Dienstag, 11. September 2012

Lesender Weise 21



Die ersten Prüfungen

Wie an allen deutschen Universitäten war man an der Johannes-Universität grund­sätzlich der Ansicht, Habilitationen gebe es nicht mehr, doch riet man jedem, den man ins Herz geschlossen und zu den Aussichten einer möglichen wissenschaft­lichen Laufbahn hatte überreden können, diese dennoch anzustreben. Denn bei je­der Bewerbung verbissen sich alle Verantwortlichen, selbst die in ihren eigenen Augen so progressive Inez Jentner in die vorhandenen oder nicht vorhandenen habilitationsgleichen Leistungen, und so fiel der Aufstieg so mancher vielver­sprechenden Persönlichkeit, die die interdisziplinären nuclei der Universität hätten ausfüllen können, der Äquivalenzabwägung zum Opfer, wenn sie nicht von min­destens einer der einflußreichen Gestalten gefördert wurde.
So wollte es Ingrid Wiener, eine wenig geschätzte Dame aus Karls akademischem Umfeld mit einer Arbeit über den Sinn probabilitätstheoretischer Methoden für die gesetzmäßige Fixierung dialektaler Variablen im temporalen und lokalen Kontinu­um der altaischen Sprachfamilie versuchen. In unglücklicher Konstellation kam eine Kommission zustande, in der neben Karl, der den Antrag vertrat, van Gronin­gen, Labé, Schneider und natürlich Inez Jentner saßen. Es zeigte sich das Problem, im Rahmen einer interdisziplinären Universität mit zahlreichen ausschließlich in­novativen nuclei eine Kommission auch nur annähernd kompetent zu besetzen, vor allem, da alle kompetent waren und niemand mehr als die Jentner, die aus ihrer verkümmerten Seele heraus ihre myopischen Vorstellungen der Interdisziplinarität vermischt mit rigiden Wissenschaftsansätzen artikulierte und nicht die so unge­mein anregende chaostheoretische, performativmethodische Ausgangsposition der Wiener anerkennen wollte. Doch war kein einziges der Kommissionsmitglieder, da zum ersten Mal in Deutschland nicht eine Fakultät, sondern eine ganze Universität über eine Habilitation entscheiden sollte und auch wollte, wirklich in der Lage, die Datenbasis Ingrid Wieners und die Tauglichkeit des methodischen Vorgehens zu beurteilen, und so mußte man sich, ohne dies zugeben zu müssen, auf die auswär­tige Begutachtung verlassen.
Schließlich zeigte sich, dass die Wissenschaft auch außerhalb Güterslohs einem solchen Innovationsschub nicht wirklich gewachsen war. So gab es das Gutachten eines renommierten auswärtigen Kollegen zu Sinn probabilitätstheoretischer Me­thoden für die gesetzmäßige Fixierung dialektaler Variablen im temporalen und lokalen Kontinuum der altaischen Sprachfamilie: „Um mit der Form zu beginnen: Die Kandidatin weiß oft nicht, wie man eine Anmerkung schreibt, es finden sich viele unkorrigierte Tippfehler, die in der Regel sprachlich gute Form verliert sich gegen Schluß. Das Schlußwort ist oft vollkommen unverständlich. Vom Schluß­wort her gesehen, habe ich die Befürchtung, dass eine genaue Überprüfung selbst der sprachlich gelungenen Teile doch zu einer großen Ernüchterung führen könnte. Ich habe mir diese Enttäuschung erspart. Um weiter bei der Form zu bleiben, ich hatte um eine Publikationsliste ersucht, diese habe ich bekommen. Unter dem Stichwort „Monographien“ finde ich eine Diplomarbeit. Die Quelle scheint eher auf eine sprachwissenschaftliche Zeitschrift denn auf einen Verlag zu verweisen. Die publizierten Aufsätze – darunter auch ein Zeitungsartikel aus der taz – sind grundsätzlich ohne Seitenangabe aufgeführt. Warum sage ich dies? An meiner Universität ist eine Eröffnung des Habilitationsvorhabens nur möglich, wenn über die Dissertation und die Habilitationsschrift hinaus auch in Buchform weitere grö­ßere Arbeiten vorgelegt worden sind. Dies scheint mir hier nicht der Fall zu sein. Nun hat selbstverständlich Gütersloh einen anderen Usus als meine Universität, so will ich denn die Eröffnung des Habilitationsvorhabens als Fakt hinnehmen.
Die vorgelegte Arbeit beschränkt die Untersuchung zur Erforschung der dialekta­len Variablen auf das 20. Jahrhundert in der Russischen Republik Altay. Warum nur dort und dann, wird nicht begründet (S. 9). Eine Begründung wäre deswegen notwendig gewesen, weil selbstverständlich seit der Oktoberrevolution bis 1985 im strengen Sinne eine wissenschaftliche Forschung, ganz gleich auf welchem Gebiet, einfach nicht möglich war.
Um es von vorneherein zu bekennen: Die Arbeit macht auf mich eher den Ein­druck einer Dissertation als einer Habilitationsschrift. Dies hat vor allem mit ihrem stark berichtenden Charakter zu tun. Sieht man einmal von der Einleitung und dem Schlußwort ab, die beide nicht zu überzeugen vermögen – zu kurz, zu repetitiv – , so bietet der Hauptteil zumindest eine ergiebige Fleißarbeit. Hier wird in drei Teilen versucht, dem Thema auf den Grund zu gehen. Der kürzeste Teil ist der erste, der auf 45 Seiten die sprachwissenschaftlichen Axiome beschreibt, um sich dann im zweiten und dritten Teil dem eigentlichen Thema zuzuwenden, nämlich dem durch Laboff behaupteten dialektalen Kontinuum und der Gegenposition durch den vergleichsweise unwichtigen Vertreter der Sowjetzeit, Marr. Auch wenn letzterer der Unwichtigere ist, so ist ihm doch am meisten Raum gewidmet. In al­len drei Teilen wird eher berichtet als gewertet. Es fällt allerdings auf, dass Ansich­ten westlicher Altaiisten oft sehr naseweis von der Kandidatin zurückgewiesen werden, so dass man manchmal den Eindruck bekommt, sie ist die Einzige, die weiß, was altaiische Sprachwissenschaft ist.
Das eigentliche Thema der Arbeit wäre die Rekonstruktion einer Ausgangssprache in vor-orchonischer Zeit gewesen. Wenn man aber wie Laboff der Auffassung ist, dies sei unmöglich, wenn man wie Marr die Historizität überhaupt leugnet, so weist doch die Forschung der letzten zwanzig Jahre nach, dass der eigentliche Ur­sprung der altaischen Sprachen in der Religion in seiner schamanistischen Aus­formung zu suchen ist. Möglicherweise ist die Kandidatin atheistisch erzogen worden und hat deswegen keine besondere Fragestellung in religiöser Hinsicht entwickeln können. Sie kommt durchaus auf die Rolle des Schamanismus zu spre­chen, erkennt aber die Konsequenzen nicht. Statt zum eigentlichen Thema vorzu­stoßen, berichtet die Kandidatin ausführlich und uninspiriert, was Laboff und Marr zum dialektalen Sprachkontinuum zu sagen haben. Dabei geht es oftmals um tech­nische Aspekte, dabei werden oftmals Fachbegriffe vorausgesetzt, die nicht erläu­tert werden, oder wenn diese denn ins Deutsche übersetzt werden, so werden sie oftmals in ihrer Ungenauigkeit tunlichst beibehalten.
Nun will es der Zufall, dass ich in letzter Zeit verschiedene Habilitationsschriften zu beurteilen hatte, und im Vergleich muß ich sagen, dass die hier eingereichte nicht unbedingt sehr viel schlechter als diejenigen ist, die dann doch angenommen worden sind. Positiv ließe sich hier hervorheben, dass eine ungeheure Fülle von Material aufgearbeitet und verarbeitet worden ist.
Wenn denn die Kommission der Auffassung ist, dass die philologisch exakte Erar­beitung eines reichen Quellenmaterials, ohne dabei eine besondere eigene Theorie zu entwickeln, für die Annahme einer Habilitationsschrift in Gütersloh ausrei­chend ist, dann möchte ich mich im Sinne der Kommission für eine solche Annah­me aussprechen.“
Angesichts der fehlenden Gütersloher Kompetenz wäre ein einfacheres, spektaku­läreres Habilitationsverfahren als erster Einstieg in die Nachwuchsförderung bes­ser gewesen, bessere auswärtige Gutachter wären notwendig gewesen, die die Kommission nicht so ratlos zurückgelassen hätten, wie sie eh schon war. Es war überdies eine letzte große Gelegenheit für Inez Jentner, ihr Wissenschaftsverständ­nis zu artikulieren und so Karl und den anderen zu zeigen, wie töricht sie waren. Sie konnte auf Bemerkungen in den auswärtigen Guachten verweisen, die zeigten, dass fehlendes Theoriebewußtsein, weil nicht explizit in einem eigenen Kapitel for­muliert, angenommen werden mußte und dass damit die Autorin den modernen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genüge. Da sie aber eine Frau war, wollte Inez Jentner nicht als ihre Henkerin auftreten und forderte die Rückgabe der Arbeit mit Auflagen.
Mit der Mehrheit der Stimmberechtigten wurde sie dann aber doch angenommen, und Ingrid Wiener wurde zum Habilitationsvortrag zur Morphologie der Numeral­klassifikatoren in den asiato-amerikanischen Sprachfamilien zugelassen. Es war einer dieser durchschnittlichen, streßbeeinflußten Vorträge unter einem meist nur imaginierten, aber deswegen keineswegs weniger furchterregenden Henkerbeil, eher ein abgelesener künftiger Zeitschriftenbeitrag, als ein gegliederter, mit Span­nungsbögen versehener rhetorischer Wurf.
Einmal mehr versuchte Inez Jentner, das Verfahren zu problematisieren, diesmal unmittelbar unter Beteiligung der Kandidatin, die von ihr nach ihrem Fachver­ständnis gefragt wurde und Frau Wiener ins Stottern bachte. Dies alles geschah vor der gesamten Universität, weil die Gemeinschaft der Wissenden gemeinsam disku­tieren und entscheiden sollte. Die Sitten, die in den letzten Jahrzehnten eingerissen waren, jedes Fach sich selbst zu überlassen, waren in Gütersloh bewußt aufgege­ben worden. In Gütersloh diskutierten der Ökonom, die Kunsthistorikerin, der Marginalist, Frau Grebenstein als Vertreterin der Global Governance und Sluggan als Schöpfer der political correctness gemeinsam und kompetent über die Pro­bleme der altaischen Sprachfamilie, über japanische Rituale und astronomische Rätsel.
Oft verkümmerte der Akt zur bloßen Routine. Bei der Habilitation des Herrn K. saß van Groningen Frau B. schräg gegenüber. Während des ganzen Vortrags zeigte sie das einzige freundliche Gesicht. Herr K. selbst war zu nervös, der alte Herr St. schnarchte, Herr M. schien auch nach 65 Jahren noch sauer geboren zu sein, viele junge Gesichter waren lediglich unzufrieden oder gelangweilt. In dieser Runde gab es nur den nach Innen lächelnden Mund der Frau B., bereit zu so vielem, so dass van Groningen nicht wußte, ob er nicht lieber den zwischen Tischplatte und –beinen sichtbaren Unterleib anschauen sollte und weg vom Vortrag an die dortigen Möglichkeiten denken. Daher reagierte er auch nicht auf die tiefsinnigen Bemer­kungen Schneiders, der neben ihm saß.
Als sie später im Café sich Herrn R. und van Groningen anschloß, hatte dieser den Eindruck, sie sei similarly inclined, auch wenn sie nur die Arbeit von Herrn K. ganz unpassend herzte. Van Groningen ging nach Hause und herzte in seiner Phan­tasie Frau B., breitete sie auf dem Flügel aus, dann im Bett und untersuchte kon­zentriert ihr Innenleben von unten nach oben. Das bedeutete einmal mehr doch nur, dass er ihr seinen heimlich von ihm selbst bewunderten Steifen in ihre bereits feuchte Möse stecken wollte, um diese noch gründlicher überlaufen zu lassen, spü­ren wollte, wenn ihre nackten Fersen auf seinen Rücken trommelten, ihren Busch bewundern, wenn sie ihn ritt, sie von hinten aufspießen und den Mond anjaulen. Van Groningen schreckte auf und wunderte sich über seine sonst nie gehegten Träume, die ihn im unfreiwilligen Schlaf übermannt hatten
Soweit waren die akademischen Akte verkümmert, der Rest des Lebens fiktionali­siert.Es war eine Versammlung von vier älteren Herren, hinzu kamen die Assistentin, die die ehrenvolle Aufgabe übernahm, das Protokoll zu schreiben, und der auch nicht mehr ganz junge Kandidat, der die Breitwand der Tafel nutzte, um wie ein Einstein der Sprachwissenschaft seine Ketten, Pyramiden und andere Sprachgestalten zu entwickeln, angespornt von den kritisch bewundernden Blicken der Herren, nur kurz unterbrochen von Hinweisen der Assistentin, dass er ein N2 mit einem V2 verwechselt habe. Drei Männer betrachteten offen ihre Sprach­wissenschaft wie einst Susanna im Bade beobachtet worden war. Sie gerieten in einen Theorienstreit um integrative, generative, genetische und sonstige Linguistik und spiehen schließlich ihre spekulative Sprachphilosophie aus, beharkten einan­der, waren schließlich glücklich und nicht mehr nörgelig, da ihnen der Kandidat Gelegenheit zur Selbstentblößung gegeben hatte, lobten einander für ihre Frei­mütigkeit, lobten einander, dass sie dem Kandidaten nichts geschenkt hatten und einigten sich auf summa cum laude. Sie nutzten die Gelegenheit, sich gegenseitig die Exzellenz zu bestätigen, teilweise mit leiser Stimme, um die Aufmerksamkeit der Kumpanei zu gewinnen. Sie eliminierten alles, was ihnen nicht behagte und waren so mit sich zufrieden, führten das Dänische an, um chinesische Numeralklassifikatoren zu plausibilisieren. Es war ein Beispiel für die ewige Suche nach der Logik und Metaphysik der Sprache und ein Abrutschen in die Phoronymologie und in pseudopartitive Konstruktionen.Es war keineswegs immer so bei folgenden Promotionen mit ihren Disputationen. Gelegentlich gab es Gutachterbeschimpfungen fast mit ihren Prüfern gleichaltriger Kandidaten, ge­legentlich waren es aber entspannte Runden, in denen jeder zu seinem Recht kam, in denen z.B. Professor Guby bereit war, über Schwächen der Kandidaten hinweg­zusehen, ihre Stärken zu erkennen und dementsprechend zu würdigen wie im Falle eines Kandidaten und seiner untauglichen Dissertation von fast vierhundert Seiten über die Möglichkeit einer interkulturellen Hermeneutik.
Auch andere Promotionen wurden erfolgreich zu Ende geführt und dies sogar ohne die annoncierten Angebote, behilflich zu sein. Ein aufstrebender und bereits er­folgreicher junger Journalist wollte und durfte mit seinen langjährigen Erfahrun­gen im Iran promoviert werden, da seine Kontakte zur überregionalen Presse allzu verführerisch waren. Er hatte mit iranischen Ayatollahs, dem russischen Außenmi­nister, dem chinesischen Ölminister und der widerstrebenden amerikanischen Bü­rokratie gesprochen, pflegte diese Kontakte, konnte sie als definitive Aussagen zu den Problemen anderer zitieren und konnte der Universität den Einstieg in Bera­tungs- und später Vermittlungsgeschäfte ebnen.
In einem Punkte jedoch glichen alle Promotionen einander und unterschieden sich nur geringfügig von den Habilitationen und anderen kleineren Universitätsexamina. Immer war die ganze Universität beteiligt. Als die Ehre, dabeisein zu dürfen all­mählich ermüdete, schickte Frau Grebenstein Rundbriefe, in denen die Beteiligung aller eingefordert, in einer Spätphase sogar erzwungen wurde. Es gab Kleiderord­nungen und Reden in hierarchisierter Weise, Preise, Belobigungen und eine seltene Enttäuschung

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