Dienstag, 28. September 2010

Lesender Weise 3

Erinnerungen I

In zwei Tagen soll er David in dessen Wohnung in Wien treffen. Nicht nur die europäische Mutter war für diese Reise verantwortlich. David hatte seinen Teil dazu beigetragen.
David, der auf Vollkommenheit wert legte, hatte oft überlegt, ob er seinen biblischen Namen ablegen sollte, den seine Eltern ihm ungefragt zugewiesen hatten – welche Schmach, nur wegen des Tunnelblicks seines Gegners gesiegt zu haben. Doch aus Angst vor ihm unbekannten Assoziationen, hatte er ihn nie geändert.
David ähnelte sehr Arcimboldis Rudolph II., und betrachtete man ihn in seiner ganzen Gestalt, so fand man scheinbar Unvereinbares wunderbar vereint. Man sah es ihm an, daß er sich durch dauernde Kultivierung in Narziss verwandelt hatte. Er war der einzige Mensch, dessen Zehen sich Karl elegant neben silbernem Besteck vorstellen konnte. Sie waren lang und gepflegt wie die Finger von Karls väterlicher Großmutter, die die Form ihrer Nägel durch einen weißen Stift hervorzuheben pflegte, ganz anders als die Bäuerinnen auf Fyn, die in fingerlosen Handschuhen ihre Trauerränder zeigen mussten. Alles war in leicht grotesker Weise perfekt an David, allein für Düfte fehlte ihm das Augenmaß.
Er lebte im 4. Bezirk in einer kleinen Atelierwohnung, von derem Fenster man in Richtung des Belvedere blickte, ohne diesen sehen zu können. Er lebte von einem halben Ölberg, der ihm oberhalb von Patras vom elterlichen Erbe aus venezianischer Kollaboration zugefallen war. Gut Mitte dreißig, war er damals fast doppelt so alt wie Karl. Er war vor einigen Monaten nach Köln gekommen, da er auf halber Strecke die summa Europas zur Jahrhundertmitte zusammentragen wollte, wie ein Maler einen Apfel von seinem Kern bis zur Fäulnis in einem Gehäuse auf einer Leinwand, wie Jean Magnon, der in 200.000 Versen alle Bibliotheken überflüssig zu machen suchte. Köln war in diesem Falle nur Stockhausen, auf den er in einer kleinen Wohnung über einer Karnevalskneipe am Barbarossaplatz vergeblich wartete. Stockhausen war auf seiner Suche seinerseits in – Fragezeichen – Japan, Hentze war noch nicht Papst, sondern nur Teil der eiskalten intellektuellen Emotionalität, und da kein anderes Teil von Köln Anteil am 20. Jahrhundert hatte – E. W. Ney war in die Dekoration abgeglitten, und Böll hatte die Provinz noch nicht und nie verlassen – widmete sich David mit Distanz und kritischem Sinn dem verbleibenden Volksleben und dem damit verbundenen karnevalistischen Phänomen, über Konserven des eigenen Lachens noch einmal zu lachen.
Die Bekanntschaft ergab sich, wie in Karls Familie üblich, nicht durch spontane Kontaktaufnahme. Dazu war nur Karls Mutter auf fremdem Terrain in der Lage, die schluchzend einen Zug bestieg und sofort mit den fremden Menschen im Abteil sprach. Es war Nora, eine gemeinsame Bekannte aus väterlichen Kindheitstagen, die noch mit mit Zuckerwasser gestärkten Zöpfen auf dem Kutschbock zur Brautschau durch Böhmen gefahren worden war und geglaubt hatte, ein Kuss sei ein Heiratsversprechen, so wie die schwangere Lehrerin am Niederrhein entsetzt bekannt hatte, sie habe ihn als Vorsichtsmaßnahme doch gar nicht geküsst und die David zu Karls Familie steuerte, um ihm so einen Stützpunkt in unbekanntem Land zu verschaffen. Er kam einmal und immer häufiger. In den Augen von Karls Mutter war er ein Herr – ein Partner Elisabeth Bergners, eine ihrer wichtigsten akzeptablen Kategorien, obwohl er der erste Gast in ihrem Hause war, der behaart und gebräunt in blendend weißem Hemd ohne Jacke und Krawatte zum Frühstück erschien. Allen in der Familie gefiel Davids sprunghaft intellektuelle Art, seine Herkunft aus Musils Welt, mit dem man nicht nur über die Entstehung eines Gefühls diskutierte, sondern auch über das in einer Geste gespiegelte Portrait, und selbstverliebt ironisch zeigte ihnen David seine Lieblingsphotographie, auf der er elegant und souverän, vielleicht nachdenklich, dem Betrachter wie die Schwester Reynolds abgewandt in den herbstlichen Wald hineinschlenderte, nicht unterbewußt erschreckt wie Henrik Ibsen, als dieser nicht merkte, dass Carl Størmer ihn von hinten photographierte.
Wie später jemand zutreffend zu Karl sagen sollte, „Du bist gut in der Nachahmung,“ griff dieser die Selbstdarstellung Davids auf, hatte neidvolles Vergnügen daran, daß die „Gräfin“ im Rialto David begrüßte, als sei er ihr ständiger befreundeter Gast, während sie dem zu jungen Karl durch den Spion der Lokaltür mehr als einmal kritisch würdigend den Eintritt verwehrt hatte. Sie ließen die Welt hinter sich, wenn er Nachts David über die Wege des trüben Niederrheins fuhr, ihn tertiär an den eigenen sekundären Erfahrungen, dabeizusein und doch nicht dazuzugehören, an rheinischen Rauchzeichen und jungen Wilden teilhaben ließ, die wiederum überboten wurden durch Sitzungen in einem Großvaterschaukelstuhl eines Wiener ungewaschenen Ateliers und austauschbar waren. Und David war amüsiert sympathisch berührt und ein wenig boshaft, wenn er den weißen jungfräulichen Jungen eindringlich aufforderte, ihn und seine Freunde in Wien zu besuchen. Keineswegs unrichtig kündigte er ihn als beeinflussbar und als Spaß dort an und keinesfalls als Spross der Firma Zwilling. Nicht nur das, im kommenden Sommer ertrug er in Anlehnung an Rex Harrison halb gewollt die Verantwortung für Karl, nachdem er ihm gegen eine Bindehautentzündung unwissentlich Belladonna in die Augen geträufelt hatte, das Gelächter des erschreckt konsultierten Augenarztes ertragen und danach Karl und Katherine zum Essen bei Adam eingeladen hatte. Leicht angeekelt schaute er weg, wenn er Karl den sonnenverbrannten Rücken einreiben musste und ihm seine ältesten Hemden zum anschließenden Wegwerfen überließ. Er war es, der Karl in die italienisierende Athener Gesellschaft einführte, den dekadenten Nachkommen tüchtiger Piraten, die ihren literarischen Witz in absichtslosen Leserbriefen und Schreiben an die schwer- und selbstgefälligen Behörden bis zur Perfektion erschöpften. Er war es auch, der Karl, dessen Erfahrungen sich auf die vielen tausend Seiten von Fallstudien der Agnes von Krusenstjerna beschränkten, die seine Mutter ihm verbieten wollte, der Vater jedoch zugestand, seinem Bildungsschicksal mit olivfarbenen Homosexuellen überließ, dem bösen Palmisten Christos auslieferte, um zu sehen, wie Karl sich verhalten würde.
Zuerst aber würde er Karl in Wien in Empfang nehmen, ihn zu Nora bringen, in seinen Freundeskreis einführen. Er wollte ihn initiieren.

Jetzt war David mit dem Wagen eines Freundes auf dem Weg vom Genfer See nach Wien. Der Freund ist für die anderen in Wien und auch für Karl nur jemand, der einen Weinberg hat und guten Wein macht und mit dem man auf Seitenwegen darüber spricht. Lange ist man bereit, David seine Kennerschaft zuzuerkennen, wenn man selbst nicht merkt, daß ein Wein mit Hilfe von Gips geklärt worden ist. Näher ist die Frau des Freundes, Josephine, die neben ihm im Wagen sitzt und in souveräner Weise ihr eigenes Leben lebt. Auch sie wird in Wien zum Freundeskreis stoßen, sich vergnügen und alles von sich abperlen lassen, was sie zu ihrer eigenen Befriedigung tut. Sie ist eine vollkommene, gewissenlose Lilith vor dem Sündenfall, die ungerührt jeden versucht. Kein Abschied fällt ihr schwer, und so fällt ihre Abwesenheit nach kurzer Zeit nicht mehr auf. Doch hebt ihre Anwesenheit den Eigenwert.
Es ist David, der fährt und mit Josephine plaudert, in ihrer Nähe badet und sich aufführt wie ein konspirativer und damit gleichberechtigter Chauffeur. Er darf über die Sterne sprechen, über die Mode, ebenso wie über die Ausstellung in Blau von Yves Klein, und Josephine ordnet die Sterne nach Häusern und Konstellationen und setzt sich zurecht, als durchschreite sie die blau verhängte Rue de Rivoli unberührt von den „assassins!“ schreienden Anhängern der Jungfrau von Orléans, unberührt von Kosmogonien und Anthropometrien. Im Wagen schrumpft die Welt auf diesen Käfig zusammen, der Schneider Joseph auf Thera ist da, der ungeschickte Koch auf Hydra, der den Hummerpanzer mit dem Hammer zerschlug, die Kunst, die Literatur Europas von Island bis zu Kavavis‘ Alexandria und damit auch zu Marguerite Yourcenar. Und Josephine und David sind periphere, aber doch Beteiligte.
Die Fahrt selbst wird zum Spiel, die Belastungsfähigkeit zu testen, die Zeit zu fressen, um sagen zu können, es war wie eine Etappe von Paris nach Dakar oder nach Peking. Wir überquerten reißende Ströme, steinige, staubige Wüsten, die Orte der Eingeborenen unter brennender Sonne, stürzendem Regen und Schneesturm, einen Tag und eine Nacht. So war es, wenn David sich den Weg durch den Schneematsch Schweizer Landstraßen bahnt, ausdauernd, aber vorsichtig den Schnee am Arlberg durchpflügt, den auf sie einstürzenden Bergen im Inntal ausweicht und schließlich in aufklarender Dunkelheit durch die Voralpen nach Wien hineineilt, begleitet vom gemeinsamen Geplauder vor der schmatzenden, rauschenden und schlagenden Melodie der rollenden Reifen und der variierenden Monotonie des Motors. Ein schneller Blick, zu kurz, um unnötige Namen zu erfassen, genügt, um zu konstatieren, daß die Nummern der zu durchmessenden National- und Bundesstraßen die richtigen sind.
In Innsbruck machen sie Station, um zu Abend zu essen, beide heiter, keiner von beiden gehört zu den Menschen, die bereits nach kurzer oder auch langer Fahrt ausschauen, als wären sie noch nicht richtig aufgestanden, sondern vielmehr, als hätten sie sich nach einem anregenden Tag zum Höhepunkt des täglichen Genusses verabredet und hätten jetzt alle Zeit dieser Welt, sich bei einem Gastmahl darauf einzustellen, vermitteln den Nachbarn an den anderen Tischen im Restaurant das Bild entspannter Konzentration und Freude auf den anderen. Sie könnten dem Handbuch für Protokoll, Höflichkeiten und Überlieferungen Deutschlands der amerikanischen Armee entstammen, in dem der Handkuss so elegant beschrieben wurde: „In der klassischen Version beugt sich der galante Mann über den ausgestreckten Arm der Dame, die ihre Hand leicht erhebt und gegen diesen Druck eine trockene Berührung der Lippen empfängt.“ Weder David noch Josephine merkt man an, dass sie vor allem sich selbst lieb sind. Gäbe es nicht eine kleine Inkongruenz, bevor sie das Lokal verlassen, als David auf dem Rückweg von der Toilet¬te zu ihrem Tisch trotz seiner beeindruckenden Begleiterin einer jungen Frau mit allen kostenlosen Attributen ihrer Jugend mit einem unerfüllbar zugemurmelten „domani“ schmeichelnde verschwörerische Zustimmung abfordert. Er weiß nicht, wie ähnlich er damit dem prahlenden jugendlichen Obdachlosen aus der Düsseldorfer Aderstraße ist, der über seine zahllosen Eroberungen scheinbar gewissenhaft Buch führt und seine eigenen Notizen für beweiskräftig hält, dabei sein Marienbad noch nicht erreicht hat und keine Gelegenheit haben wird, die Liste der fünfhundertvierzehn Frauen zu Ende zu schreiben.
Es ist tiefe, frühlingskalte Nacht, als sie die einsame Mariahilfer Straße hinabglei-ten und hinüber in den 4. Bezirk kreuzen, um zu Davids Atelierwohnung zu ge-langen. Beeindruckend ist nach der Fahrt, nach den Strapazen, wie die verinnerlichte Höflichkeit David mit leichter Hand ein Bett für Josephine bereiten lässt, ihn veranlaßt, den Katalog möglicher Wünsche von einem Drink bis zu einem Bad abzufragen.

Die verschiedenen gemeinsamen Erinnerungen, vor allem das fast gleiche Gewicht der Erinnerungen, führten Karl und Hannelore zusammen, da überdies die indischen Erlebnisse, von denen sie sich losgesagt hatte und über die sie fast völlig schwieg, Hannelore in Deutschland hatten vereinsamen lassen, auch wenn sie nie nackt im Erlösungsrausch durch indische Straßen gerannt war.
Einen weiteren überraschenden gemeinsamen Kreuzweg gab es in Karls und Hannelores Leben. Es war Frau Münchbergs Patentante gewesen, der das Nachkriegsgut in Niedersachsen bei Gandersheim gehörte, wo Karl die Hähne der ganzen Welt als kleiner Junge gehört hatte. Immer noch lebte sie dort als einsame Dame, und der Mechanismus, mit dem Abends die Treppe zum ersten Stock wie eine Zugbrücke hochgezogen werden konnte, funktionierte immer noch. Und so mischten sich in die Erinnerungen an David ähnlich getrennt Gemeinsames aus der Jugend und Kindheit.
Wenig später durch Frau Münchberg angekündigt besuchte Karl die ältere Hannelore und traf eine mehr als neunzigjährige allmählich vergehende Dame in einem weißen hochgeschlossenen Kleid, die die letzten vierzig Jahre vor allem damit verbracht hatte, ihre Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen von der gutsherrlichen Energieversorgung bis zur Alterssicherung solange zu behaupten bis dieser selber zum Ergebnis gekommen war, dass er als Staat freilassen können müsse. Und sie hatte ihre literarische Polyglottie gepflegt. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre waren wacher bei ihr als bei Karl, und doch war es ein stiller Erfolg. Als ihr Testament nur zwei Jahre danach eröffnet wurde, hatte sie das Anliegen ihrer Patentochter zu dem ihren gemacht, und ihre niedersächsischen Ländereien wurden Stiftungsbesitz der im Aufbau begriffenen Universität.

Es war die Kindheit Karls gewesen, und die Welt, in der er lebte, war jung hinauf bis zu seiner Großmutter, und sie begann nicht mit grellen Stimmen, bösen Hand-lungen und schrillen Geschossen, sondern mit frühsommerlicher Stille, die in der eigenen Welt nur vom Gesang Karls und dem Trommeln seiner Füße gegen die Bretter eines weiteren Außenklos unterbrochen wurde. „Der Krieg ist aus. Der Krieg ist aus.“

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