Die ersten Prüfungen
Wie an allen deutschen Universitäten war man an der
Johannes-Universität grundsätzlich der Ansicht, Habilitationen gebe es nicht
mehr, doch riet man jedem, den man ins Herz geschlossen und zu den Aussichten
einer möglichen wissenschaftlichen Laufbahn hatte überreden können, diese
dennoch anzustreben. Denn bei jeder Bewerbung verbissen sich alle
Verantwortlichen, selbst die in ihren eigenen Augen so progressive Inez Jentner
in die vorhandenen oder nicht vorhandenen habilitationsgleichen Leistungen, und
so fiel der Aufstieg so mancher vielversprechenden Persönlichkeit, die die
interdisziplinären nuclei der Universität hätten ausfüllen können, der
Äquivalenzabwägung zum Opfer, wenn sie nicht von mindestens einer der
einflußreichen Gestalten gefördert wurde.
So wollte es Ingrid Wiener, eine wenig geschätzte Dame aus
Karls akademischem Umfeld mit einer Arbeit über den Sinn probabilitätstheoretischer Methoden für die gesetzmäßige Fixierung
dialektaler Variablen im temporalen und lokalen Kontinuum der altaischen
Sprachfamilie versuchen. In unglücklicher Konstellation kam eine Kommission
zustande, in der neben Karl, der den Antrag vertrat, van Groningen, Labé,
Schneider und natürlich Inez Jentner saßen. Es zeigte sich das Problem, im
Rahmen einer interdisziplinären Universität mit zahlreichen ausschließlich innovativen
nuclei eine Kommission auch nur annähernd kompetent zu besetzen, vor allem, da
alle kompetent waren und niemand mehr als die Jentner, die aus ihrer
verkümmerten Seele heraus ihre myopischen Vorstellungen der
Interdisziplinarität vermischt mit rigiden Wissenschaftsansätzen artikulierte
und nicht die so ungemein anregende chaostheoretische, performativmethodische
Ausgangsposition der Wiener anerkennen wollte. Doch war kein einziges der
Kommissionsmitglieder, da zum ersten Mal in Deutschland nicht eine Fakultät,
sondern eine ganze Universität über eine Habilitation entscheiden sollte und
auch wollte, wirklich in der Lage, die Datenbasis Ingrid Wieners und die
Tauglichkeit des methodischen Vorgehens zu beurteilen, und so mußte man sich,
ohne dies zugeben zu müssen, auf die auswärtige Begutachtung verlassen.
Schließlich zeigte sich, dass die
Wissenschaft auch außerhalb Güterslohs einem solchen Innovationsschub nicht
wirklich gewachsen war. So gab es das Gutachten eines renommierten auswärtigen
Kollegen zu Sinn
probabilitätstheoretischer Methoden für die gesetzmäßige Fixierung dialektaler
Variablen im temporalen und lokalen Kontinuum der altaischen Sprachfamilie:
„Um mit der Form zu beginnen: Die Kandidatin weiß oft nicht, wie man eine
Anmerkung schreibt, es finden sich viele unkorrigierte Tippfehler, die in der
Regel sprachlich gute Form verliert sich gegen Schluß. Das Schlußwort ist oft
vollkommen unverständlich. Vom Schlußwort her gesehen, habe ich die
Befürchtung, dass eine genaue Überprüfung selbst der sprachlich gelungenen
Teile doch zu einer großen Ernüchterung führen könnte. Ich habe mir diese
Enttäuschung erspart. Um weiter bei der Form zu bleiben, ich hatte um eine
Publikationsliste ersucht, diese habe ich bekommen. Unter dem Stichwort
„Monographien“ finde ich eine Diplomarbeit. Die Quelle scheint eher auf eine
sprachwissenschaftliche Zeitschrift denn auf einen Verlag zu verweisen. Die
publizierten Aufsätze – darunter auch ein Zeitungsartikel aus der taz – sind grundsätzlich ohne
Seitenangabe aufgeführt. Warum sage ich dies? An meiner Universität ist eine
Eröffnung des Habilitationsvorhabens nur möglich, wenn über die Dissertation
und die Habilitationsschrift hinaus auch in Buchform weitere größere Arbeiten
vorgelegt worden sind. Dies scheint mir hier nicht der Fall zu sein. Nun hat
selbstverständlich Gütersloh einen anderen Usus als meine Universität, so will
ich denn die Eröffnung des Habilitationsvorhabens als Fakt hinnehmen.
Die vorgelegte Arbeit beschränkt die
Untersuchung zur Erforschung der dialektalen Variablen auf das 20. Jahrhundert
in der Russischen Republik Altay. Warum nur dort und dann, wird nicht begründet
(S. 9). Eine Begründung wäre deswegen notwendig gewesen, weil
selbstverständlich seit der Oktoberrevolution bis 1985 im strengen Sinne eine
wissenschaftliche Forschung, ganz gleich auf welchem Gebiet, einfach nicht
möglich war.
Um es von vorneherein zu bekennen:
Die Arbeit macht auf mich eher den Eindruck einer Dissertation als einer
Habilitationsschrift. Dies hat vor allem mit ihrem stark berichtenden Charakter
zu tun. Sieht man einmal von der Einleitung und dem Schlußwort ab, die beide
nicht zu überzeugen vermögen – zu kurz, zu repetitiv – , so bietet der
Hauptteil zumindest eine ergiebige Fleißarbeit. Hier wird in drei Teilen
versucht, dem Thema auf den Grund zu gehen. Der kürzeste Teil ist der erste,
der auf 45 Seiten die sprachwissenschaftlichen Axiome beschreibt, um sich dann
im zweiten und dritten Teil dem eigentlichen Thema zuzuwenden, nämlich dem
durch Laboff behaupteten dialektalen Kontinuum und der Gegenposition durch den
vergleichsweise unwichtigen Vertreter der Sowjetzeit, Marr. Auch wenn letzterer
der Unwichtigere ist, so ist ihm doch am meisten Raum gewidmet. In allen drei
Teilen wird eher berichtet als gewertet. Es fällt allerdings auf, dass Ansichten
westlicher Altaiisten oft sehr naseweis von der Kandidatin zurückgewiesen
werden, so dass man manchmal den Eindruck bekommt, sie ist die Einzige, die
weiß, was altaiische Sprachwissenschaft ist.
Das eigentliche Thema der Arbeit
wäre die Rekonstruktion einer Ausgangssprache in vor-orchonischer Zeit gewesen.
Wenn man aber wie Laboff der Auffassung ist, dies sei unmöglich, wenn man wie
Marr die Historizität überhaupt leugnet, so weist doch die Forschung der
letzten zwanzig Jahre nach, dass der eigentliche Ursprung der altaischen
Sprachen in der Religion in seiner schamanistischen Ausformung zu suchen ist.
Möglicherweise ist die Kandidatin atheistisch erzogen worden und hat deswegen
keine besondere Fragestellung in religiöser Hinsicht entwickeln können. Sie
kommt durchaus auf die Rolle des Schamanismus zu sprechen, erkennt aber die
Konsequenzen nicht. Statt zum eigentlichen Thema vorzustoßen, berichtet die
Kandidatin ausführlich und uninspiriert, was Laboff und Marr zum dialektalen
Sprachkontinuum zu sagen haben. Dabei geht es oftmals um technische Aspekte,
dabei werden oftmals Fachbegriffe vorausgesetzt, die nicht erläutert werden,
oder wenn diese denn ins Deutsche übersetzt werden, so werden sie oftmals in
ihrer Ungenauigkeit tunlichst beibehalten.
Nun will es der Zufall, dass ich in
letzter Zeit verschiedene Habilitationsschriften zu beurteilen hatte, und im
Vergleich muß ich sagen, dass die hier eingereichte nicht unbedingt sehr viel
schlechter als diejenigen ist, die dann doch angenommen worden sind. Positiv
ließe sich hier hervorheben, dass eine ungeheure Fülle von Material aufgearbeitet
und verarbeitet worden ist.
Wenn denn die Kommission der
Auffassung ist, dass die philologisch exakte Erarbeitung eines reichen
Quellenmaterials, ohne dabei eine besondere eigene Theorie zu entwickeln, für
die Annahme einer Habilitationsschrift in Gütersloh ausreichend ist, dann
möchte ich mich im Sinne der Kommission für eine solche Annahme aussprechen.“
Angesichts der fehlenden Gütersloher
Kompetenz wäre ein einfacheres, spektakuläreres Habilitationsverfahren als
erster Einstieg in die Nachwuchsförderung besser gewesen, bessere auswärtige
Gutachter wären notwendig gewesen, die die Kommission nicht so ratlos
zurückgelassen hätten, wie sie eh schon war. Es war überdies eine letzte große
Gelegenheit für Inez Jentner, ihr Wissenschaftsverständnis zu artikulieren und
so Karl und den anderen zu zeigen, wie töricht sie waren. Sie konnte auf
Bemerkungen in den auswärtigen Guachten verweisen, die zeigten, dass fehlendes
Theoriebewußtsein, weil nicht explizit in einem eigenen Kapitel formuliert,
angenommen werden mußte und dass damit die Autorin den modernen wissenschaftlichen
Ansprüchen nicht genüge. Da sie aber eine Frau war, wollte Inez Jentner nicht
als ihre Henkerin auftreten und forderte die Rückgabe der Arbeit mit Auflagen.
Mit der Mehrheit der
Stimmberechtigten wurde sie dann aber doch angenommen, und Ingrid Wiener wurde
zum Habilitationsvortrag zur Morphologie der Numeralklassifikatoren in den asiato-amerikanischen
Sprachfamilien zugelassen. Es war einer dieser durchschnittlichen,
streßbeeinflußten Vorträge unter einem meist nur imaginierten, aber deswegen
keineswegs weniger furchterregenden Henkerbeil, eher ein abgelesener künftiger
Zeitschriftenbeitrag, als ein gegliederter, mit Spannungsbögen versehener
rhetorischer Wurf.
Einmal mehr versuchte Inez Jentner,
das Verfahren zu problematisieren, diesmal unmittelbar unter Beteiligung der
Kandidatin, die von ihr nach ihrem Fachverständnis gefragt wurde und Frau
Wiener ins Stottern bachte. Dies alles geschah vor der gesamten Universität,
weil die Gemeinschaft der Wissenden gemeinsam diskutieren und entscheiden
sollte. Die Sitten, die in den letzten Jahrzehnten eingerissen waren, jedes
Fach sich selbst zu überlassen, waren in Gütersloh bewußt aufgegeben worden.
In Gütersloh diskutierten der Ökonom, die Kunsthistorikerin, der Marginalist,
Frau Grebenstein als Vertreterin der Global Governance und Sluggan als Schöpfer
der political correctness gemeinsam und kompetent über die Probleme der
altaischen Sprachfamilie, über japanische Rituale und astronomische Rätsel.
Oft
verkümmerte der Akt zur bloßen Routine. Bei der Habilitation des Herrn K. saß van
Groningen Frau B. schräg gegenüber. Während des ganzen Vortrags zeigte sie das
einzige freundliche Gesicht. Herr K. selbst war zu nervös, der alte Herr St.
schnarchte, Herr M. schien auch nach 65 Jahren noch sauer geboren zu sein,
viele junge Gesichter waren lediglich unzufrieden oder gelangweilt. In dieser
Runde gab es nur den nach Innen lächelnden Mund der Frau B., bereit zu so
vielem, so dass van Groningen nicht wußte, ob er nicht lieber den zwischen
Tischplatte und –beinen sichtbaren Unterleib anschauen sollte und weg vom
Vortrag an die dortigen Möglichkeiten denken. Daher reagierte er auch nicht auf
die tiefsinnigen Bemerkungen Schneiders, der neben ihm saß.
Als
sie später im Café sich Herrn R. und van Groningen anschloß, hatte dieser den
Eindruck, sie sei similarly inclined, auch wenn sie nur die Arbeit von Herrn K.
ganz unpassend herzte. Van Groningen ging nach Hause und herzte in seiner Phantasie
Frau B., breitete sie auf dem Flügel aus, dann im Bett und untersuchte konzentriert
ihr Innenleben von unten nach oben. Das bedeutete einmal mehr doch nur, dass er
ihr seinen heimlich von ihm selbst bewunderten Steifen in ihre bereits feuchte
Möse stecken wollte, um diese noch gründlicher überlaufen zu lassen, spüren
wollte, wenn ihre nackten Fersen auf seinen Rücken trommelten, ihren Busch
bewundern, wenn sie ihn ritt, sie von hinten aufspießen und den Mond anjaulen.
Van Groningen schreckte auf und wunderte sich über seine sonst nie gehegten
Träume, die ihn im unfreiwilligen Schlaf übermannt hatten
Soweit waren die
akademischen Akte verkümmert, der Rest des Lebens fiktionalisiert.Es
war eine Versammlung von vier älteren Herren, hinzu kamen die Assistentin, die
die ehrenvolle Aufgabe übernahm, das Protokoll zu schreiben, und der auch nicht
mehr ganz junge Kandidat, der die Breitwand der Tafel nutzte, um wie ein
Einstein der Sprachwissenschaft seine Ketten, Pyramiden und andere Sprachgestalten
zu entwickeln, angespornt von den kritisch bewundernden Blicken der Herren, nur
kurz unterbrochen von Hinweisen der Assistentin, dass er ein N2 mit
einem V2 verwechselt habe. Drei Männer betrachteten offen ihre
Sprachwissenschaft wie einst Susanna im Bade beobachtet worden war. Sie
gerieten in einen Theorienstreit um integrative, generative, genetische und
sonstige Linguistik und spiehen schließlich ihre spekulative Sprachphilosophie
aus, beharkten einander, waren schließlich glücklich und nicht mehr nörgelig,
da ihnen der Kandidat Gelegenheit zur Selbstentblößung gegeben hatte, lobten
einander für ihre Freimütigkeit, lobten einander, dass sie dem Kandidaten
nichts geschenkt hatten und einigten sich auf summa cum laude. Sie nutzten die Gelegenheit, sich gegenseitig die
Exzellenz zu bestätigen, teilweise mit leiser Stimme, um die Aufmerksamkeit der
Kumpanei zu gewinnen. Sie eliminierten alles, was ihnen nicht behagte und waren
so mit sich zufrieden, führten das Dänische an, um chinesische
Numeralklassifikatoren zu plausibilisieren. Es war ein Beispiel für die ewige
Suche nach der Logik und Metaphysik der Sprache und ein Abrutschen in die
Phoronymologie und in pseudopartitive Konstruktionen.Es war keineswegs immer so
bei folgenden Promotionen mit ihren Disputationen. Gelegentlich gab es
Gutachterbeschimpfungen fast mit ihren Prüfern gleichaltriger Kandidaten, gelegentlich
waren es aber entspannte Runden, in denen jeder zu seinem Recht kam, in denen
z.B. Professor Guby bereit war, über Schwächen der Kandidaten hinwegzusehen,
ihre Stärken zu erkennen und dementsprechend zu würdigen wie im Falle eines
Kandidaten und seiner untauglichen Dissertation von fast vierhundert Seiten
über die Möglichkeit einer interkulturellen Hermeneutik.
Auch andere Promotionen wurden
erfolgreich zu Ende geführt und dies sogar ohne die annoncierten Angebote,
behilflich zu sein. Ein aufstrebender und bereits erfolgreicher junger
Journalist wollte und durfte mit seinen langjährigen Erfahrungen im Iran
promoviert werden, da seine Kontakte zur überregionalen Presse allzu
verführerisch waren. Er hatte mit iranischen Ayatollahs, dem russischen Außenminister,
dem chinesischen Ölminister und der widerstrebenden amerikanischen Bürokratie
gesprochen, pflegte diese Kontakte, konnte sie als definitive Aussagen zu den
Problemen anderer zitieren und konnte der Universität den Einstieg in Beratungs-
und später Vermittlungsgeschäfte ebnen.
In einem Punkte jedoch glichen alle
Promotionen einander und unterschieden sich nur geringfügig von den
Habilitationen und anderen kleineren Universitätsexamina. Immer war die ganze
Universität beteiligt. Als die Ehre, dabeisein zu dürfen allmählich ermüdete,
schickte Frau Grebenstein Rundbriefe, in denen die Beteiligung aller
eingefordert, in einer Spätphase sogar erzwungen wurde. Es gab Kleiderordnungen
und Reden in hierarchisierter Weise, Preise, Belobigungen und eine seltene
Enttäuschung
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