ihre Schönheit zu zeigen, bereitet hatte, sondern ihr zwei Kinder gezeugt hatte, mit denen er zusammen mit ihr in einem Reihenhaus zwischen Emmerich und Leverkusen hatte wohnen wollen. Und so war sie in die Selbstdarstellung geflohen, hatte scheinbar Erfolg gehabt. Doch empfand sie Gü­tersloh als Provinz, anders als die Schlösser in Belgien, die Palais in und um Buka­rest, in denen sie kurz als Geliebte, das Wissen darum verdrängend, auftreten durf­te. Die Entwicklungsfähigkeit hatte ein frühzeitiges Ende gefunden, und würde sie im Hause ankommen, würde sie sich mit einer etwas zu großen Schlaftabletten­menge betäuben. Der nächste Tag würde sehr ähnlich verlaufen, sie würde ihre in einem Doppelleben anregende Lehrveranstaltung abhalten und sich wieder ins Vergessen flüchten, weil ihr eigenes Leben und das Schicksal Güterslohs zu einer merkwürdigen Einheit verschmolzen waren. Sie würde zum hundertsten Mal ver­gessen, die Tochter anzurufen, die nur teilweise ihre Schönheit geerbt hatte, ihr entwachsen war und sich über die Mutter nicht mehr den Kopf zerbrach als dass sie immer wieder aus allzu großem ungenauem Liebesverlangen heraus scheitern­de Beziehungen erkannte und sich nicht mehr die Mühe machte, diese in irgend­einer genaueren Weise zu verstehen.
An diesem Abend erreichte sie ihr Haus nicht mehr. Da sie erst so spät zur Jo­hannes-Universität gestoßen war, hatte die Universitätsleitung, d.h. hatten Frau Grebenstein und Rusedski für sie einen Personenschutz nicht für nötig erachtet, hatten gedacht, Pestrillen in die weiche Wand der Plastikkirche zu kratzen, sei Vorsorge genug. Sie wurde nach zwei Tagen, nachdem sie zweimal ihre Lehrver­anstaltungen hatte ausfallen lassen, zuerst vermißt, dann aber nicht vergewaltigt, jedoch erstochen und halb verscharrt hinter der langsam wieder in sich zusam­mensinkenden evangelischen Kirche gefunden, weil einer der ersten Wölfe bei sei­ner Rückkehr in den Teutoburger Wald wie seinerzeit beim Leichnam des Heiligen Edmund „hier“ gerufen hatte, ein erstes und törichtes, wenn auch numinoses Opfer des Lehrkörpers, das alle Verdrängungsmechanismen bei den Überlebenden frei­setzte. Aufgeklärt wurde dieser Mord nicht mehr vor dem allgemeinen Ende. Am verdächtigsten machte sich einige Zeit Sluggan, da man die Logistik der außerhalb der Bannmeile wartenden Studenten nicht für ausreichend hielt, einen Schlag un­mittelbar im Lager des erklärten Feindes durchzuführen, Sluggan aber offen ge­zeigt hatte, dass er in Margret eine gefährliche, wenn auch überschätzte Konkur­rentin sah. Gelegentlich neigte er überdies wie mancher universelle Pazifist zu per­sönlicher Gewalt, liebte es, wirrwarrisch Drohungen auszustoßen, war aber so sehr Teil des Universitätsestablishments, dass die gesamte Prominenz bereit war, sich schützend vor ihn zu stellen. Schließlich wurde es zum Selbstmord erklärt in An­lehnung an einen berühmten Fall aus dem Jahre 1696, als Karin Erichstochter mit durchschnittener Kehle aufgefunden wurde und das Gericht auf Selbstmord ent­schied, obwohl sie vor ihrem Ableben noch etwas von einem schwarzen Mann rö­chelte, der ihr dies angetan habe.
Van Groningen, der immer mehr Vorzeichen zu erkennen glaubte und sich nach einer Heilsbotschaft sehnte, nahm die scheinbare Rede des Wolfes zum Anlaß, auf die Heilige Margaretha von Antiochia hinzuweisen, sah den Drachen und Teufel, und wollte dennoch die Sicherheit spüren, die Heiligkeit gewähren konnte, die den Bauch des Drachen sprengte. Später sprach er in seiner stupenden eruditio von der epizykloidalen Bewegung, die auf die Johannes-Universität übergegriffen habe. Dagegen verfaßte Frau Grebenstein einen klarsichtigen Nachruf, der Margret sehr wohl gerecht wurde, aber gleichzeitig auch ein Nachruf auf die Johannes-Univer­sität bedeutete: „So war Margret nicht. Wenn die Mehrheit unserer Dozenten in­zwischen mechanisch und uninspiriert lehrt, das konnte man von Margret nicht sa­gen. In die Themen, die sie behandelte, strömte ihre intellektuelle Leidenschaft mit ein, sie gestaltete ihren Unterricht schöpferisch und experimentierte mit neuen di­daktischen Methoden. Für sie gehörten noch Lehre und Forschung zusammen und damit die Entdeckung neuer Wahrheiten. In ihrer Lehre verfiel sie nie in die allge­mein verbreitete Stimmung von Gleichgültigkeit und Zynismus. Sie war eine der wenigen, die nicht dazu beigetragen hat, den Geist intellektueller Neugier und Abenteuerlust zu ersticken.“Sie verschwieg allerdings Margrets Zitat von Benja­min Constant, das sie als Diagnose der in Gütersloh bestehenden Situation ansah, „Einladungen ohne Herzlichkeit, Neugier ohne wirkliches Interesse, große Em­pfänge, aber keine Konversation. Noch schmerzhafter als Langeweile jedoch ist, dass alle einander feindlich begegnen“. Sie verschwieg auch den tödlichen Messer­stich, nachdem es ihr gelungen war, im Interesse des Ganzen den Autopsiebericht zu unterdrücken. Und so war Margret eines unbekannten, jedoch natürlichen To­des gestorben, zumindest solange bis neue Indizien auftauchten, die man aber kei­ner Person zuordnen konnte. Man fand nämlich einen Essigkrug, in dem trotz der Konservierung ein Kalbshirn, eine Kalbszunge und ein Kalbsherz allmählich ver­faulten. Im aufgeschnittenen Herzen fand man einen blutdurchtränkten Zettel, auf dem mühsam zwar, aber doch erkennbar, neun Mal der Name Margrets stand. Auch weitere Paraphernalia, die einem Voodoozauber zuzuordnen waren, wurden gefunden, eine tote Katze und ein totes zerrupftes schwarzes Küken in einer Schachtel. Was noch eine Zeit lang blieb, war die Inschrift auf marmoriertem Styropor in der Kirche.
Erst die historisierenden Staatsanwälte, die durch das Absetzen der Serie „Cold Case“ arbeitslos geworden waren, griffen viel zu spät den Mord an Margret wieder auf, erschnüffelten, wer in Gütersloh den Praktiken der schwarzen Magie zuneigte. Sie mussten feststellen, dass diese weiter verbreitet war als angenommen. Dennoch wurde der Kreis der möglichen Täter eingeengt. Aber immer noch zu den Verdächtigen gehörten Frau Grebenstein und Frau Kim-Sebestyn, die erstere mit den bereits bekannten Neigungen, die allerdings eher der weißen Magie zuzu­rechnen waren, Frau Kim-Sebestyn sehr viel clandestiner. Denn erst als man nach ihrem fluchtartigen Aufbruch aus Gütersloh ihre Wohnung öffnete, entdeckte man die einschlägige Literatur und einige Paraphernalia wie merkwürdig zusammen­gesetzte Salben und – freundlich gesagt – exotische Kleidungsstücke.

In einer Nach-Manoilescu-Ära brachte man noch einmal die Cloaca der Maria Goos auf die Bühne, um zwischen den gespreizten Beinen einer Stripperin Zivili­sationskritik zu üben. Die nächste Zivilisationskritik bestand in einer Wiederauf­lage des Stückes Der Doktor und die Teufel von Dylan Thomas in einer Inszenie­rung aus dem Wuppertaler Theater der fünfziger Jahre des historisch gewordenen zwanzigsten Jahrhunderts, in seiner Wirkung absichtlich dadurch verstärkt, dass von den Antihippokraten im Anatomiesaal an noch lebenden Opfern die Plastina­tion eingeleitet wurde. In einer Nebenrolle trat aus Amphytrion eine sehr alt ge­wordene Luitgart Im hinzu, die ihren ungewollten Aufenthalt mit einem Blockse­minar in den halbtoten Theaterwissenschaften verlängern musste. Mit diesem Er­eignis versuchte die Universitätsspitze, sich von der Beteiligung der Johannes-Universität an der Entwicklung des Fortschritts zu distanzieren. Tatsächlich wurde es von den noch nüchternen Protagonisten dann doch als Tanz auf dem Vulkan verstanden, der darunter enden würde, als Negierung der Realität. Aber es war eine Flucht, der sich niemand entzog, und es gab kein kündendes Glockengeläut.
Allerdings nicht wie in Basel, wo seinerzeit die Kultur die Basler Zeitung boy­kottiert hatte, sondern umgekehrt sah sich die WAZ nicht mehr in der Lage, den immer wieder und hartnäckig geleugneten Verfall der universitären Welt zu doku­mentieren. Zu sehr breitete sich eine immer größere Verlegenheit und Scham bei den Unbeteiligten aus. Auf den immer häufigeren und dringenderen Sitzungen der Universitätsverantwortlichen malte weiter jeder nach seiner Begabung Blumen, Spiralen, nackte Frauen und Männchen unkommentiert vor sich hin – nur wenig früher wären die Ergebnisse Objekt einer Ausstellung zu intellektuellen Späßen geworden –, wurde weiterhin darüber gegrübelt, was zwischen bekannten Beinen doch noch zu finden sein könnte, träumte dem leicht fortgeschrittenen Alter ent­sprechend, man könne jemanden – möglichst sich selbst – bei einem blowjob beobachten und dachte darüber nach, wie die Stiftungsgelder nicht zu verbraten, sondern für die Beteiligten nützlich genutzt werden konnten, z.B., um eigene Honorare in einer Liga mit Howard Stern zu finanzieren. Und wer gar nicht mehr auf die Diskussionen um sich herum achtete, vertiefte sich in die eigenen sexuellen Erinnerungen und versuchte eine Rangliste der Erfolge und Erlebnisse aufzustellen. Die Selbstreferentialität universitärer Äußerungen übertraf inzwischen bereits die vatikanischer Enzykliken. Die Zeit war nicht mehr gegeben, sich mit einem universitären Schlüsselroman in Anlehnung an Werner Zillig zu befreien. Es spielte auch keine Rolle mehr, dass auch das Lupanar Güterslohs in dieser Zeit nach einem offensichtlich unbeabsichtigten Kurzschluß abgebrannt war, eine ande­re Herzogin der Academia an der Syphilis verfaulte, die sich ihr Gatte bei einem Lakaien eingefangen hatte, weil Antibiotika knapp geworden waren oder das Ver­fallsdatum längst überschritten hatten wie bei jenen, die man wenige Jahrzehnte vorher nach Rußland oder in das bereits untergegangene Jugoslawien zu schicken pflegte. Der allgegenwärtige Weltuntergang an einem letzten Ufer gewährte viele folgenlose Möglichkeiten. Andere schwiegen. Sie hatten die Möglichkeiten der Johannes-Universität genutzt, so wie die Chemikerin Jewgenia Jaroslawskaja, und sie merkten erst jetzt, dass sie sich selbst auf dem Campus einen Gulag geschaffen hatten. Andere hatten die Leichtigkeit des Seins genossen, die Leichtigkeit, mit der sie Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinde geworden waren, ohne zu merken, dass sie ihre Seele dem Teufel verkauft hatten, keinen silbernen Knopf mehr hatten, mit dem sie ihn hätten erschießen können. Sie paßten in die Reihe der naiven Ge­lehrten, die ihre Gelehrsamkeit und Spielwiese mit der Mittäterschaft an unduld­samer Herrschaft, so wie der Chemikeronkel Karls unter faschistischem und sozia­listischem Vorzeichen, erkauft hatten. Sie waren die Juniorprofessoren – oder eigentlich die Homunculi –, die gut bezahlten Abhängigen eines selbstbestimmten Zeitgeists, eines sich selbst spiegelnden Regisseurtheaters. Spät, zu spät erkannte Frau Professor Grebenstein, die immer häufiger zu der kostbaren Sammlung von Prognostica griff, die die Bibliothek in besseren Zeiten erworben hatte, so dass schließlich fast alle Bände die Wände ihres Büros füllten, die Notwendigkeit, die Universität zu einem The Greenbrier-Hotel auszubauen, um der ersten Nach-68er-Generation eine Zuflucht vor ihrer Katabasis zu verschaffen. Sie versuchte es, und die Bautätigkeit spiegelte Aktivitäten wider, die nicht mehr zum Leben gehörten. Mancher Fenstersturz war auf halber Höhe entweder Mord oder Selbstmord. Doch immer fehlte die Zeit, um auf halbem Wege „Vorsicht“ zu rufen, und die Kraft, sich aus erdnahen Schuhen aufzuschwingen. Mancher Liebhaber konnte längst für die nicht zu begreifende Gegenseite arbeiten, manche Geliebte die Herausgeberin eines konservativen Blattes sein. Dies führte zu Aufräumarbeiten in der Universi­tät. Vor allem wurde dem längst in eine vermutete Senilität abgedrifteten Karl mit Gerichtsbeschluß die Zeichnungsberechtigung für das Münchbergsche Stiftungs­vermögen entzogen. Statt seiner erhielt Theodor Schlambusch, ein erfolgreicher Mittelständler aus dem Bielefelder Raum, Procura, dem es noch einmal kurz gelang, entgegen den auseinanderstrebenden Interessen der Gründermütter und –väter das Vermögen der Universität nicht nur zusammenzuhalten, sondern sogar noch zu vermehren, da er die vielen zum Teil fast verborgenen Quellen in einem Reservoir sammelte und dabei die Übersicht behielt. Aber er merkte sehr früh, dass einiges sich nicht verborgen halten lassen würde, nachdem das Vertrauen in die Johannes-Universität durch das Tun zahlreicher Mitspieler und Nutznießer verlo­rengegangen war.
Andere kritische Geister, die sich vielleicht doch an einem Schlüsselroman versuchten oder offen Kritik übten, wurden marginalisiert. Niemand dachte daran, dass ein leidenschaftlicher Alexandriner sich nur eine Sache nicht erlaubte, die Selbsttäuschung.
Und war sie nicht fast erblindet, als ihr durch einen noch als solchen erklärten Studentenulk, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, die Tür zum Hörsaal B, der offiziell als Professor Otto Saal in den Akten erschien, ins Gesicht explodierte? In ihrer Verzweiflung dachte sie daran, den Sicherheitskräften zusätzliche rituelle Aufgaben zu übertragen. Als bezahlte Söldner waren sie gebrandmarkt und unausweichlich an das Schicksal Güterslohs gebunden. Als Lukas, kein Führer der studentischen Massen, vielmehr inzwischen nur mehr ein dumpfer, verzweifelter Tropfen im Meer der Protestanten, mehrere Kontrollstellen überwunden hatte, aber schließlich doch aufgegriffen wurde, als er seine Zeugnisse aus seinem Zimmer aus dem Haupthaus auf dem Campus holen wollte, wurde an ihm zur Abschreckung und als Exempel das dhabh vollzogen, weil der Zorn und die Angst immer allgemeiner geworden waren – er war so jung gewesen und sah im Tode so alt aus, und Frau Grebenstein fragte fassungslos: „Wer tötete den Toten mir?“ Und so, statt ihn völlig zu vernichten – Angela hatte ihm heimlich eine Hand abgeschnitten, um seinen Mord zu sühnen, türmte man Ruinen über seine Reste, und er wurde zum Basilisken, der immer von neuem das Universitäts­gelände bedrohte mit der nächtlichen studentischen Meute im Rücken und zur überlebenden Idee.
Er ist vorige Nacht gestorben unter einem Gitterwerk von Schatten, im Rauschen des Windes, der schlechtes Wetter meldet. Er ist vorige Nacht gestorben, ohne ein Wort der Vergebung, ohne Verständigung in bloßer Schuld, mit bloßem Lächeln. Er ist vorige Nacht gestorben. Er ist befreit. Doch hat er selbst noch im Tod Leid getan. Denn seine Mörder haben die Macht über ihn verloren.
Wenig später wurden zwei Mitglieder des Sicherheitsdienstes von ihren eigenen Leuten verhaftet, nicht einmal wegen Lukas, sondern, weil sie zunächst den Fal­schen erwischt hatten. Sie entschuldigten sich damit, dass er sich nicht gewehrt ha­be. Aber da glaubte schon niemand mehr, dass dies eine hinreichende Sühne sein könne, und sie wurden neben vielen kleineren Strafen zur Wallfahrt nach Wilsnack im Brandenburgischen verurteilt. Vielmehr mutierte die universitäre Elite in der Sicht der Betroffenen zur kriminellen Bourgeoisie, obwohl auch Frau Kim-Sebe­styn dem von ihr damals favorisierten post-postmodernen neorealistischen Güters­loher Maler Adam Müller-Stettenfurth den Auftrag gab, ein spätes Bild von Thea­genes und Charikleia anzufertigen. Dies war auch das Mal, bei dem man bemerken konnte, wie Rechtsgrundsätze, die einen überführten Täter erforderten, beiseite­geschoben wurden, um einem diffusen oder chinesischen Gerechtigkeitsbedürfnis Geltung zu verschaffen. Glücklicherweise waren die Kräfte auf allen Seiten nicht stark genug, damit einen Opiumkrieg zu entfesseln, doch es reichte, damit Lukas einige Wochen niemals vergessen wurde, und es schwächte den zielgerichteten Willen des Sicherheitsdienstes, der wie in größeren Systemen auch die Verant­wortung für die Entscheidungsträger übernehmen mußte. Es reichte auch, Tenny­son zu zitieren: „Self-reverence, self-knowledge, self-control – these three alone lead life to sovereign power. But not for power – power of itself would come un­called for, But to live by law, acting the law we live by without fear, And, because right is right, to follow right were wisdom in the scorn of consequence,“ oder zu markigen Worten zu greifen, die Frau Grebenstein formulierte: „Aber inmitten die­ser Verwundungen und Zerstörungen bleibt der schöpferische Geist der Hochschu­le wach und lebendig. Es wäre unmännlich und undeutsch, in die tatenlosen Abgründe des Pessimismus und des passiven Abwartens abzusinken.“
All diese Maßnahmen belasteten zum ersten Mal auch die finanziellen Möglich­keiten einer reichen Institution, auch wenn es gelang, die Ausgleichszahlungen an die teilenteigneten und dadurch verarmenden Bauern in der neuralgischen Zone des antifaschistischen Schutzwalls auf den Bund abzwälzen. An niemanden jedoch konnte man die schwelende Unzufriedenheit dieser Bevölkerungsteile abtreten. Hier rumorte ein Unruhepotential wie in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhun­derts bei den Bauern in Hunan und zu Beginn des unsrigen bei denen der Provinz Anhui. Das wachsende historische Bewußtsein der Eingeschlossenen verursachte weitere realistische Depressionen.
Längst auch war die Stimme von Max Rusedski, dem verantwortlichen Anführer des Sicherheitsdienstes, mit Sitz und Gewicht im Universitätssenat, einem eigenen Büro im Rektorat und einem berühmten Portrait Friedrichs des Großen über und hinter dem Schreibtisch an universitären Entscheidungen beteiligt, und Frau Gre­benstein schaute ihn ängstlich an, wenn sie Pläne, die er ihr suggeriert hatte, im Akademischen Senat vortrug und doch in vergeblichen Emanzipationsversuchen ihn zu verführen suchte: „Du mußt für mich töten, wenn Du mich liebst.“ Das galt allerdings auch umgekehrt, als Rusedski als Kontrollinstrument eine erweiterte Sippenhaft vorschlug und damit seine innere Verängstigung offenbarte. Er begrün­dete dies damit, dass weiterhin zwar die breite Nutzung der gesellschaftlichen Po­tenzen gegeben sei, dass es aber unter den Universitätsangehörigen keine Verun­sicherung geben dürfe, kein Zurückweichen und kein kapitulantenhaftes Verhalten. Auf der anderen Seite hätten es aber die Universitätsangehörigen versäumt, einen zufriedenstellenden Stand bei der Verankerung in der Zielgruppe der Studenten zu erreichen und ihren Standpunkt in der Zielgruppe zu popularisieren. Unterschwellig drohte er ihr damit, die notwendigen universitären Abstimmungs­ergebnisse zu manipulieren. Frau Grebenstein mußte einen Satz formulieren, den sie manchmal gedacht hatte, aber in guten Zeiten nie gesagt hätte: „Ich lehne eine Zensur nicht mehr prinzipiell ab“, und es erwachten dunkle Erinnerungen daran, dass so etwas doch nicht richtig sei. Sie mußte Rusedskis Vorschlag jedoch unter­schreiben, um sich weiter auf ihn stützen zu dürfen, und seine universitäre Stellung wurde dadurch gefestigt, dass er zum Leiter der Abteilung für Extremsituationen berufen wurde. In Frau Grebenstein schlummerten Phantasien, in denen sie sich und Rusedski mal als Phoolan Devi und Koose Muniswamy Veerappan als Paar die Wälder zwischen Gütersloh und Brackwede unsicher machen sah, strafend und plündernd. Ein anderes Mal entdeckte sie sich in einer weltuntergangsskeptischen Liebeslandschaft. Dann wieder überfiel sie ein religiöser Wahn, und sie suchte ver­geblich ihre thebäischen und mauretanischen Gefährten, damit ihr Blut Same der Erneuerung werde, wenn sie denn nicht den an der Johannes-Universität immer stärker nagenden Stürmen und Unwetter trotzen konnten.
Ahnte sie gelegentlich, dass Rusedski von Übel war, so hätte sie ihn doch nie er­schießen können, weil sie ihn zu oft ohne Hosen gesehen hatte. Sie hätte ihn auch nicht tot in Tüchern gehüllt in die oberste Etage des Präsidialamtes, des alten Kon­trollturms schleppen können, ihn an einem Arm und einem Bein ans Fensterkreuz hängen können, um so zu zeigen, dass sie büße. Es war ein Teil des Soldes, den sie einander zahlten. Aber nicht sie, sondern die Studenten außerhalb der Bannmeile waren die Heuschrecken, und sie waren gleich den Rossen, die zum Kriege berei­tet sind; und auf ihrem Haupt wie Kronen dem Golde gleich, und ihre Antlitze gleich der Menschen Antlitz. Frau Professor Grebenstein hatte keine Zeit mehr, die gerechte Sprache zu benutzen, und so beobachtete sie, dass sie Schwänze hatten gleich den Scorpionen, und es waren Stacheln an ihren Schwänzen; und ihre Macht war zu beleidigen die Menschen fünf Monate lang. Und dennoch waren die Ereignisse um die Johannes-Universität nicht bedeutend genug, als dass die Steine hätten hörbar sprechen können, jeder Winkel eine Erinnerung beherbergt hätte, jeder Schritt Aufmerksamkeit erregt hätte.
Dann wieder erklärte sie sich zur Neokonservativen im Kampf gegen den Terroris­mus der Gegenwart, ließ die längst in sich zusammengesunkenen Kirchen auf dem Campus wieder aufblasen und versuchte sich als Laienpredigerin. In ihren Predig­ten gerierte sie sich als Heiliger Wolfgang und versprach den verwirrten Gegnern der Universität den vollkommenen Ablaß, ließen sie nur von ihren Irrlehren und beteten für den Zusammenhalt der akademischen Gemeinde. In der katholischen Kirche wies sie mit einem überdeutlichen Zeigefinger auf das Altarbild, das Maria als gute Hirtin darstellte und ebenso anrührend war wie das sehr ähnliche, das wir alle aus der Filialkirche St. Wolfgang in Thaining bei Landsberg kennen, für das nicht Marie-Antoinette, sondern eine unbekannte leichtfertig unschuldige bayeri­sche Prinzessin Modell gestanden hatte. Und schmerzlich angerührt dachte sie in solchen Augenblicken daran, dass an einem solchen Ort nie die Epitaphien langer Reihen von Archidiakonen hängen können würden, auch nicht die ihrer arbeitsa­men und treuen und tugenhaften Gattinnen. Vergeblich versuchte sie, Hendrick Busmann zu bewegen, das Gnadenbild aus Kevelaer nach Gütersloh zu entführen, um die Normalität einer Wallfahrt zu konstruieren. Stattdessen pilgerte sie zur Madonna von Telgte. Um ihren Gottesdiensten die wahre Würde zu verleihen, wurden jedes Mal die entsprechenden Merkblätter verteilt, auf denen die liturgischen Teile, bei denen sich die Gemeinde zu erheben hatte, mit einem Sternchen (*) versehen waren, etwas, das wohl kaum so abwegig war, wenn russische orthodoxe Traditionen mit Cueca Tanzrhythmen, mit afro-amerikanischen spirituals und dem Agnus Dei der Braunschweiger Kirchenord­nung von 1528 gemischt wurden.
Sie floh vor der Bedrohung, und in ihrer Not befürwortete sie die Einrichtung von Internierungszonen innerhalb des Kontrollrings, die im internen Wortgebrauch des Wachdienstes bald zu Kaffernkrals mutierten und doch die schönsten jungen Gesichter enthielten, verzweifelt und versteckt trauernd und versucht, mit letzten Bleistiftstummeln auf Papierresten schreckliche Erinnerungen festzuhalten und das Böse mit seinem wahren Namen Brundibar zu benennen. Allein nur dem französi­schen Studenten Charles Dellon gelang es, einen Text über Folter und Verfolgung aus Gütersloh hinauszuschmuggeln.
Rusedski war aber keine so unglückliche Wahl wie die des ersten Verfassungs­schützers Deutschlands nach dem Kriege, Otto John, er war auch keiner der unter einer reservatio mentalis zu stehen schien, keiner der hätte sagen können: „Wir schwimmen doch alle in der gleichen Buchstabensuppe,“ sehr viel mehr gehörte er zu der Gattung Mensch, die tierlieb ist, darüber hinaus handelt und Ergebnisse er­zielt. Und doch hatte er die Folgen der exemplarischen Hinrichtung von Lukas un­terschätzt. Diese war der Auslöser für das Phänomen der schwarzen Witwen in Gütersloh, während Rusedski immer erschöpfter wurde, da er auch noch zweimal in der Woche Frau Grebenstein flach legen musste und dabei immer mehr das Ge­fühl hatte, ein trockenes Türblatt zu bearbeiten, selbst wenn sie auf dem Höhe­punkt wie die sterbende Mutter des Aristeides ihm ihre Brust darreichte, verzwei­felte Lust vortäuschend. Abgesehen von den psychischen Begleiterscheinungen gab es keine anderen. Beide bezahlten lediglich einander. Sie war zu alt, und er hatte vergessen, rechtzeitig Testoviron einzunehmen. Auch als sie in der Hoffnung, die Durchblutung zu verbessern, aneinander Trepanationen vornahmen, erwies sich diese Maßnahme nicht als Jungbrunnen, aber es war eine Beschäftigung in hilfloser Zeit, in der sich Frau Grebenstein in Augenblicken der Klarsichtigkeit an die Sagen ihrer Kindheit erinnerte und sich in die „temps que Berthe fi­lait“ zurücksehnte.
Gütersloh geriet als Negativum auf die internationale Landkarte. Der einst als Ehrenbezeichnung eingeführte, als Abgrenzung zu den inflationären Fachhoch­schulabschlüssen intendierte, als Qualitätsbeweis anerkannte und hinter dem Namen geführte Code E.G.U.I. (eruditus/a güterslohensis universitatis Iohannei) wurde allmählich zur Pflicht, damit jeder gewarnt sei, wie durch die älteren deut­schen Regeln, z.B. Dr. dent. (Bucuresti) oder Otorhinolaryngologist (Dimashq) auf Praxisschildern, in Rechnungsköpfen und auf Visitenkarten und in Ausweispa­pieren schreiben zu müssen oder bis zur Kennzeichnung einer Professur aus der modernen Stadt Dalian. Die Deutungsmacht entglitt den eigentlichen Protago­nisten und führte zu ihrer Verunsicherung, so dass sie schließlich in jeder ihrer Handlungen angreifbar wurden – non verbis, sed rebus, zu hart, nicht hart genug durchzugreifen. Die Verfolger wurden zu Verfolgten. Und auf der Flucht blitzten kurz ihre Ärsche. Höchste Alarmbereitschaft führte zu Immobilität, führte zu ange­strengten Revitalisierungsversuchen, indem man Yvonne Catterfeld und gealterte und deshalb gepuderte berühmte deutsche Fernsehmoderatoren in Anlehnung an die Pekinger Universität als Gastprofessoren einlud oder zu Juniorprofessoren des Pop ernannte, die völlig innovative Unterrichtsmethoden u.a. in Form der Hypno­pädie einführten, oder, wenn das nicht zu helfen schien, griff man zum Mittel des public viewing im Glauben noch Aufmerksamkeit wecken zu können Man inve­stierte in die spectacles vivants. Auf den sich immer häufiger wiederholenden Sitzungen wichen die Teilnehmer immer mehr auf hilflose Überlegungen über das, was vielleicht gehen könnte, aus. Man wagte sich vor mit unmöglichen Kompro­missen, die in der Konfrontation endeten. Das Ergebnis waren gegenseitige Be­schuldigungen, die personelle Verstärkung des Sicherheitsdienstes, der Austausch von Personal, die Entlassung des universitären Glückes wichtigsten Unterpfandes, Ms Caroline Ffinch. Mit jedem Tag waren die stetig kreisenden Bewegungen ihrer Hände, ihr mit jedem Argument zustoßender Kopf mit allzu stark artikulierenden Lippen wie sie es von amerikanischen Fernsehmoderatorinnen gelernt hatte und immer unregelmäßiger und größer erscheinenden Zähnen enervierender und quä­lender geworden. Überdies entwickelte sie auf ihre älteren Tage poetische und poetologische Ambitionen und versuchte einen weiteren Literaturpreis für die ihrer als einzigem Jurymitglied Ansicht nach besten Akrosticha, Mesosticha und Tele­sticha bis hin zu isopsephischen Versen. Die Gründe dafür wurden allerdings aus ihrer voruniversitären Zeit hervorgeholt, und wieder kamen die grünen Aktendek­kel zu Ehren.
Und eben die Schaffung der erwähnten Sonderzonen: Im Senatssaal wurde eine Generalstabskarte von Gütersloh und Umgebung aufgehängt, auf der mit roten – „wir“ – und grünen – „die“ – Lämpchen der Frontverlauf immer wieder neu mar­kiert wurde. Daneben hatte man eine erbeutete Fahne des Feindes aufgespreizt, die als Zeichen den Heiligen Vitus im Kessel trug und offenließ, ob man sich selbst als Opfer sah oder damit eine Drohung ausstieß, um z.B. wie ein Fürstbischof zu verlangen, dass 500 Studenten in Bußkleidern und barfuß vor dem universitären Führungsgremium erschienen. Verlorengegangen waren Klarheit und Stärke eines Samurais, die Frau Grebenstein einst ausgezeichnet hatten, wenn sie mit ihrer etwas eigenwilligen Art der Zen-Meditation den Weg zu ihren Kraftzentren gefun­den hatte und die Entwicklung nach ihren Vorstellungen steuern konnte. Statt­dessen begann sie in den seltenen freien Stunden oder wenn sie sich eigentlich in den erholenden Schlaf begeben sollte, sich der Arithmomantie und Onomatoman­tie hinzugeben – mit der gleichen Nachlässigkeit, mit der Fulgidus ille calix divino porcio mense als das Jahr 1426 interpretiert werden konnte –, mit medizinischen Elixieren zu experimentieren, die ihr genau dazu verhelfen sollten, ihren belasteten Magen und ihre Nerven besänftigen sollten. Sie hantierte mit Kokain-Chlorhydrat, beschaffte sich Narcéïn-Chlorhydrat, verteilte Pepsintropfen, arbeitete mit dem Krähen-Auge, der Nux vomica und vermischte diese Mischung mit Samos- oder Muskatwein, den sie durch Hinzufügen von 96%igem Alkohol verstärkte. Manch­mal schüttete sie auch Jodtinktur oder Gerbsäure in ein ähnliches alkoholisches Gebräu. Sie bereitete auch einen Flacon mit dem Gift der ägyptischen Kobra vor, nachdem sie wie Kleopatra vor ihr verschiedene Gifte an den Gütersloher pendents von Sklaven ausprobiert hatte und feststellen konnte, dass der Biss der Kobra Schläfrigkeit und Schwere, aber keine Schmerzkrämpfe verursachte.
Stattdessen aber erhielt der tägliche Frontbericht Priorität. Wieder einmal waren fünf Studenten diesseits einer Fußgängerbrücke gesichtete worden, wieder einmal waren an einem der gepanzerten Wagen des Sicherheitsdienstes alle vier Reifen zerstochen worden, wieder einmal war ein Mitglied eben dieses Sicherheits­dienstes im Dunkeln gestolpert oder war von den aufmüpfigen Studenten zusam­mengeschlagen worden. Gelegentlich allerdings gab es auch Erfolgsmeldungen, wenn wieder einmal eine in die Außenwelt aus Plaisantville hinausführende Brük­ke zum eigenen Schutz zerstört worden war.
Aus ihrem Zürcher Asyl diagnostizierte Frau Pambach progressive fundamentali­stische Entwicklungen, kampfbereite Formen fortschrittlicher Spiritualität gegen die Feinde des garantierten Erfolgs, die sich als Benandanti bezeichneten und aus den eurasischen Steppen über uns gekommen waren. Die Maßnahmen Frau Gre­bensteins interpretierte sie aus deren Sicht als kosmischen Krieg zwischen den Mächten Gut und Böse, deren Selbstverständnis als Ritt auf dem Daumen durch das Weltall. Die Furcht vor Vernichtung und nicht nur vor dem Verlust der eige­nen Identität veranlasse sie, so meinte Frau Pambach, Strategien und Praktiken aus einer längst geschlossen geglaubten Schublade der Vergangenheit zu ziehen und einzusetzen, die notwendig waren, wenn der Elan zur Offensive versiegt war.
Alle, die sich rechtzeitig Gütersloh entzogen hatten, erkannten mit Trauer eine solche Entwicklung auf allen Seiten. Ein schmerzhaftes Ende kündigte sich für Frau Grebenstein an, als sie schließlich den Nachruf für ihren alten Gönner Profes­sor Otto schreiben mußte, der bis zum letzten Augenblick aktiv auf einer Kontakt­reise nach Kiew plötzlich aber letztlich nicht unerwartet verstarb. Zuerst notierte sie sich die notwendigen Stichwörter, die danach in den Nachruf einflossen. Ein­geleitet wurde er pathetisch: „Seine letzte große Reise auf dem Dnjepr konnte er nicht mehr beenden. Wir sind sehr traurig.“ Danach folgten Bemerkungen wie „die Fürsorge für alle Mitarbeiter lag ihm besonders am Herzen, für ihre Anliegen hatte er stets Zeit und Verständnis“, oder etwas weiter im Text „seine stete Aufmerk­samkeit galt der Unterstützung des Nachwuchses, der Förderung der Wissenschaft, der Jugend und der Kindheit, die er in zahllosen wissenschaftlichen Beiträgen dem Verstehen erschloß“. Die Liste seiner Ehrenämter und Ämter war endlos. Bis zu seinem trotz allem unerwarteten Ende hatte er Wissenschaft, Gesellschaft und Po­litik befruchtet. Um ihn zu charakterisieren, griff Frau Grebenstein auf die Ana­logie mit Marquis Posa zurück, wobei sie offen ließ oder selbst nicht wußte, ob sie auf die historische Gestalt, auf Schiller oder auf die Pariser Uraufführung von 1867 von Verdis „Don Carlos“ rekurrierte. Jede, auch die letztgenannte mit Posa als Manager eines besänftigenden Pizzadiensts, war legitim. Sie hätte auch schrei­ben können von seinem Mangel an Humor, seinem Mangel an Witz und seiner Un­fähigkeit, sich und die Welt und Menschen freiwillig zu parodieren, aber dann wäre sie einer Selbstdarstellung bedenklich nahe gekommen. Sie schrieb davon, dass die Johannes-Universität im Rektorat unter einem Glassturz eine seiner chinesisch geschnittenen Jacken, seinen Tuxedo und Krückstock bewahre. Weniger dicht und erregend war der Nachruf, den seine eigene Alma mater, in der er nach seiner Pensionierung ein wenig an Einfluß verloren hatte, veröffentlichte. Hier wurden seine seitenfüllenden Aktivitäten bis auf die gesondert hervorgeho­bene Zeit seiner Präsidentschaft in dem Satz zusammengefaßt: „Der Verstorbene hat sich in unterschiedlichen Wirkungsbereichen Respekt und Anerkennung er­worben. 12 Jahre lang wählten die Kollegen ihn zum Präsidenten ihrer und seiner Universität. Sie werden sich daran erinnern, warum sie es getan haben“. Wenig später ließ Frau Grebenstein unfreiwillig im Traum ihr Leben in einer endlosen Kavalkade vorbeiziehen.
Einen weiteren Schock bedeutete die Entdeckung, dass das im Zusammenklang mit Pharlap wichtigste Pferd im universitären Stall der lokalen Förderung und Public Relations, Leslie Gun, von Hong Kong aus des Dopings mit Hydrozy-Promazine überführt worden war. Selbst Versuche, dieses Ereignis mit Hilfe schweizerischer und amerikanischer Anwälte ungeschehen zu machen, weil Leslie Gun doch immer in der vordersten Front des sauberen Sports gekämpft habe, dann sich von ihr zu distanzieren, ihr die Ehrendoktorwürde – so passend im Ostwest­fälischen für eine Reiterin – zu entziehen, scheiterte in einer Zeit, in der sich alles gegen die Universität verschworen zu haben schien und verfehlte die beabsichtigte heilende Wirkung. Der Liebesentzug auch des heimischen Publikums war wenig später vollständig, als sie versuchte, sich hinter Wortbildungen wie „Hygiene der Körperübungen“ zu verstecken und ihre früheren eingelösten Honorarforderungen im sechsstelligen Bereich und ihre empörte Ablehnung großzügiger Angebote, „ich muß eine Familie ernähren!“ gezielt gestreut wurden. Aber wenigstens dachte Frau Gun noch an ihre existierende Familie, an die halbwüchsigen Kinder Bert und Britta, an das notwendige Kindermädchen, deren Photo wenig später auf dem Nachttisch Berts als einzige Erinnerung stand. Natürlich dachte sie auch an ihren Mann, der ihr als herausgehobener Stallbursche bei den Manipulationen leider doch nicht gut genug geholfen hatte.
Der wenig später erfolgende Untergang der Universität verhinderte, dass Gerüchte aufgeklärt werden konnten, es habe in Gütersloh überaus schmerzhafte und in Ein­zelfällen lethale Versuche mit Gehirndoping, der Zufuhr fremder Hirnmasse auf mechanischem Wege, ähnlich der Selbstverabreichung von Fremdurin bei olympi­schen Spielen gegeben. Es sollten auch eugenische Versuche zur Sicherung des ir­dischen Glücks angestellt worden sein. Die alten Modelle komplexer Ehen aus dem Oneida-Experiment wurden wieder aufgegriffen, jedoch ergänzt durch ent­sprechende medizinische Hilfen. Ein verzweifelter Schritt, den langen Weg der Genmanipulation abzukürzen und den Ruf der Universität zu zementieren. „Das Erbe ist aufgebraucht,“ war die einhellige mediale außeruniversitäre Ansicht. Kaum jemand war bereit, Frau Grebensteins Beteuerungen, nichts gewußt zu ha­ben, Glauben zu schenken, als man auf den Seiten älterer Jahrgänge des Universi­tätsjournals Innovatio scientiae Begriffe wie Prohormone und scheinbar wissen­schaftlich wertfrei gebraucht Androstenedion fand.
Die Pozzi, älter geworden, noch wach geblieben, wie damals anläßlich der Grün­dungsfeierlichkeiten, schrieb ebenfalls einen verfrühten, aber zutreffenden Nachruf auf die Johannes-Universität, in dem sie das Schicksal der Universität mit dem des SSC Neapel verglich, überdies erwähnte, dass sie das Geschenk ihrer Universität anläßlich der Gründung eigentlich zurückfordern müsse, falls es nicht eventuell bereits verscherbelt worden sei, Les Sepmaines von Guillaume de Salluste du Bar­tas. Es habe schließlich seinen Sinn verloren. Die Lotterie mit einem Fiat bzw. einem VW der Phaeton-Klasse hatte bereits während der Gründungsfeier stattge­funden. Die Parallelen in den Verwicklungen in den Grauzonen des Kunstmarktes waren frappant – die Spitze des Eisbergs wurde mit dem angeblich gutgläubigen Erwerb von „Tarquinius und Lukretia“ aus dem Besitz des Immobilienhändlers Vladimir Alekseevič Logvinenko erstiegen und ersteigert. Die Zugehörigkeit der Universität zur Etenna-Mafia, die diesen Ort erfolgreich hinter einem subtropi­schen Dschungel hatte verschwinden lassen, um ihn systematisch und erfolgreich mit Detektoren auszubeuten, wurde immer wahrscheinlicher, wenn auch nicht wirklich beweisbar, da angeblich Gutgläubigkeit in die Provenienz der Funde zu ihrem Erwerb durch die Universität geführt habe. Dazu gab es umfangreiche Bele­ge.
Die Folgen, die Besuche der Polizei und des Finanzamtes waren es ebenfalls. Noch hielten die finanziellen Konstrukte, noch hielt die Fan-Gemeinde in Form von Schlägertrupps, die sich Hüter des Fortschritts nannten, noch gab es nicht nur die fleischfreie Wurst mit Friedensgeschmack, doch würde die Pozzi angesichts der pa­thetischen Worte, die sie da­mals gefunden hatte, der Johannes-Universität auch in der Amateurliga weiterhin alles er­denkliche Gute wünschen.
Sie schloß mit dem guten Rat, Taubenschläge zu errich­ten. Im Gegensatz zu Rin­dern und Schafen, die bis zum 29. September geschlach­tet und eingesalzen werden müssen, brüten die Tauben – bis auf die Holztauben – in einem sechswöchigen Zyklus. Sie hüten ihre Jungen, bis diese das geeignete Gewicht von etwa 500 g für den Back­ofen oder die Kasserolle erreicht haben. Dieser Zyklus wird brav die gan­zen sieben Lebensjahre einer Taube aufrechter­halten, und sie haben nichts dage­gen, wenn die Jungen, nachdem wieder zwei neue Eier im Nest liegen, weggenom­men werden, da sie sie sowieso über die Nestkante in die Selbständigkeit stürzen würden. Da beide Taubeneltern ausschließlich mit dem Ausbrüten und Aufziehen beschäftigt sind, können Tauben in großer Zahl auf engem Raum zusammenleben (bis zu tausend oder mehr). Dies gilt besonders für die Carneaux und Mondain-Züchtungen, die in erste Linie zum Essen bestimmt sind. Es wird genügen, wenn die Johannes-Universität alle sieben Jahre ein Taubenpaar verschont. Und doch waren ihre Äußerungen mit Traurigkeit gesättigt, dass die Realisation eines Trau­mes einmal mehr an den verschiedenen Wirklichkeitsebenen gescheitert war, der Taubenschlag wie vor Jahrhunderten von George Huddlestone nicht gesondert errichtet worden war, sondern das Herz der Johannes-Universität, die Kasse, in die einige Jahre lang die Einkünfte aus Schenkungen, Stiftungen und glücklichen Geschäften geflossen waren, genutzt wurde, so dass allmählich die Elektronik ver­kotete und unbrauchbar wurde. Der Schwung, etwas Neues zu schaffen, war abge­rutscht in Desertion und Yoga. Der Ruf, „wir unterwerfen uns niemandem in unse­rer Überzeugung an den endlichen Sieg“, wurde bereits übertönt von Marsch­tritten, Flammen und fremdartigen Gesängen. Die Amateurliga war der letzte Rest Hoffnung, etwas von einer tragisch gescheiterten Epoche bewahren zu können, dass die Tränen, die man dabei vergoß, den Boden befruchten würden. Sie hatte den Glauben an die Wunderkraft der heiligen Elisabeth und Sant Iagos verloren.
Bevor sie dies schrieb war auch sie einmal im chez André gewesen und hatte einen Vortrag über Les Dégénérés gehalten, Frau Grebenstein auf einem Bock, den sie im Glauben, es sei ein Pferd, mit Peitsche und Sporen bearbeitete. In Anlehnung an Collineau, den sie witzig verschwieg, teilte sie die Degenerierten in vier Klas­sen und überließ es ihren Zuhörern zu entscheiden, wer in welche gehörte: „Die erste Klasse ist die der echten, d.h. permanent Degenerierten, die zweite ist die der Konvulsivischen mit vorübergehenden Anzeichen der Degeneration, die dritte ist die der Impulsiven, Getriebenen, die ohne äußere physische Merkmale lediglich ihren tyrannischen Trieben folgen, die vierte ist die der – und sie suchte nach einem deutschen Wort, das sie nicht fand – émotifs, vielleicht Unruhigen, bei de­nen nur zwei Anzeichen auf ihre Krankheit hindeuten, ihre merkbare Kleinlichkeit und häufige Irritabilität. Ohne dies allzu weit auszuführen, läßt sich die Klasse der Degenerierten weiter unterteilen, in die Idioten, die verlorenen Einzelgänger, in die leichte Abweichung des Idioten, den Schwachkopf und den geistig minderbemit­telten auf der einen Seite, den Crétin auf der anderen. In diesemZusamenhang sind dann der Voll-Crétin, der Halb-Crétin und der Crétinöse zu nennen. Die Klasse der Konvulsivischen kann epileptisch, hysterisch oder choreisch sein, oft mit spasmo­dischen Bewegungen, schnellen, zuckenden Bewegung wie von einem elektri­schen Schlag. Manchmal kann man auch von einer verpuppten Epilepsie sprechen. Die Impulsiven wiederum zeichnen sich aus durch die Perversion ihres morali­schen Verständnisses. Alle vier Formen sind leider erblich.“ Abgesehen vom Bild zu Anfang ließ sie offen, wer und was gemeint sei. Verstanden wurde sie sehr einseitig und mit großem Beifall verabschiedet.
Zu diesem Zeitpunkt kam, nachdem die Denkprozesse abgeschlossen waren, sich die Klarsichtigen längst geäußert hatten, die Wissenschaftsministerin des Bundes zusammen mit Vertretern und Vertreterinnen der involvierten Stiftungen, die die Wissenschaft nach ihrem Bilde zu formen pflegten und nur noch innerparteiliche Konkurrenz und Demokratie kannten, zur Zehnjahresfeier der Johannes-Universi­tät, mit einem Hubschrauber eingeflogen, so dass sie nichts vom Schicksal der Erd­gebundenen erfuhr. Unterschlagen wurden zu diesem Zeitpunkt die Gütersloher Notwendigkeit, auf Hungernahrung zurückgreifen zu müssen, nämlich Pteridium aquilinum, Potentilla anserina, Conopodium maius, Lathyrus montanus, Elytrigia repens, Taraxacum obliquum, Orchis mascula, Equiseteum arvense, Stachys pa­lustris, Potentilla erecta, Chamaenerion angustifolium, Silene vulgaris, Polygonum viviparum und Carum carvi, wobei zur Verschleierung dieses Fakts auf die deu­tschen, minimal bekannteren Bezeichnungen verzichtete. Manches wurde sogar als Besonderheit angepriesen wie die Wurzel des Löwenzahns als Gemüse und wohl­schmeckender Kaffeersatz.
Alle versammelten sich im Rektorat, in diesem Tempel der Demokratie, den man besichtigte wie eine vergangene Kultur: „Wir haben die Entwicklung der Johan­nes-Universität seit ihrer Gründung vor zehn Jahren sorgfältig beobachtet und begleitet. Zwei Mitglieder der jetzigen Regierung sind Absolventen dieser Alma Mater – sie unterschlug, dass die Erfolgreichsten rechtzeitig das Studium abge­brochen hatten und nicht den Momenten des Scheiterns auf politischen Posten nachtrauerten –. Die Erfolge unserer Regierung gehen nicht zuletzt auf ihre an­wendungsbezogen, dienstleistungsbezogen, beraterbezogen orientierte Ausbildung zurück, auf den Leitgedanken einer Kultur der schnellen Entscheidungen, die Bereitschaft, im Team zu arbeiten, schnell zu reagieren und zu agieren, gordische Knoten“ – immer wieder voller stiller, erkennbarer Begeisterung für die vor­handenen Reste der eigenen klassischen Erinnerung, oder war es ein Knoten, den ein Prof. Gordon erfunden hatte? – „zu zerschlagen, dies sind Merkmale der hervorragenden Kompetenzproduktion Ihrer Universität. Sie haben sich der Not­wendigkeit heutiger wissenschaftlicher Tätigkeit gestellt, und so ist an der Jo­hannes-Universität Innovation nicht länger zufälliges Nebenprodukt der For­schung. Die gestrige Wissenschaft ist heute ökonomisch ausgerichtetes und ver­wertbares Handeln. Daher haben wir unsere Liebe von der Berliner Humboldt-Universität, die nur ihre Nobelpreise aus den Jahren 1901, 1902, 1905, 1907, 1908 und 1910 zählt und anführt – und so nicht einmal mit Würzburg konkurrieren kann –, endlich haben wir beim Zählen die Finger zur Hand genommen, voller Enttäu­schung über die nicht realisierte Innovationskultur abgezogen und entschieden, Sondermittel des Bundes zur Stärkung des so überaus großen innovativen Poten­tials der Johannes-Universität dieser zur Verfügung zu stellen und ihren Standard als Bundes-Stanford zu erhalten.“ Mit den Symptomen der üblichen Bunkermen­talität in Einklang stand die Selbstüberschätzung und der Glaube an den wie auch immer gearteten Endsieg. Ältere Pläne wurden durch Frau Grebenstein der Wis­senschaftsministerin vorgelegt. Nach dem Vorbild der University of California sollten die anderen Bildungsanstalten Ostwestfalens als Dependencen der Johan­nes-Universität reorganisiert werden. Bielefeld sollte sich als Santa Barbara, Pa­derborn als San Diego fühlen dürfen, Detmold und Lemgo galten als Los Angeles und Santa Cruz. Und tatsächliche paraphierte die Ministerin die vorbereitenden Verträge bis hin zu der Absicht, die genannten Städte in den bestehenden Kon­trollring einzubeziehen. Zu den Verträgen gehörten auch Auflösungserscheinun­gen an den älteren Universitäten außerhalb Güterslohs, verbale, nicht verpflich­tende Übernahmeangebote an Dozentinnen und Dozenten und Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen. Für die letzteren wurden ad personam Überhangsstellen geschaffen oder Freikaufverträge formuliert. Für die ersteren allerdings wurde ein Wissenschaftlerintegrationsprogramm entworfen, mit dem man vor Jahrzehnten bereits weich und sanft Gelehrte der untergegangenen DDR hatte auffangen wollen. Jetzt kamen all die Bedenken zur Sprache, die man in gesellschaftlicher Zeit aus Höflichkeit nicht erwähnt hatte, fehlendes Profil, Profilneurosen, An­grenzungen zur ganzen Welt. Man überschätzte überdies ein wenig die Erträge aus den niedersächsischen ererbten Gebieten, man unterschätzte den Anteil der längst im Übermaß privatisierten Mittel, die möglicherweise die Namen Eva von Trotts oder Gertrud von Plettenbergs trugen. Es waren eben doch nicht die 22 Milliarden $ Stiftungsvermögen, über die Harvard verfügte. Kurzfristig gelangte sie mit der „rechte Tasche – linke Tasche Methode“, aber auch durch die Verleihung von Ehrendoktorwürden an besonders interessante Personen wie Mordechai Vanunu wieder in die Schlagzeilen der Presse, und die feindliche Übernahme – so empfand es Frau Grebenstein – war für eine unbekannte Dauer abgewendet, da zwar die Rektoren und Präsidenten der Universitäten in Berlin, Hamburg, München und auf dem platten, sowieso unterversorgten Lande protestierten, ihr jedoch die inzwi­schen altersgemäß und ihrer öffentlichen Bedeutung entsprechend mit Hormonen und Ausgleichsarzneien wie Unmengen von Pfefferminztee, kleineren Dosen mit Schweineblut oder Essigsirup und Häppchen von Schlangenfleisch zusammen­gehaltene Frau Grebenstein mit vor Begeisterung noch einmal und zum letzen Mal nassem Höschen lautstark zur Seite stand, mit zusammengepreßten Knien zwar, aber die Arme in der Pose eines kurzlebigen Triumphators erhoben wie einst Elias Bierdel, oder so wie vor Jahren ein männlicher Universitätspräsident nach einem Bankett im Bundeskanzleramt und anschließender Veröffentlichung hochfliegen­der, wenige um so mehr begünstigender Pläne für eine zu fördernde Elite.
Sie hielt eine letzte große Rede: „Wir danken der Bundesregierung, die mit uns den Optimismus eines neuen Aufbruchs trägt und verbreitet. Das Meta-Ranking aus dem Frühjahr hat es bewiesen: Über alle Rankings hinweg, auch bei gelegent­lichen Rückschlägen, steht die Johannes-Universität auf dem ersten Platz in Deutschland.“ Auch auf Englisch oder Französisch hätte sie weitersprechen können: „Die Johannes-Universität ist eines der führenden Zentren der Welt für theoretische Forschung und intellektuelle Neugier. Sie wurde gegründet und exi­stiert, um grundlegende Forschungen in den Natur- und Geisteswissenschaften anzuregen und zu unterstützen, nämlich das originelle und oft spekulative Denken, das unser Wissen um die weltverändernden Wege erweitert. Daher bieten wir allen, die hier arbeiten, die Freiheit zu Forschung, die bedeutende Beiträge auf allen Feldern der Wissenschaft liefern wird.“ Und weiter: „Ich glaube, ich spreche im Sinne jedes Mitglieds dieser Universität, wenn ich feststelle, dass wir alle kaum je mit Belastungen und Herausforderungen wie denjenigen dieser Tage konfrontiert waren. In solchen Zeiten besteht die Gefahr, dass wir eines vergessen: Politisches Versagen – eine Ausnahme ist die Bundesregierung –, die Ignoranz gegenüber Wissenschaft, finanzpolitische Torheit und die Denunziation von Leistung, schlecht reden und die Intrige anderer Wettbewerber kommen von außen und nicht von innen! Niemals dürfen wir es zulassen, dass dadurch das Klima von Solidarität, unserer auf dem Briefkopf verewigten Corporate Identity und jenes uner­schütterlichen Optimismus‘ gefährdet wird, dem die Johannes-Universität ihre Gründung verdankt. Ich bitte deshalb alle, auch weiterhin diesen Geist zu be­wahren, zu erweitern und sich zu ihm zu bekennen. Wenn wir so handeln, haben wir eine erfolgreiche Zeit vor uns.“
Und sie formulierte ein letztes Mal schöne Ziele und gab sie als Realitäten aus: „Wir sind kein Konglomerat von Fachhochschulen, sondern eine wahre universitas, die im Dienste am Menschen durch Forschung, Lehre und Erziehung die Er­kenntnis der Wahrheit fördert, die Studierenden zu eigenen Persönlichkeiten ent­wickelt und sie in die Lage versetzt, sich selbständig eine eigene Stellungnahme zu den Grundfragen des Lebens zu erarbeiten.
Wir betreiben keine Abkapselung gegenüber dem lebendigen Leben und der von ihm durchpulsten Gesellschaft, sondern großzügige Aufgeschlossenheit für alle im gesellschaftlichen Bereich auftauchenden Fragen.
Unser Ziel ist die zielbewußte Überwindung des trügerischen Entweder-Oder in jeder Gegenüberstellung durch praktisches Erleben der Synthese, ist die Erziehung zu weltweitem Blick auf der Grundlage voller Gleichberechtigung aller und un­eingeschränkter gegenseitiger Achtung, Dienst an wahrhafter Verständigung.“
Selbstbeschreibung, mit tiefster Überzeugung vorgebracht, wurde zur Selbsttäu­schung und dann zum tödlichen Palliativ. Und mit der Wissenschaftsministerin un­ternahm die Rektorin Grebenstein eine Begehung der universitären Einrichtungen, zeigte ein pulsierendes wissenschaftliches Leben, da fast alle aus ihren Akti­vitäten außerhalb Güterslohs zu diesem Anlaß zurückgerufen worden waren und ihre wissenschaftlichen Ergüsse in Bangkok, Colombo, Vechta und Umeå hatten stornieren müssen. Allerdings war die Reihe mit laufendem Motor wartender Hub­schrauber auf dem Universitätsgelände lang. Frau Kim-Sebestyn erklärte in physi­scher Abwesenheit von einer großen Leinwand, dass sich die leeren Zimmerfluch­ten ihres Instituts nach dieser Entscheidung der Bundesregierung endlich wieder füllen würden. Endlich auch könne sie das Projekt der digitalen Entschlüsselung der Kunst zu Ende führen, nicht nur die malerischen Anteile Peruginos zu ent­decken, sondern auch seinen Schülern ihre Namen zurückzugeben. Honoriert wur­de die späte Auszeichnung, die die Universität erfuhr, mit einem imponierenden Scheck für den Wiederaufbau des immer noch brachliegenden Berliner Stadt­schlosses, der dann allerdings – denn was schert mich meine Entscheidung von gestern – zur endgültigen Umgestaltung des Palastes der Republik in ein Berliner Centre Pompidou eingesetzt wurde.
Dies war noch einmal eine Gelegenheit, zu der sich die endgültig zu Greisen ge­wordenen späten Freunde, Professor Mann und Karl, im einsamen Haus des erste­ren in Radevormwald trafen, um Erinnerungen auszutauschen und über das Schicksal der von Karl initiierten Universität zynisch zu raisonnieren und klapprig zu lachen – besonders gefiel ihnen der unerschütterliche Gründungsoptimismus. Mit zittrigen Händen tranken sie Tütentee und köpften eine Flasche Whisky, die ein ehemaliger Student bei Mann gelassen hatte. Ausnahmsweise durfte Karl in Anwesenheit Manns und in seinem Hause rauchen. Mann als der ältere der beiden zog die Verbindungen zur Straßburger Reichsuniversität und zur unseeligen Dia­spora der Überlebenden in Tübingen im Winter 1944/45. Der pompöse Anfang wurde konstatiert, ein beiläufiges Ende allerdings nicht anerkannt. Dazu war ihnen dieser Weltuntergang zu nah. Verkalkt wie sie waren, waren beide bereit, an den Determinismus zu glauben.
Ein Unglück kommt selten allein, und Frau Grebenstein dachte mit ihren Getreuen fast zornig an die unvermeidliche Wahrheit von Spruchgut. Die Gütersloher erkannten die Universität als Fremdkörper in ihrer eigenen Stadt. Vielleicht fließt das Blut vieler Völker und Rassen durch die Adern der Universitätsangehörigen, aber nicht eine Seele findet sich, nicht eine Tugend, aber alle Laster eben aller Menschengruppen. Und so wurde die Distanz unüberbrückbar. Auch außerhalb Güterslohs begann es zu rumoren. Still und ruhig lagen die Besitztümer der Universität in Niedersachsen, unanfechtbar waren die längst nicht mehr ausreichenden Erträge der Stiftung Hannelore Münchbergs, aber das waren nurmehr peanuts im zwingend erforderlichen Haushalt. In vielen Schachtelbeteiligungen begehrten die Betroffenen auf, zum ersten Mal, als die rumänischen Pressebeteiligungen und versuchte Manipulationen – Manoilescu hatte damit gar nichts zu tun gehabt – ruchbar wurden, weil sie nicht darauf beschränkt blieben, sondern die Verbindungen weit in die politische Elite hineinführten. Die Versuchung war zu groß, die finanzielle Unterstützung und Kontrolle der Romania Libera für Macht und Einfluß im Staate einzusetzen. Wie in solchen Fällen üblich, wurde versucht, den Protest der Miteigner auszusitzen. Es wurde nicht auf Protestschreiben reagiert, sondern nur im Interesse des ökonomischen Überlebens der Zeitung mit einem „Relaunch“ argumentiert, der durch positiven und dennoch investigativen Journalismus und positive Lebenshilfen herbeigezaubert werden sollte. Der Glaube der Rumänen an den deutschen Ordnungssinn wurde mit fast königlichen Bemerkungen über Primitivität und Schmutz honoriert und wurde unangemessen, aber verständlich, mit der Abwahl siebenbürgischer Bürgermeister vergolten. Der Repräsentant der Universität vor Ort erwartete Grüße, ohne selbst zu grüßen, er war Mitglied und Macher in vielen Modernisierungsprogrammen der rumänischen Regierung und zögerte nicht, die Vorteile eines autoritären Systems für den wirtschaftlichen Erfolg hervorzuheben. „Genehmigungsverfahren werden schneller durchgeführt, Enteignungen sind billig und unproblematisch. Der Gewinn lugt immer schon um die Ecke, wenn man sich nicht allzu sehr von beschwerenden humanitären Ge­sichtspunkten vernebeln läßt.“ Hier zum ersten Mal bekam der souveräne Glanz der Johannes-Universität sichtbare Flecken des Bösen, die sich noch nicht pandemisch, nicht einmal epidemisch ausbreiteten, aber die Unverwundbarkeit an Ferse und Schulter aufhoben. Noch konnten die Beteiligten mit Geld ruhig gestellt werden. Intern war die Lösung elegant, nach außen war der Ruf der Zeitung und ihrer akademischen Eigentümer hinlänglich befleckt und führte zu ihrem schlei­chenden, immer schleichenderen Tod. Das nächste Ereignis spielte sich ähnlich weit in Budapest ab, als man mit Mehrheitsbeteiligungen versuchte, die schwei­zerische und einheimische Konkurrenz zu verdrängen. Dann folgte in noch grö­ßerer Entfernung Argentinien mit Página 12, mit einer Zeitung, für die die von der Johannes-Universität kontrollierte Holding einmal mehr den ökonomischen Relaunch durch gute Verbindungen zur Regierung auslöste und mit entsprechen­den wohlwollenden Kommentaren honorierte. Und schleichend, voranschreitend und immer geschwinder wurde sie als das Haupt des Korruptionstotalitarismus in Deutschland ausgemacht. Da überdies das argentinische Abenteuer ungewollt Teil weltpolitischer Verwicklungen wurde, geriet die Universität auch in den Strudel der von der CIA verbreiteten falschen Hundertdollarnoten.
Dies begann, ihre Stellung zu untergraben. Wichtiger als die tatsächlich verfügba­ren Mittel war das Vertrauen, das die Universität einige Jahre unanfechtbar ge­macht hatte. Nun aber mußten Frau Grebenstein und die anderen erkennen, dass sie sich kaum noch von Borussia Dortmund unterschieden. Aber von Sulla zu lernen, dazu waren sie nicht mehr in der Lage, nicht einmal mehr, wie kleinere Geister, sich beleidigt zurückzuziehen. Es fehlte ihnen der Realismus und die Beweglichkeit, die so lange durch die kanakischen Mitglieder der Universität wirksam und nützlich gewesen waren. Geblieben waren die provinziellen Größen, selbst wenn sie nicht nur den deutschen Paß besaßen und glaubten, sie feierten kosmopolitische Feste, wenn sie statt des Reformationstages Halloween feierten. Und doch: Nicht nur der Rosenstock, der den Vorgarten mancher universitären Villa schmückte, hatte etwas anrührendes. Der Schrecken wurde noch einmal für einen Abend verdrängt, als standesgemäß Kathrin und ihre Quietschboys mit dem Hubschrauber für ein einmaliges Konzert auf dem Universitätsgelände eingeflogen wurden. Die Kenntnis von den in Gütersloh herrschenden Problemen war nicht bis ins Marburger Land vorgedrungen. Angehörige aller Seiten trafen sich zu diesem Ereignis, zwar mit diskreten Schutztruppen, die aber nicht eingreifen mußten. Alle durften ein kindliches dreidimensionales Vergnügen bis zu einem nächtlichen En­de genießen.
Dies war auch das letzte Mal, bei dem Angela ihre Schwester Friederike traf, die an der Universität geblieben war, und die Trennung war sehr schmerzhaft. Noch einmal schrieb Friederike aus der von sich selbst belagerten Stadt: „Was werde ich mich alleine und verlassen fühlen, wenn Du wegkommen solltest. Aber, Angela, sollte es Dir gelingen, nach Hause zu gelangen, dann versuch bitte, mich auch mit­zunehmen. Fährst Du nach Hause und ich bleibe hier, ja dann werde ich krank, wie ich nie in meinem Leben krank gewesen bin. Ich habe immer solche Angst, Mama lebt nicht mehr, wenn wir nach Jahren erst wieder nach Hause kommen. Es wäre schön, eines Tages plötzlich vor der Tür zu stehen, mein Gott, wie oft habe ich mir nicht diesen Augenblick in meinen Träumen ausgemalt. Also Angela, bitte, bitte nimm mich mit!! Ach, es wird mir recht unheimlich hier in G., wenn Du weg bist. Ich glaube, ich muß noch mehr Fatalist werden als ich es schon bin. Aber ich habe das Gefühl, ich ertrinke und sage dauernd zu mir selbst, dass die Qualen nur einen Augenblick dauern, dann ist das Bewußtsein weg, und alles ist Seeligkeit. Oder manchmal habe ich auch das Gefühl, in einer Zelle eingesperrt zu sein. Ich ver­suche, mich selbst zu beruhigen und sage, es ist alles nicht so schlimm, aber ich weiß, wenn ich die Selbstbeherrschung nur eine Sekunde verliere, bekomme ich einen Tobsuchtsanfall und renne gegen die geschlossene Tür. Inzwischen zwinge ich mich, eisern weiterzudenken und die Vorbereitungen für eine unklare Zukunft zu treffen.
Viele Grüße Friederike“
Während Angela erstarrt war nach den sich häufenden Erfahrungen, weinte Friede­rike um den besten Freund ihrer Schwester als habe deren Leid sie unmittelbar ge­troffen. Oft sah sie sich in der Rolle Angelas, spielte diese bis zum Ende und brach schließlich erschöpft zusammen, setzte sich so den Verdächtigungen des Wach­dienstes aus. Auf dem ganzen Campus gab es in der Endphase niemanden, der häufiger seine Papiere zeigen mußte, wenn sie auch nur morgens, ganz Routine, von der Baracke 23 zu einer sinnentleerten Lehrveanstaltung hinüberhuschen woll­te. Angela blieb im täglichen Leben außerhalb Güterslohs, brachte den Eltern die geretteten Unterlagen und ließ sich eine sittsame Zeit lang auf Gespräche mit ihnen über Lukas und die Machtlosigkeit ein.
Immer häufiger faßte Frau Grebenstein, wenn sie morgens, oft noch im Dunklen, in ihrem Postkasten nach dem täglichen Zeitungsbündel, den Westfälischen Nach­richten, der Süddeutschen Zeitung und anderen griff, die es beide zu dieser Zeit nur noch in der Gütersloher Ausgabe gab, immer in eine klebrige Masse fauler Sardinen, vor sich hin schimmelnder Äpfel und Tomaten, ein Grund, die Arznei­mittelquote, die neben den K-Medizinen und natürlichen Hilfsmitteln inzwischen Hormonpräparate und Bisphosponate umfaßte, um Sedativa zu erweitern, ihre Dossiers in Anlehnung an ihre Lehrmeister immer häufiger und paranoider zu kon­sultieren, um verständnislos zu eruieren, warum und für wen sie das Ziel solch infantiler Angriffe geworden war. Später am Tage kamen mit der Post und Haus­post Briefchen mit als Anthrax getarntem Backpulver. Ihre untaugliche Reaktion war der Rückfall in die Bunkermentalität, in der das Mißtrauen gegen jede andere Minderheit wuchs. Gegner wurden die merkwürdigen Ausländer, Rechtsextreme, die perversen Homosexuellen, bloße abartige Jahrmarktphänomene, die nur noch durch Aids an ihrem Endsieg gehindert wurden. Es war die schleichende bereits überall spürbare Orientalisierung Europas, nicht Globalisierung, sondern Unter­wanderung mit Balkanesen und Levantinern. Sie nannte es nicht so, sondern zog sich in die historische Analogie zurück, indem sie von mittelalterlichen Bischöfen sprach, die aus ihrer süditalienischen Heimat bis auf die britische Insel berufen worden waren, oder von der internationalen Kaufmannschaft, so dass man Jahrhun­derte später Straßennamen nicht mehr erklären konnte, weil die Familie Raillard inzwischen ausgestorben und vergessen war.
Also forderte sie jetzt den zubeißenden Rechtsstaat neben der Kinderbetreuung für alle, wie vor Jahren eine der klugen bundesrepublikanischen Parteien gefordert hatte. Es konnten doch nicht die selbstgeschaffenen Homunculi sein, über die man die Kontrolle verloren hatte. Alle wirksamen Hilfsmittel, jung oder jugendlich zu bleiben, waren aufgrund der Umstände Frau Grebenstein verwehrt. Der Schlaf floh sie, zu Spaziergängen hatte sie keine Zeit, da sie ununterbrochen an Paketlösungen arbeiten mußte. Die Freude an der geistigen Beschäftigung war ihr abhanden gekommen, auch die am eigenen Erfolg. Sie hatte auch den Versuch aufgegeben, Bonbons mit dem Siegel der Universität zu verteilen, um so den vergangenen Anfängen zu wehren. Da ihre Handlungsspielräume immer weiter eingeengt wurden, sich auf ihren Führerbunker beschränkten, litt sie unter ihrer Arbeit.
An einem späten Abend setzte sie sich schließlich an ihren Schreibtisch im Rek­torat, tatsächlich ganz allein, nur die Überwachungskameras des Sicherheits­dienstes waren längst auch auf den Innenraum gerichtet, schauten zu, registrierten den Lärm ihrer letzten Tränen, die Verformungen eines immer noch schönen Ge­sichts und versuchten mit hoher Auflösung zu lesen, was sie noch einmal mit der Hand schrieb, da sie offensichtlich nicht die Absicht hatte, das Geschriebene als Thesen der Öffentlichkeit an die Türen der immer noch aufgeblasenen Kirchen zu heften sondern das Papier sorgfältig faltete und in den Safe legte, diesen verschloß und langsam und müde, das Licht ausmachte, den Raum verließ, der nur mehr vom Infrarot der Kameras durchdrungen wurde, ob im Schatten sich ein Schatten be­wege. Und doch war dies ein später Augenblick, in dem sich ein Herz ihr hätte zuwenden können. Allein hatte sie ihren Stolz noch nicht verloren. Ihr Haar hatte im Dunkel seinen Glanz nicht verloren, ihr Gesicht war so deutlich wie in Porzel­lan gezeichnet, und selten hatte sie so klar nach vorn geschaut, als hätte sie eine liebenswerte Siegerin sein können, hätte sie nicht gewußt, dass die Johannes-Uni­versität a dream revolved geworden war.
Sie wanderte hinüber zum Haupthaus der studentischen Wohnsiedlung, das den Namen einer früheren Wissenschaftsministerin der Bundesrepublik Deutschland trug, Platz bot für vierhundert Studenten und Studentinnen, für einhundertund­zwanzig studentische Familien mit oder ohne Nachwuchs. Sie erinnerte sich daran, dass es errichtet worden war mit dem Ziel, eine lebendige und herausfordernde Gemeinschaft zu schaffen, berühmt für ihre Toleranz und ihr internationales Ver­ständnis. Hier hatten Lukas und Angela ein Appartement geteilt, und Friederike wohnte quasi als Geisel immer noch dort. In der Vorstellung Frau Grebensteins war das Haupthaus zu einer Art Baracke 23 eines Lagers geworden, die besonders berüchtigt war für ihre subversiven Elemente, die die Gesamtuniversität terrori­sierten und den Kontakt mit dem Feind in den Wäldern aufrechterhielten. Ru­sedski schloß sich aus dem Schatten kommend an. Gemeinsam gingen sie weiter, wenn auch nicht mehr in dem löffelengen Gleichschritt, den sie angenommen hatten, nachdem sie kurz nach Einrichtung des Wachdienstes in einer Schreckse­kunde aufeinander zu geflohen waren, damals in der Erwartung, dass Intellekt und physische Kraft, Durchsetzungsvermögen und Geld gemeinsam es noch einmal schaffen könnten: „Gudrun, das ist kein sicherer Ort mehr, um ihn allein und ohne Schutz aufzusuchen. Dort hat der besagte Lukas gewohnt und seinen schlechten Einfluß geltend gemacht. Wir sollten die Wachen verstärken und die doch immer mögliche Kommunikation nach außen unterbinden.“ Rusedski war jetzt dort ange­langt, wo man jeweils die Panzer des Gegners über die unschuldigen Opfer auf un­serer Seite rollen sah. Mit solchen Bemerkungen und stillen Erwägungen be­schäftigt hasteten sie gemeinsam an den Lilienbeeten, den Rosensträuchen, an den mit Ackerringelblumen, Borretsch, Alant, Hahnenfuß, Mittelwegerich, Maiglöck­chen und Ehrenpreis bewachsenen Grasflächen vorbei.
Immer noch hatte sie verständnislos in gutem Glauben geschrieben: „Die politi­schen Tagesaufgaben haben die Wissenschaften erstickt. Wir haben dem Liberalis­mus und der Freiheit gedient, sind jetzt selbst zu Konterrevolutionären und prü­gelnden Polizisten geworden.“ So war sie wie die amorphe Masse der wie betäubt auf Gütersloh marschierenden Studenten zur Zwangsschauspielerin in diesem Film geworden. Sie hatte ihr ganz persönliches Vermächtnis hinterlassen, den Willen, dass man ihr in den letzten Stunden nicht zur Hilfe kommen solle, im Vorgriff auf eine erlösende Euthanasiegesetzgebung. Ihre Enttäuschung konnte sie nicht mehr verbergen, zu einem Schritt über die Balkonbrüstung fehlte ihr der Sinn für das Pa­thos. Und in der Nacht hörte sie nur noch der Gott ihrer Kindheit: „Hilf mir, wenn es Dich denn gibt, Du Arschloch!“ Aber sie entschuldigte nichts von ihrem Tun, da es geschehn war, erklärte nicht hehre Beweggründe zum Auslöser schließlich gescheiterten Tuns. Sie gewann an Größe, die sie zwar früher hatte vermitteln kön­nen, bis zum Ende aber nicht besessen hatte.
Niemand der Beteiligten konnte wirklich begreifen, was schief gelaufen war, da wir die Ästhetik des Andersseins und den nichtkonformen Hedonismus usurpiert hatten, unsere Macht durch Verschachtelungen, die von der eigenen Gruppe kon­trolliert wurden, gesichert hatten. Durch immer mehr Übernahmen von Entschei­dungsfunktionen durch Mitglieder hätte eben dieser doch eigentlich funktionieren sollen. Und niemand mehr konnte unsere Aktivitäten kontrollieren. Gab es keinen anderen Grund als den, dass der Sicherheitsdienst nicht nachkam mit der Tran­skription der abgehörten Telephonate, dass das Geheimnis des Unheils lediglich in 123.000 Stunden nie abgehörter Gespräche in den mehr als hundert in Gütersloh gesprochenen Sprachen verborgen war und hätte vermieden werden können? Es war doch ein vollständiger Sieg gewesen, nach dem keineswegs die Alten mild lä­chelnd das Zepter übernommen hatten, sondern sie selbst die Früchte geerntet hat­ten. Sie waren die Jugend gewesen, die zum Augenblick gehört hatte und der ihr gehörte, in dem sie mit sicherer Hand, klarsichtig und daher machtvoll die Rein­heit einer neuen Welt erzwungen hatten. Ein Anschein dieser erfolgte durch die Wir-Gruppe, die groß und zu unübersichtlich geworden war. Sie waren zum Adel geworden, zu Konfliktlösungen unfähig, nur noch fähig zu Bestrafung und Rache, nur zu binären Konflikten fähig, die unberechenbar eskalieren und nur durch Machterhalt bewältigt werden konnten. Sie hatten ihre dörfliche Vergangenheit aufgegeben mit den dort vorhandenen Disziplinierungsinstrumenten, der kollekti­ven Rüge, die keine Berufung zuließ, aber lange funktionierte.
In der Realität setzte sich nicht die gerade vorherrschende Theorie der ewigen Ex­pansion durch, die die Welt in eine immer kälter, in der Verzweiflung immer schö­ner werdende Wüste verwandelte. Man hatte nicht gesehen, was man hätte sehen können, dass nämlich alle anonymen Systeme an ihrem Ende angelangt waren und sich nicht mehr die Studenten allein, sondern im Generationenverbund bis hin zu den Urgroßeltern, auf den Marsch begeben hatten. Aus der Not geboren war in der Nähe auf Distanz die Distanz aufgebrochen worden, wenn es auch mangels Masse nicht zum Big Crunch kam, sondern durch die Umkehr der Antimaterie zum Big Rip. Die Universität auf dem Flughafengelände wurde in einer Feuersbrunst weg­gerissen, riß das deutsche tertiäre Bildungssystem mit sich, und in diesem Chaos versuchten die Hinterbliebenen das ansehnliche Stiftungsvermögen untereinander aufzuteilen, die inzwischen wie eine ausgepreßte Zitrone mit zwei schwarzen Augenpunkten und senil gewordene Frau Jentner – doch so senil war sie nun auch wieder noch nicht, dass sie nicht selbst ihre Todesstunde verbergen konnte wie ihre ganze leibhaftige Person hinter Empfindungen der Macht und des Hasses, die nicht verstehende Frau Grebenstein – doch galt ihre Stutzigkeit noch nicht der eigenen Person. Nur wenn sie in ihr Reformhaus ging, um ökologisch abgebautes Salz für 70 Cent und chemisch unbehandeltes Orangeat für 30 zu kaufen, brachen die Eigentümerin und ihre einzige Verkäuferin in panischen Widerwillen aus, weil sie sich jedes Mal von neuem darüber beschwerte, dass die Verkäuferin die Summe im Kopf errechnet hatte und dann in die Kasse eingab, statt die Posten einzeln einzutippen. Wenn sie dann einen neuen Bon bekam, fehlte ihr die Spezifizierung der von ihr gekauften Waren. Dort war einer der wenigen Plätze, wo sie sich unendlich Zeit nahm, ohne in Führerbunkermentalität zu verfallen.
Es gab die immer starrsinniger gewordene Frau Kim-Sebestyn, die längst entweder als Muse oder zumindest als überaus erfolgreiche Sekretärin und Agentin großer mit ihrer Hilfe großgewordener Künstler drei weitere Namen zwischen ihrer alten und jetzt alt gewordenen Person geschoben hatte und so von außen unkenntlich und doch gleichzeitig vielen Banken bekannt geworden war, sich als Peggy Gug­genheim auf Kosten universitärer Mittel fühlte, selbst zu einem Gesamtkunstwerk, das ihre Umgebung adelte, geworden war und überdies eine 50 Mill. € Versicherungssumme für ihre inzwischen für wissenschaftliche Zwecke digitali­sierte Kunstsammlung kassiert hatte, die in einem selbstinszenierten Feuer, bevor „höhere Gewalt“ die Auszahlung verhindert hätte, in der größten Kunstkatastrophe seit dem Britart-Inferno zu Grunde gegangen war. Da diese Kunst ausgestellt und nicht gelagert worden war, erübrigte sich die Frage nach dem Wert magazinierter Werke, jedoch nicht nach dem Verlust der Geschmackskultur und Kennerschaft der Moderne. Einige Tage untersuchte die Kriminalpolizei, ob es sich um einen Sabotageakt handele, einige Wochen suchten die Detektive der Versicherungen nach Anhaltspunkten einer Verantwortung Dritter. Noch aber schwebte die Erinnerung von der Bedeutung der Johannes-Universität über dem Brandherd, und so wurden die notwendigen Unterschriften vielleicht mit einigen Zweifeln, aber insgesamt doch ohne Zögern geleistet. Einen Vorteil hatte die Klarheit einer Versicherungssumme. Es war hinterher nicht so schwierig wie im Falle Picassos, das Erbe aufzuteilen, wenn es auch leise Verdächtigungen gab, dass viele Werke mit Museumsrabatt gekauft worden waren, die tatsächlich aber den Eigen­tumsvermerk von Frau Kim-Sebestyn trugen, wodurch wiederum diese als Begün­stigte der Versicherungszahlungen erschien. Die Auseinandersetzung um die Um­rechnung immanenter Verluste in zählbare Werte trieb Frau Kim-Sebestyn noch einmal in die Interpretationshohheit, so dass sie mit Serra die schon seit Beginn der Menschheit bekannte Schönheit von rechteckigen Kuben von neuem entdeckte.
Jetzt konnte man sagen, dass wahrscheinlich alles zerstört sei und dass man nur mehr darüber lesen könne. Nachdem sich aber alle der Verantwortung entzogen hatten, tauchten auf dem Markt außerhalb des diskreditierten und teilweise zerstör­ten Gütersloh nicht nur meterweise die Inkunabeln der Universitätsbibliothek, sondern auch die aus Magdeburg übernommene Sammlung präparierter Gehirne und 278 Affenschädel auf, während der konsternierte Gütersloher Normalbürger auf die Ankunft eines Mel Gibson aus Rauch- und Nebelschwaden hoffte und sich darüber besorgt zeigte, dass die genmanipulierten Golfgraspollen inzwischen bis nach Hamm getrieben worden waren, weil niemand sich mehr dafür verantwortlich fühlte, den Rasen kurz zu halten. Über Gütersloh wölbte sich ein Aschendom, der den glitzernden Bruder Christoph Steinmeyers, eine der letzten Erwerbungen, die Frau Kim-Sebestyn getätigt hatte, blind werden ließ, und im Benzingestank der Autos, die die Szene im Stau zu verlassen suchten, starben viele kleine Tiere. Eines der letzten Bilder, das sich einprägte, waren im Vordergrund die Überleben­den, die nichts mehr in ihrer Einheit verband, Frau Grebenstein und Rusedski. Frau Grebenstein war zu Attis geworden und damit zu Rusedski, indem sie in der Rechten seinen abgetrennten Penis mit iambischen Akzenten schwang. Sie hielt ihre linke Hand an die Stirn und lachte, während er mit der einen Hand in der Nase, mit der anderen zwischen den Zähnen porkelte. Beide belegen ihre Zugehörigkeit zu den Alexithymen. Nur sie überlebten von denen, die sich im engeren Spektrum der universitären Exekutive befunden hatten, von denen, die das Stigma der Verantwortung an sich trugen. Ihre Hilfstruppen, der Sicherheitsdienst, hatten sich in gegenseitiger Meuterei zerfleischt, hatten den Strafvollzug übernommen und griffen auf die Strafen des Barock zurück, indem der gerade handlungsfähige dem Gegner die Brust mit glühenden Zangen kniff, die rechte Hand abschlug, auf dem Rad die Knochen brach und die zermalmten Körper auf dem Rad zur Schau stellte. Schließlich blieb der einzige Ire übrig, der in Ermangelung eines Gegners sich selbst entleibte.
Van Groningen war inzwischen pathologisch unfähig, auf einen derridaischen Trick oder Tick zu verzichten. Seine typologischen Überspitzungen wirkten manchmal nur noch wie Droodles. Sein Vergnügen an der eigenen Ingeniösität, seiner Rolle als David zu der Zeit, als Absalon die Kebsweiber seines Vaters vor den Augen Israels beschlief, wurde als irritierend exklusiv empfunden. Dem Schü­ler, Zuhörer, Leser blieb nur noch die Beobachtung seiner Selbstbefriedigung, wenn er wohl immer noch aufmerksam, doch mit geschlossenen Augen glaubte, den Sitzungen im Präsidialamt zu lauschen und damit zu gelegentlicher Entspan­nung beitrug, weil man ihn den schlafenden Professor nennen konnte. Einmal jedoch wachte er auf, als er meinte einen Beitrag zu den inzwischen notwendig gewordenen Sparmaßnahmen der Johannes-Universität leisten zu müssen. Er schlug vor, die Finno-Ugristik als wenig produktives Fach aufzugeben. Alle An­wesendenwaren froh, verzichtbares Kleinvieh aufgeben zu können, und der Antrag wurde einstimmig angenommen. Später zeigte sich, dass dieses Fach an unserer Universität nie exisitiert hatte.
Es halfen die alten Mittel aus der Zeit, als Adel noch verpflichtete, und Sluggan zog sich stilvoll unter Mitnahme des ihm verfügbaren Universitätsvermögens und aller ihm persönlich erteilten Forschungslizenzen zuerst kurz nach Irland – er wollte noch einmal die irischen Wiesen riechen – und dann in das immer noch existierende Nordkorea, das keiner hatte haben wollen, zurück, dem er mit dem dort enteigneten Stiftungsvermögen die Lebensspanne um weitere zehn Jahre verlängerte und wo er in Anlehnung an die Fernuniversität Hagen, an der er bereits in Gütersloh mitgewirkt hatte, in Wiju, unmittelbar an der nach China führenden Freundschaftsbrücke einen Studiengang Master of Peace Studies einrichtete, wäh­rend in der Ferne sich die Johannes-Universität quälte wie der zum endgültigen Tode verurteilte Stern EF Eridani und niemand mehr dort die Kraft aufbrachte, mit Robinson zu überleben.
Der Abgang Sluggans aus Gütersloh war sehr wohl komplizierter gewesen. Er war ein potentieller Bündnispartner Rusedskis, und er hatte sich anläßlich einer der un­zähligen Lagebesprechungen der Universitätsspitze bereit erklärt, als agent provo­cateur ins Chez André zu gehen. Die jungen Leute dort konnten sich eine solche Doppelzüngigkeit nicht vorstellen und empfingen ihn zuerst als neuen Bundes­genossen, hörten sich nach Karls präsenilen Entäußerungen zum Multikulturalis­mus Sluggans Lieblingsvortrag über Irland als revolutionärem Vorbild an und fanden Gefallen an seiner Beschreibung ihres Zustands, den er als Auszeit für Gedankenzeit bezeichnete, bis sie an seinen Versuchen, sich der Verantwortung und Veröffentlichung seiner Worte zu entziehen, merkten, dass er mit der gefor­derten Brutalität nur Strategien einer Konterrevolution anwandte und sie für die Verteidigung des status quo zu instrumentalisieren versuchte. Schnell entzog er sich der Drohung, geteert und gefedert zu werden, durch Flucht.
In Wiju durfte Sluggan seinen Maybach 62 bei sich haben, den er noch in Gütersloh über Anastasia Zbarskaya erworben hatte, ihn allerdings nur mit seinem koreanischen Chauffeur benutzen. Das war Yi Hakpo, an dessen Ernennung zum Professor an der Johannes-Universität Sluggan in einer Spätphase noch einmal kräftig mitgewirkt hatte. Zunächst tat er einer Kollegin in Bochum einen Gefallen damit, er tat es auch für sich, um sich mit einem Wissenschaftler aus dem friedliebenden Korea unmittelbar auseinandersetzen zu können. Die Bindung war stärker geworden, als Professor Yi von einer Nacht zur anderen von seinen Leuten nach Korea zurückberufen wurde, weil einmal mehr ein diplomatischer Schmug­gelring unerwünscht zerplatzt war. Weil er danach verbrannt war, war er eben nur noch als Chauffeur und Sekretär geeignet. Beide setzten sich mangels Benzin täg­lich eine halbe Stunde hinein und betrachteten von dort aus die Welt, wie sie sich in den giftgrünen Wogen des Yalu spiegelte. Inzwischen waren beide so alt, dass sie über ihre möglichen Nachrufe nachdachten, gelegentlich sogar das vanitas-Mo­tiv in Erwägung zogen „the boast of heraldry, the pomp of power, ..., Await alike the inevitable hour“, oder sie spielten mit der stabreimabhängigen Semantik ver­schiedener Sprachen, ob unvergeßlich bleiben werde der Toten Tatenruhm oder nur dommen over den døde. Und Sluggan verwechselte sich immer häufiger in dieser Zeit mit Francisco de Miranda. Am Ende geschickter als Lord Black of Crossharbour hatte Sluggan darauf verzichtet, auch das Kleingeld aus der Univer­sitätskasse zu stehlen, seine Freundinnen, ebenso kleinere Zuwendungen an Wohl­tätigkeitsvereine etc., bezahlte er aus den abgezweigten Pauschalsummen, aus den Buchgewinnen, die in die Millionen gingen, beim Wohnungstausch an der Ost­seeküste bei Rostock oder über dem Central Park in New York. Es gelang dank eines von ihm kontrollierten kleptokratischen Subsystems, einer Kumpanei von Lehrenden und Verwaltenden und tatsächlich einigen wenigen Studenten der er­sten Generation, die an Frau Grebenstein vorbei eine Nebenherrschaft über die Universität errichtet hatten. Und da er es schon immer verstanden hatte, die Inter­pretationshoheit für sich zu beanspruchen, sah er die verwirrten Studenten als Briten und die Angehörigen der Universität als die irischen Opfer von Drogheda. Er sah sich in der Rolle Napoleons, zwar ohne Prozeß, aber doch zu Unrecht ver­bannt worden zu sein. Er entwarf neue Staaten- und Weltordnungen, einen nord­europäischen Staat von Tromsö im Westen bis zur Kola-Halbinsel für die Gerech­tigkeit gegenüber der samischen Urbevölkerung unter Einschluß der Skoltesamen, der Pomoren und der durchtriebenen norwegischen Küstenbevölkerung, und er schuf ein fiktives Imperium inter mares von Polen im Norden bis zur rumänischen Schwarzmeerküste unter Einschluß aller danubisch geprägten Länder, also auch Griechenlands, Tschechiens, Weißruthe­niens und der Ukraine als Mittelerde Euro­pas. Er erkannte die Möglichkeit, dass in Afrika die Grenzen fielen, die Nationen Zentralasiens zu einem turko-iranischen souveränen Gebilde zusammenfanden. Dazu lud er ein alle, die nicht ihre Nation, aber sehr wohl ihre staatliche Souveränität aufzugeben bereit waren. So wurde Nordkorea für einige kurze Jahre wieder so etwas wie das Zentrum globaler Widerborstigkeit. Die Absolventen dieser Ausbildung wurden über das Reisebüro „Gentlemen“ in die garstige erste Welt geschleust. Und die Asche Sluggans wurde schließlich in der Mündung des Yalu verstreut, während auf der Insel im Fluß eine Gedenktafel auf Koreanisch und in Han‘gul geschrieben an ihn als Freund des koreanischen Volkes und westlichen Verkünders des Kim Ilsong-Gedankens erinnerte. Auf dieser Stele konnte man auch zum ersten Mal erfahren, dass sein zweiter Name Burmand gewesen war, und um sich unbewußt einen Teil seiner Selbstachtung zu erhalten, hatte er das Pseudonym Misneach gewählt. Aber auch dies geschah erst, nachdem man mehrere Lebensversicherungen aus dem kapita­listischen Ausland in Anspruch genommen hatte. Dann aber wurde kolportiert, dass sein Leichnam nicht in Gänze verbrannt worden sei, man habe sein Herz bewahrt, und jetzt pumpe es einmal im Jahr Blut, ein Wunder also, das danach viele Gläubige nach Wiju lockte und mehr touristische Gelder einbrachte als über den Eintritt zur Zeugenschaft seines Sterbens hineingekommen wären. Flankierend und kollateral verdiente auch die Hotellerie Wijus daran.
Yi Hakpo wurde als Sekretär sein Nachlaßverwalter. Dieser bestand zu einem recht späten Zeitpunkt nurmehr aus einem Testament, dessen Echtheit in folgender Weise bewiesen wurde: „Wir haben, Genossen, im Arbeitszimmer des Genossen Sluggan folgende Niederschrift gefunden, die von ihm für den Fall seines plötzlichen Todes verfaßt wurde. Diese Niederschrift stellt sein Vermächtnis zun seinen letzten Willen dar, der für uns alle, die wir seine Gedanken teilen, heilig ist. Ich, Yi Hakpo habe das Dokument nach dem Diktat des Genossen Sluggan persönlich auf der Schreibmaschine geschrieben und es enthält einige persönliche Verbesserungen und Ergänzungen, die von der Hand des Genossen Sluggan gemacht sind. Es unterliegt daher keinem Zweifel, dass diese Niederschrift vollkommen authentisch ist und auf die direkte Veranlassung und den Willen des Genossen Sluggan hin geschrieben worden ist.“
Davon kamen auch die zahlreichen Professoren und Dozenten, die gerade in dieser Zeit der Gefährdung der Universität aufgrund ihres Renommés eine ihrer zahl­reichen Gastprofessuren wahrnahmen oder eines der internationalen Kulturinstitute des Bundes leiteten und daher ungerechtfertigt im Exil überwintern konnten. Justi­ziabel war nichts an ihrem Verhalten gewesen. Sie waren nur die bekannten Ge­sichter, die man allzu lange wahrgenommen und verinnerlicht hatte. Davon kamen auch diejenigen, die auf halbem Wege der Erfolgsgeschichte der Johannes-Uni­versität lächelnd unterlegen waren und resigniert hatten. In Holstein blätterte Frau Hilpert beim nachmittäglichen Tee in alten Photoalben, von denen ein halbes Erin­nerungen an Gütersloh enthielt. Ihr Neffe versuchte, sie dazu zu überreden, diesen Schatz zu bewahren, sie aber nahm eine Schere, zerschnitt in den Abendstunden Photos, Briefe, Exposés und Memoranda – aus achtungsvollem Respekt auch die ihrer Mutter, anders als Nigel Nicolson –, weil sie der Überzeugung war, Ge­schichtslosigkeit sei die beste Medizin, anders als Karl, der Gleichgültigkeit als einziges Heilmittel ansah. Beiden gemeinsam war der fehlende Drang, einen Be­weis ihrer Existenz zu hinterlassen. Und so blieben von Valerie Hilpert und ihrer Mutter für eine kurze Zeit nur Gerüchte und vague Erinnerungen, während Karl vergessen weiterlebte, allein vor sich hinmurmelnd oder fast zahnlos kichernd. Frau Kim Sebestyn zog sich nach Skt. Thomas zurück und übernahm die Rolle von Frau Iversen als Plantagenbesitzerin, heiratete wie diese ihren Verwalter und überlebte alle anderen.
Das Spiel begann von Neuem, erneut mit Diskussionen, ob die Opfer bei 500° an einem Hitzeschock gestorben oder bei etwa 300° verbrannt waren, mit der fehlen­den Heiterkeit und ohne willige Zeugen der Vergangenheit. Und die Verjüngung der Gütersloher Bausubstanz war damit möglich geworden. Es gab keinen Kurt Gerstein, der Zeugnis ablegte, es gab keine Diagnose, dass die Hauptdarsteller sich wegen abgebrochener psychiatrischer Behandlungen bis zum Ende unter posthyp­notischem Einfluß befunden hätten, dass es einen dégénéré supérieur gegeben ha­be. Dem Ereignis wurde mit seiner anthropologischen Dimension die Zeugen­schaft für das Ewig-Menschliche übertragen in der immer wiederkehrenden Er­wartung, Erfahrung sei nichts anderes als die Anwendung der Lehren der Vergan­genheit.
Die Überreste wurden in einem sentimentalischen Museum um den Epitaph einer Söldnerarmee versammelt, das dem seit einigen Jahrzehnten üblichen Usus ent­sprechend nach Abbau und Verdrängung aller in der Endzeit errichteten Sperrzo­nen in Gütersloh errichtet wurde. Und da das Ereignis nicht als Apokalypse erfah­ren wurde, brauchten die Überlebenden nicht unbedingt Chinesisch können. Einige waren allerdings darunter, da sie an der Partnerschaft zwischen der Schule am Hada-Tor in Beijing und dem Stiftischen Gymnasium teilgenommen hatten und mit den vergifteten Tauben die Marietta-Bar in die Schule geholt hatten.
Es gab allerdings auch noch die Bürgermeisterin von Gütersloh, und diese dichtete in Anlehnung an ältere westfälische Hausinschriften global auf Hochdeutsch: „O Leute, wie ist’s Euch durch‘s Feuer ergangen, nachdem des Vaters Zorn war wider Euch entbrannt, Euer Tempel war zerstört, viele unserer Schwestern und Brüder zogen betrübt in ein anderes Land.“ Und sie überhöhte ein schlechtes Theaterstück, als sie bemerkte, Gütersloh sei wieder nur ein Punkt in der Welt, während die Universität ihre Rolle als Lehrerin aufgab. Doch nach nur wenigen Jahren wechselte ebendiese Rolle und Kostüm und wurde, was alle Welt wird, Theater. Auf die glanzvolle Periode der Entprovinzialisierung folgte jedoch zunächst die handfeste Reprovinzialisierung.

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