Samstag, 2. Oktober 2010

Lesender Weise 4

Zurück

Er kehrte von dem hoffnungslosen Versuch im österreichischen Wien nach Jahren in seine alte Heimat, in die föderale Bundesrepublik Deutschland zurück. Endlich hatte er seine pubertären Relikte hinter sich gelassen. Kurz nach Katherine war der Vater gestorben, weil er auch nach sieben Jahren nach einem mächtigen holländisch-chinesischen Essen der Versuchung nach einer Zigarette nicht widerstehen konnte und nach zwei Wochen bei seinem alten Pensum von zwei Päckchen Players am Tag, damals noch ohne Filter, angelangt war, und dies trotz der Ängste, die ihn sich an seine Frau klammern ließen, ihm angstvolle Nächte verursachten, nach den blutdrucksenkenden Pillen und dem Fläschchen mit Nitroglycerin greifen ließen. Nach nicht einmal einem halben Jahr war er vom Sessel gesunken, röchelnde Geräusche schienen zu zeigen, dass er noch lebte, doch war es vorbei in einer Zeit, in der die invasiven Eingriffe am Herzen noch nicht möglich waren. Die Mutter erinnerte sich, er war am Tag vor seinem Tode gewesen wie mit fünfundzwanzig Jahren vor etwas mehr als derselben Zeit, als sie sich umdrehte und ihn zum ersten Mal auf den Gartenterrassen von Schloß Augustusburg sah.
Karl war leichtfüßig durch die Welt getaumelt und hatte scheinbar Glück gehabt. Er hatte beruflich Fuß gefasst, ohne seine eigene Rolle einschätzen zu können. Er tanzte mit sich und war nicht in der Lage, seine Wirkung auf andere Menschen zu erkennen. Und so gelang es ihm nicht, Seelenfreundschaften zu schließen. Die anderen erkannten eine gewisse Freundlichkeit in ihm, nicht aber seine kaltschnäuzige Gleichgültigkeit. So näherten sie sich ihm, um sich bald wieder zurückzuziehen, und es blieben die Anlehnungsbedürftigen. Er lachte und scherzte mit einem milden Zynismus, echauffierte sich resignierend, las aber die Gesetze und Verordnungen und ließ sich so nicht ans Bein pinkeln.
Doch sind Erinnerungen vielleicht wieder einmal nur die Frage des Winkels zur Wahrheit. Es war jedesmal dasselbe, ein Mensch näherte sich ihm, und das machte ihn glücklich, weil er es selbst nicht vermochte. Vielleicht konnte er zeigen, was er meinte, aber nicht sagen, was er dachte. Das Leben war eine erinnerte distanzierte Zugreise nach Wien, bei der man auf dem Gang Mrs. Dalloway begegnete, oder ein bloß erhoffter osmotischer Vorgang. Der diskrete Charme allein genügte nicht. Er verstand nur das unmittelbare, nicht mehr verborgene Verlangen und verdeckte sein Unvermögen mit immer wiederholten Flirts um ihrer selbst willen, ohne auf die Wirkung zu achten. Doch das war nur seine Beziehung zu anderen Menschen, denn sein äußeres Glück ließ ihn nicht im Stich. In seiner Ehe lebte er neben einem anderen Menschen, meist mit Gleichmut und Hilfsbereitschaft. Er hatte es aufgegeben, Gedichte zu schreiben, es aufgegeben zu malen, weil es ihn verraten hätte, die Helligkeit eines Bildes als Fleck in der Mitte, der nicht der Austritt ins Licht war, sondern ein weiter verschwindender Rest, das Ende, nicht der Anfang von Mittelerde. Das Herz schmerzte, wenn die Zunge plauderte. Es gelang ihm, die Welt zu betrügen, sich scheinbar hinzugeben, seinem Gegenüber den Eindruck von Einzigartigkeit zu vermitteln. Aber nicht auf Dauer.
Karl hatte aber tatsächlich nichts dazu gelernt, im Gegenteil hatte er völlig verlernt, auf einen anderen Menschen zuzugehen, ihn aus Interesse, aus einem Bündel schließlich geordneter Gefühle zu verstehen. Für ihn selbst war das Ergebnis keineswegs strahlender. Eine Geschichte, die er nicht nur erzählen, sondern aus der er herauswachsen wollte, hatte ein Ende gefunden und ihn von einer weiteren Entwicklung ausgesperrt. Der Tod Katherines, seiner ersten fiktiven Liebe, und der seines Vater, dieses zurückhaltenden, nach innen lächelnden Menschen, der dadurch anderen einen Zugang gewährte, bedeutete, dass alle Netze, über denen Karl getanzt hatte, entfernt worden waren. Die starke Mutter war nur solange stark als sie vom Vater getragen wurde. Und so brach vieles vom Umfeld zusammen, nicht die praktische Seite, die plötzlich entdeckt wurde, als es notwendig wurde, sich durch das Leben zu schlängeln, weil es einen anderen Ausweg nicht gab. Und so gelang es Karl, mit minimalem Aufwand hinreichende Erfolge zu erzielen. Den Tanz durch mehrere deutsche Universitäten gab er auf, auf den Treppenstufen in der Sonne vor dem Freiburger Hauptgebäude auf sogenannte Freunde zu warten, die ebensowenig Lust hatten, sich in den Hörsaal zu begeben oder auf dem Rasen vor der Hamburger Mensa das gleiche zu tun, kehrte fast nach Düsseldorf zurück, das heißt, er gelangte bis Köln und begann, am Innenleben desinteressiert, für eine Scheinwelt zu leben.
Wie brachte Karl es nur fertig, daß alle, seine Mutter und Schwester, eine zeitweilige Clique in Wien, ihn entweder als Störenfried – du bist ein Bastard – oder als gestört ansahen? Sollte man alles nur auf Eifersucht zurückführen, die Possessivität der Mutter, das Familienbewußsein der Schwester, die Entlarvung der erwählten Führerin durch ihre irregeführte Hingabe? Oder war es das Halbe, nicht Vollzogene, das die anderen nicht wussten, aber spürten und wodurch sie sich gestört fühlten? Die Mutter versuchte, Karls Seele zu retten, der Vater hatte als einziger gelächelt, weil er die Halbheit erkannte und meinte und sicherlich nur hoffte, es werde vorbeigehen.
Für Karl hatte es nach einem Intermezzo zwischen Abitur und Studium in Wien ein erstes noch ernstgenommenes Semester in Hamburg gegeben, in das er Wien hineinzutragen suchte, das Leben mit Katherine. Dies war schwierig, wenn im Alsterhaus zu Kartoffeln als Gemüse Spaghetti serviert wurden. Voller Ernsthaftigkeit wollte er ein Seminar zu Römischer Rechtsgeschichte besuchen, wurde für zu jung befunden und abgelehnt. Er hatte ein merkwürdiges Zimmer hinter der Hoheluftbrücke in Eimsbüttel, im Erdgeschoß, mit einer Tür zum Vorgarten und einer fetten soldatischen Vermieterin, die stolz darauf war, die einzige Frau in der Waffen-SS gewesen zu sein. Sie war bereits Untermieterin, pflegte aber in Harvestehude einen kranken Mann, und Karl war Unteruntermieter mit dem Ergebnis, dass oft, wenn er nach Hause kam, sie überbordend in seinem Zimmer saß, einem engen Schlauch, der noch enger wurde, durch ein nicht benutzbares, weil abgeschlossenes Buffet – in der Sprache seiner Vermieterin ein Bévé, in dem sie ihr bestes „Servi“ aufbewahrte, durch einen Schrank, der sich ihm entgegensenkte, wenn er dessen Tür öffnete und durch eine Chaiselongue, auf der er mit verkrümmtem Rücken zu schlafen versuchte. Als er schließlich nach Wochen begann, die Zimmertür zu verschließen, gab es eine hässliche Auseinandersetzung um „mein“, „nein mein Zimmer“. Und doch genoss Karl die Skurrilität seiner Bleibe.
Es war ein schöner Sommer, wie alle Sommer der Vergangenheit. Vor der Mensa wurde gestreikt und gesonnt, und es war ein Jahr, in dem man Pettycoats zählte, besonders dreist war, wenn man am Saum bis sieben gelangte. Draußen in Flottbeck mähte man den Rasen, um sich das Abendessen zu verdienen, schaute den Mädchen zu, wenn sie mit Schaum auf einem Lotusblatt damit beschäftigt waren, sich die Beine zu rasieren, und man war von all den Sehnsüchten erfüllt, die ein Mensch haben kann, auch wenn man sich gleichzeitig wohlig schaurig an unter Strümpfen fixierte schwärzliche Haarkringel an Mädchenbeinen auf dem gymnasialen Schulweg erinnerte, etwa so wie an die Handschuhe auf Cranachbildern, auf denen die Ringtaschen Geschwüren ähnlicher waren als der Schönheit, der sie Raum gaben.
Danach kehrte man zurück in die schäbigen sonnigen Buden, so wie Karl. Es war ein genüsslicher Sommer voller Erwartungen und Hoffnungen, von denen er wusste. In der Pfingstwoche war er in den Harburger Bergen in einem kleinen Gasthof, dessen Wirt in eine von Karls Tanten verliebt gewesen war, als diese noch eine Schönheit war, Musikunterricht gab und nicht verriet, dass sie schwer in den Hüften und Beinen werden würde, so schwer, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte und an ihrer Schwere starb. Karl lernte, worauf man in der Schokoladenproduktion achten musste, wie der Kakao gemahlen und wie man im Geschäft übers Ohr gehauen werden konnte. Und zu Himmelfahrt lagen die Schnapsleichen in den sandigen Hügeln. Es war ein wunderbarer Frühsommer, und niemand holte sich einen Schnupfen, nachdem er im Freien seinen Rausch ausgeschlafen hatte. In Bergedorf erntete man Erdbeeren vom Feld, und sie waren herrlich ekelhaft voll Würmer. Und bei einer alten Dame in der Johnsallee wohnte ein Jugendfreund von Karls Vater, der entsetzt darüber war, dass ein Junge auf der Reeperbahn nach unerfahrenen homosexuellen Erlebnissen Selbstmord beging, während er dabei versuchte, Karls Bauchdecke zu streicheln. Karl kannte ihn seit seiner Kindheit und schaffte es, der Berührung zu entgehen, eine Situation, in der ihm das auf dem häuslichen Teppich erworbene Buchwissen zur Hilfe kam. Doch ging das Bild eines guten Onkels verloren.
Vor dem Theater traf Karl einen berühmten Geiger, der den Abend mit ihm verbringen wollte, ihn mit auf sein Hotelzimmer in St. Georg nahm, sich in Unterhosen zeigte – doch konnte man unbeschadet durch die Welt gelangen und damit Voltaire bestätigen, und der Abend endete in einer chinesischen Budike dem Atlantic gegenüber mit einem Aufstand des Kochs, als Karl aus schlechter Gewohnheit zur Sojasauce griff und lernte, erst zu probieren, bevor er einen beabsichtigten Geschmack erstickte.
Dazwischen die Universitätsveranstaltungen noch im alten Gebäude auf der Moorweide oder in einem niedergelegten Reedereikontor an der Außenalster. Im Hof sah man noch die Umrisse des alten Namens, und über den Buchstabenschatten im ersten Stock tobte jede Woche ein Professor mit der immer gleichen Drohung, dass er auch noch den letzten Studenten aus seinen Lehrveranstaltungen ekeln werde, so gründlich, dass er aus dem Fenster springen würde. Einige hielten das aus, und auch Karl überlebte dieses Semester wie viele andere danach, professorale Aberrationen, dumme Witze wie den, dass jetzt etwas besprochen werde, währenddessen alle Jungfrauen den Hörsaal verlassen müssten, eine Provokation, um den jährlich wiederkehrenden Witz loszuwerden.
In diesem wunderbaren Sommer gab es auch einige Tage auf Sylt, die auf ihre Weise mit einer Linda hätten erfolgreich sein können, wenn Karl nicht so sicher gewesen wäre, wenn er nicht den Witz von Petru hätte widerlegen wollen, der herzzerreißend schluchzend hinter dem Sarg seiner jungen Frau Tamara wandelte und von einem Freund getröstet wurde: „Ja sie war eine wunderbare Frau, aber in sechs Monaten wirst du eine neue gefunden haben,“ und Petru erwiderte, „ja, in sechs Monaten, aber was mache ich heute abend?“ Tatsächlich tat er einem Menschen weh. Und er schämte sich deswegen sein Leben lang. Er sollte damit angeben, die Gelegenheiten ausmalen und überhöhen, hinreichend Erkundigungen anstellen, um seinen Lügen Authentizität zu verleihen, wenn in den nachfolgenden Sommermonaten Katherine ihn wegen seiner unvollendeten Ausschließlichkeit provozieren zu wollen schien und doch nur Bestätigung wollte, ausschließliches Objekt seiner Begierde zu sein.
Damals erinnerte sich Karl noch des Morgens an seine Träume. Er erwachte in steinerner Umgebung zu Füßen einer riesigen Statue und merkte, er war nackt. Doch blieb ihm keine Zeit, sich zu orientieren, da er Stimmen hörte und eilends sich, vor allem seine Scham – was für ein diskret die Phantasie weckendes Wort – zu verbergen suchte. Die Stimmen gehörten den Adoranten der steinernen Figur, die vor ihr ihre unverständlichen Anrufungen vornahmen. Aus seinem Versteck sah Karl zu ihnen und der Statue hinüber. Diese war nackt wie er und ihm ungemein vertraut, denn sie hatte seine Gesichtszüge, und so entdeckte er, er war ein Gott, ohne noch seine Macht zu kennen. Er war sich nicht sicher, wie die Gemeinde auf seine Entdeckung reagieren würden. War er nur ein Mäuseheros wie Apoll oder mächtig wie Marduk, der, ein eiserner Stier, in seiner Bauchhöhle die Opfer verglühen ließ? Es geschah in einer früheren Zeit, und Karl fürchtete, zu einem versklavten Gott zu werden und zwang sich aufzuwachen, zurückzukehren. Später erfuhr er, daß Phyromachos von Pergamon sein Schöpfer gewesen war.
Manchmal waren es Träume kaum mit einer Handlung, manchmal war der Schlaf im Traum sonnig und gleißend schön, dann war er ein Kind ohne Beine auf einem Eisblock, der wiederum auf einer Schaukel lag, die ohne Ende in einem kühlen grünen Gartenwinkel hin und her pendelte, den ganzen Tag des Traumes hindurch. Ohne ihre Bedeutung zu kennen, liebte er seine Träume, denn alles Unangenehme wurde in den Farben verschönt, auch eine entlang des Brustbeins gespaltene nackte Frau.

Das Zuhause bröckelte trotz verzweifelter Versuche der Mutter nur scheinbar langsam weg. Die Schwester verstand es, sich unauffällig hinauszustehlen, was ihr bis zum letzten aber nie gelang, so dass beide, sie und Karl, im Laufe der Jahre am schmerzhaften granny bashing beteiligt waren, groß und drohend über einer im Sessel sich vor sinnloser Verzweiflung krümmenden Mutter, da sie diese nicht bei sich behalten konnte.
In der Universität dachte Karl, an die enttäuschenden Anfänge in Hamburg zurück, viel zu früh hatte er dort im ersten Semester die Chance gehabt, einen Großmeister seines angeblichen Faches kennenzulernen, ohne dies wirklich zu erkennen. In Freiburg gab es nur eine Vorlesung, von der er erfüllt wurde, und dies war die Rechtsgeschichte bei Erik Wolf, der die ganze Empore des Vorlesungssaales zu füllen schien, wenn er über römisches Recht oder Radbruchsche Rechtsphilosophie sprach mit einer weißen Löwenmäne, als gehöre er noch zum George-Kreis, eine Erinnerung, die Karl lange weitertrug, bis auch diese befleckt wurde. Da Karl nie in der Jurisprudenz heimisch wurde, hatte er nur seinen persönlichen Eindruck mitgenommen, bis Jahrzehnte später jemand Erik Wolf zum Nationalsozialisten erklärte und Karl den teilweise tauglichen Versuch unternahm, mit Hilfe einer rundlichen und klugen Studentin seine naive Schwärmerei im Archiv zu retten.
Einer Corporation beizutreten, das brachte er nicht fertig, obwohl er sich einmal überreden ließ, an einem Kommers teilzunehmen, er allein nicht uniformiert, was aber auch nicht nötig war, da er zwar nicht nie, aber doch selten die Fassung soweit verlor, einen betressten Schutz tragen zu müssen. Die Corporation war bedeutend genug Anfang der sechziger Jahre, so daß er zum Corporationsball auf das Heidelberger Schloss eingeladen wurde und mit seiner Tischdame – wie schön konnten wir auch damals in anderer Weise den Schein waren –, die in ihrer Handtasche verborgene Whiskyflasche teilte. Sie hatte bereits Erfahrung, so wie kundige Reisende in den siebziger und noch achtziger Jahren Käsedosen auf ihren chinesischen Reisen mit sich führten. Stattdessen gab es den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, der damals schon ernsthaft, aber eher darauf achtete, daß man nicht in eine Corporation eintrat, dafür aber das Hambacher Fest als Vorläufer des Nationalsozialismus ansah, doch beschränkte sich die Ernsthaftigkeit gern darauf, darauf zu bestehen, daß man nicht wie im Byzantion in Athen vor der Mensa zu viele Stühle belegte oder die Schuhe auf einen davon legte, d.h. er war also weniger amüsant als die Vereinigung der studentischen Photofreunde. Gobineau war nicht mehr bekannt, dafür aber Max Stirner wieder. Viele Jahre später, als Karl schon glaubte, Corporationen hätten sich längst überlebt, hatte seine Tochter plötzlich einen Freund aus diesem Milieu, und die ganze Familie suchte gemeinsam nach Entschuldigungsgründen: wenn schon nicht die Corporierten die ganze Alexanderschlacht nachstellen konnten, so ließ sich doch der Freund als halber Kanake für die Guten retten.
Und so eilten die Jahre davon mit nächtlichen Reisen durch Teile von Deutschland, oft in den Westerwald in ein zerschlafenes Bett, um kurze Abenteuer zu erleben, um Pläne zu machen, von denen man wußte, daß es nur Pläne waren. Karl fing ein und wurde eingefangen bis zu Augenblicken, in denen die andere glaubte, jetzt könnten sie gemeinsam an die Einrichtung einer bürgerlichen Wohnung gehen. Es war noch eine Zeit, wo der etwas ältere Freund Karls, Werner, davon sprechen konnte, daß ihm sein Schwiegervater noch ein Herrenzimmer schulde für die Vierzimmerwohnung in Gehweite vom Monte Scherbelino.
Die Autos, die man fuhr, wurden immer rostiger, und schließlich kannte man ohne Diagnosegeräte alle ihre Innereien, nachdem man fast ungebremst vom Hunsrück ins Moseltal zu gelangen gesucht hatte. Und an sommerlichen Nachmittagen suchte man sich ein Plätzchen, um mit Glasfaser die Roststellen abzukleben, oft war es eine stillgelegte Mühle zwischen Düsseldorf und Kaiserswerth, mit verblichenen Liegestühlen, von denen aus man Arbeit, Libellen und den Wind beobachten konnte. Sie gehörte einer Künstlerin, die aus Fischgräten und Stoffstücken dämonische Puppen schuf. Dies war dann auch der Ort, wo man über die anderen Ungerechtigkeiten dieser Welt diskutierte, an wen nämlich in diesem, im letzten oder im kommenden Jahr die Gelder für Kunst an öffentlich-rechtlichen Bauten gefallen waren, fallen würden und hätten fallen sollen, wo der inflationäre und überteuerte Einsatz Moorescher Liegender und Marinischer Reiter bis in die Kleinstädte hinein und vor nachgeordneten Regierungsstellen beklagt wurde und stattdessen dem Gummibaum im Verein mit den eigenen Arbeiten der Vorzug gegeben wurde. Karl nutzte diesen Ort nicht nur für die Reparaturen am Auto, sondern auch, um sich auf seine Examina vorzubereiten und zwar von relevanten Personen unbeobachtet fast mit langfristigen Folgen eine doch nur zeitweilige Freundin zu treffen.
Karl mochte die Menschen einschließlich seiner eigenen Person nicht mehr, und das Dasein wurde zu Spielerei. Er begann, Dossiers über die Menschen anzufertigen, die er traf, möglichst mit den dazugehörigen Photographien, am liebsten in der Art von Fahndungsphotos, mit Verzeichnissen ihrer Fähigkeiten, ihrer Selbsteinschätzung, ihrer Schwächen und ihrer Verbindungen. Die Erkenntnisse übertrug er auf Lochkarten, und des Nachts schlich er dann in die verschiedenen Keller seines Lebens, um die entsprechenden Profile zu sichten. Und diese erweiterte er fast jeden Tag, um sie vielleicht bei Gelegenheit zu nutzen.
Es war wohl nur ein Sommer in dieser Idylle in einer Künstlerkolonie am Rande der Stadt. Karl gehörte nicht dazu, nur als Anhängsel zu zwei Damen hatte er ein schwaches Hausrecht, und eine von ihnen verfügte über ihn, die andere zeigte sich wenig später im Herbst als Heiliger Georg. Dazwischen lagen die eindeutigen Vereinnahmungsversuche, die Forderungen nach der Aufhebung des Karl so passenden Schwebezustands, indem eben öffentlich von gemeinsamem Möbelkauf, Vorhängen und der dazugehörigen Wohnung gesprochen wurde. Und im Herbst war er schuldlos und im Innersten gern allein und wurde einmalig von der Heiligen Georgina im kleinen Schwarzen gerettet nach einer zunächst aggressiven und giftigen Konversation, die in gegenseitigem Verständnis nach Waffeln, Weißwein, sich Übergeben, die sauren Lippen küssen und einander streicheln endete. Karl sah Georgina nie wieder, doch der gegenseitige Abschied nach vergeblichen kichernden Vereinigungsversuchen ohne Zorn und Verzweiflung um drei Uhr nachts und am nächsten Tag geschriebene Briefe voller gegenseitiger befriedigter Zuneigung hatte beiden für Jahre Kraft gegeben, den Glauben, verstanden zu werden.
Zweifellos geschah eine Menge in der Welt, die hinter dem Studium und dem Geldverdienen, abendlichen Skat- oder Pokerpartien in der Kneipe an der Oper mit dem aufdringlich verliebten Wirt und einem kleinen engeren Freundeskreis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfte. Da waren die merkwürdiger Weise skurrilen Gesellschaften in der britischen Militärkolonie zwischen Düsseldorf und Rheindalen mit unbefriedigten Offiziersfrauen, ratlosen Töchtern zwischen verkommenden Ehen, allzu wichtigen Männern und Vätern, die am späteren Abend wegzudösen pflegten und Müttern und Ehefrauen, die sich benahmen fast wie auf einer Mutzborgschen Party, bei denen Henry, der Gastgeber, immer wieder passend das Licht ausmachte und im falschen Augenblick wieder an. Aber oft war dann bereits geklärt, ob zu einem späteren Zeitpunkt die Hand zum Handschuh passe, und alle Beteiligten – selbst die am Anfang ihres Lebens – gaben sich dem Glauben hin, sie lebten noch.
Da waren die selteneren Ausflüge an die holländische Küste mit Spannungen, Auseinandersetzungen und Lügen durch das Telephon. Davon geblieben sind die Holbeinteppiche auf den Gasthaustischen in Amsterdam, der geeiste Sherry, die Fachkenntnisse über die verschiedenen Sorten Genever und eine Anknüpfung an das intellektuelle Herz der Niederlande, Leiden, wichtig für die Zukunft als Uni-
versitäts- und Verlagsort. Da waren die jährlichen Reisen nach Norwegen, mit heimlichen anonymen Abstechern nach Kongens Næstved, doch mit Kontaktaufnahmen in Oslo und København, dazu in Oslo die langen Sitzungen in Damms Antikvariat in Eckersbergsgaten, wo lange im Keller verborgen eine japanische Ausgabe des Sancai tuhui, der illustrierten chinesischen Sammlung alles menschlich Erfassbaren aus dem 18. Jahrhundert stand, die dem Arzt Adolf Fonahn gehört hatte, zu teuer für Karl, bis sie eines Tages von einem Künstler mit Staatsunterstützung erworben wurde, der sie zu Collagen verarbeitete; wo Karl an einem Straßenstand für fünf Kronen The Waves von Virginia Woolf in der Erstausgabe, allerdings ohne Schutzumschlag, auftreiben konnte, für hundert Hehns Kulturpflanzen aus der Bibliothek Harry Fetts, während er in København für Three Guineas mit Schutzumschlag fünfunddreißig zahlen mußte, für Hundhausens Reisen eines Secretarius nach China sogar einhundertundfünfzig. Sie allerdings landeten sehr viel später als Geschenk in van Groningens imponierender Bibliothek.
1966 wurde die Geschlechtertrennung in deutschen Studentenheimen aufgehoben, so dass allmählich der Reiz des Verbotenen und die Ingeniösität im Schaffen von Möglichkeiten in Vergessenheit geriet. Karl erinnerte sich an endlose Diskussionen über eben dieses Thema, wenn sie um einen großen Tisch zusammen saßen und die erste der Damen aus der randständigen Düsseldorfer Mühle in Anlehnung an napoleonische Karikaturen ihre Finger nicht zwischen die Knöpfe seiner Jacke steckte, sondern unter dem Tisch in Karls Hosenschlitz. Sie lehrte ihn auch, wie man einander nicht noch näher kommen konnte. Danach verzweifelte man nicht mehr über verschlossene Türen oder im Erdgeschoß klemmende Fenster. Dies war ein erster Schritt zu den folgenden Revolutionen.
Auch hier füllte er seine langsam anwachsenden Dossiers mit den schriftstellerischen Versuchen dänischer Professoren, den Autovorlieben norwegischer und den verschiedenen Vorlieben in seinem Umfeld. Und er nahm sich die Gewissenhaftigkeit seiner Schwester zum Vorbild, mit Grüßen zu den Feiertagen und intelligenten Anfragen – da sie dem Gefragten schmeichelten – die meisten Kontakte aufrechtzuerhalten. Überhaupt strotzten die kleinen europäischen Länder von angelsächsischer Nachkriegsinternationalität. Deutsch wurde abgesehen von Zahnmedizinstudenten und Teilen der älteren Generation nicht mehr gesprochen. Hier knüpfte Karl Freundschaften fürs Leben, zum Teil, wie sich zeigen sollte, über die nächste Generation hinweg, und diese nicht nur mit den „we were the children“ von Arthur Ransome, sondern auch mit Menschen, die auf der Toilette Partituren oder Kulinarisches lasen.
Karl wurde promoviert, bevor die nachfolgenden Studentenjahrgänge mit unbelastetem Gewissen erneut das Leid dieser Welt auf sich nehmen konnten und sie verbessern wollten, während er selbst noch mit Erinnerungen aufgewachsen war, wenn auch ohne das Empfinden, Schuld auf sich geladen zu haben. An der Universität zu Köln, die gewiß nicht zu den Zentren des neuen Aufbruchs gehörte, wurde von Studenten der neue Namenszug Rosa-Luxemburg-Universität über dem Haupteingang angebracht, die Verantwortlichen ließen im Gegenzug die Türen an der Front des Hauptgebäudes zuschweißen. Im Rücken dieser Aktivitäten strömten wie eh und je andere Studenten von Köln-Süd durch die Hintereingänge hinein, in die Cafeteria, die Hörsäle und Seminarbibliotheken. Man sah – gewiss bereits die meisten – oder hörte und las von Berlin, Heidelberg oder Frankfurt, doch hatte Köln wenigstens Professor Rubin, der die Gemüter erhitzte und seinen kleingewachsenen japanischen Assistenten zum Schutz vor den Angreifern unter die Türklinke schob, nachdem dieser gerade seine schöne Dissertation über Prokops Rätselwort mit genüßlichen Passagen aus Horaz über die dekadente römische Verwendung chinesischer Seide abgeschlossen hatte. Die Geräusche aus der großen deutschen Welt in Verbindung mit dem globalen antiamerikanischen Widerstand pro Vietnam drangen gedämpft auch bis Köln. Unter den Assistenten rumorte es ein wenig, und es bildeten sich neuartige Verbünde mit den alten Methoden des Telephonzirkels. Zu einer Lichtgestalt wurde der Germanist, Professor Conradi, als sanfter und schließlich resignierender Empörer.
Nicht auf dem Heidelberger Schloß, sondern an der dortigen Universität traf Karl Anfang der siebziger Jahre auch Inez Jentner wieder. Dies war eine schwache, falsche Erinnerung an Wien. Noch immer studierte sie Germanistik und Soziologie, war fortgeschrittene Studentin, saß an ihrer Dissertation über kommunistische Historiographie als literarisches Genre, und ihre Acne hatte Spuren hinterlassen, war aber ausgetrocknet und vernarbt. Nicht aber ihre Seele, verwundbar, leidenschaftlich und böse wie eh und je, als habe sie alle Gefühle, zu denen sie fähig war, in den Haß gelegt. Sie war auf dem Weg, ihr Fach, die Universität, das Land und schließlich die Welt in Grau zu revolutionieren. Nichts durfte schöner sein als sie. Die Freude mußte erstickt werden. Wegen der größeren Spielwiese und geringeren Konkurrenz hatte sie die Fächer gewählt, die sie studierte. Hier hatte sie ihre Rolle als Jeanne d’Arc mit kleinbürgerlichem Pathos wider die eigene Enge, die sie bei allen anderen vermutete, gefunden. Sie schrieb noch vor 1968 ihre ersten Beiträge in studentischen Blättern über das „Erkenne dich selbst“ in deinem Beschäftigungs-, natürlich Forschungsgegenstand, und sie glaubte, erkannt zu haben, dass ihre Wissenschaft die Akteure ihres Gegenstandes vernachlässige und sogar verachte, zumindest aber missachte. Sie vermutete überall die gleiche von ihr selbst sublimierte Unfähigkeit kritischer, heiterer, leidenschaftlicher Akzeptanz. Nicht Hinschauen, Lesen, Wahrnehmen war ihr Metier, sondern die Annahme des Bösen in ihrer Gesellschaft. Und so fragte sie anlässlich eines unbefangenen Vortrags zur Geschichte ihrer Fächer, „es kann doch nicht sein, daß europäische Gelehrte so bereitwillig wie vorgetragen ihre chinesischen oder arabischen Kollegen in die wissenschaftliche Gemeinschaft aufgenommen haben.“ Sie schuf sich eine manichäische Welt, ohne zu wissen, dass es diese Vorstellung längst gab und immer wieder überwunden wurde und suchte bei den Antipoden das Weiße, Gute, Helle aufgrund ihrer Wahrnehmung des eigenen, übertrug ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit auf die anderen, und nur selten brach eine schnell wieder zurückgedrängte Ahnung von bestehender Unbefangenheit hervor. Im Gegenteil war sie eine Meisterin der Guillotine.
Das Treffen war zufällig, da sie keine gemeinsamen Fächer hatten, und ihre erste, von Karl längst vergessene Begegnung war noch gewesen, als Karl nur Katherine wahrgenommen hatte, noch nicht mit den Dossiers über die verkrüppelten Enden des Menschen begonnen hatte. Sie saßen also auf einem der informellen Treffen am Anfang der siebziger Jahre zusammen, in denen sich der Hass auf die repressive Toleranz der Elterngeneration Bahn brach, nicht mehr die Restauration einer vor unserer Zeit verlorenen Welt versucht wurde, sondern die Zukunft utopisch gestaltet werden sollte, die Relevanz der Ernsthaftigkeit und Verbissenheit postuliert wurde, der absoluten Innovation der Weg frei gemacht werden sollte. Und da eben saß auch Inez Jentner als Vertreterin ihrer die Wahrheit gefunden habenden Gruppierung auf dem Marsch hinaus aus dem Elfenbeinturm der Universität, als ungeduldige Jugend, die nicht mehr auf die Macht warten wollte bis sie selbst so muffig war wie die, die sie als fressendes Gift bekämpfte, und den Nowak hatte sie noch nicht verschlungen. Und der Nowak war noch nicht dorthingegangen, wo sich die civiliter Seeligen aufzuhalten pflegen, an jenem Ort, der Ausland genannt werden könnte, und von dem aus sie am Tage die Freiheit haben, spuken zu gehen.
Sie sprach mit leiser bis ins Mark überzeugter Stimme von einer neuen gerechten Welt, in der die Guillotine nicht zur Ruhe kommen sollte, bis jene Hydra des verrotteten Establishments endgültig ausgemerzt sei. So bekamen die Wörter aus dem Wörterbuch des Unmenschen eine sinnhafte, wieder vertretbare Bedeutung im Kampf gegen das angenommene Böse. Was Karl damals noch auf dem Treffen am besten gefiel, war die Schnelligkeit, mit der unter anderen auch von Inez Jentner die Finger zum Redebeitrag gehoben wurden, da man nicht zuhörte, aber wusste, dass die anderen Unsinn vortrugen. Für sich genommen war dies Treffen nur eine Episode, aber für einige wie Karl ein Fingerzeig dafür, dass ein neuer, noch miefigerer Wind durch Westdeutschland wehte, der Beliebigkeit und Vielfalt nicht dulden wollte, zweifellos ein Grund, das Dossier in den Abend- und Nachtstunden nach solchen Erlebnissen Seite um Seite zu füllen. In dieser Zeit saß Karl gerade auf seiner ersten Assistentenstelle, antichambrierte im Ministerium mit dem vermeintlichen Interesse, Universität und Schule enger miteinander zu verknüpfen, aber so lernte er die Leute kennen, die er als sein Netzwerk bezeichnen konnte.
Er kümmerte sich um sein berufliches Fortkommen, besuchte Kongresse, publizierte ein wenig, saß an seiner Habilitation, erkannte nicht, wie valiumgesättigt die Mutter war. Die Sorge um sie war eine dieser törichten Ausreden, die man findet, wenn man zur Hingabe nicht mehr fähig ist, es nie war. Einen Sommer fuhr Karl genüsslich allein drei Monate durch England bis zur Lehmhütte in Hope Cove zu Barbara Biggs und Bronwen Godfrey-Evans und durch Schottland bis nach Peterhead, um das Gefängnis aus der Kriminallektüre zu sehen. In der Erinnerung blieb eine Museumsdame in Edinburgh, mit der er nie in Berührung kam, und doch tauchte sie später immer wieder mit sehnsüchtigem Bedauern in seiner Erinnerung auf, wie sie auf Holzpantinen in der Mittagspause über die Georgestreet klapperte und wo er sie immer wieder wohl tatsächlich in den drei Wochen, die er blieb, zufällig traf. Sie war ein weiteres Bruchstück nicht erinnerbarer Erinnerungen. Getroffen hatte er sie bei einer Führung, wo sie eine besondere schottische Stickweise, eben nicht petit point erklärte. Nie war er ihr näher und kurz davor, sie zum Essen einzuladen. Dann war auch diese Gelegenheit vorbei. Von dieser Reise blieb seine Zuneigung zu George Borrow. Es blieb aber auch der Haggis im Beehive und der unvergeßliche Geschmack, der sich aus Orangen und mit Fischmehl gemästeten Enten entwickelte.
Und weiter gingen die Jahre. Nicht die Revolution, sondern die Revolutionäre im zweiten Glied, die die Revolution für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert hatten, die mitgelaufenen Revolutionäre siegten physisch, indem sie nun die Träger der Gesellschaft waren und Erklärungen oder Ausflüchte suchten wie die, die sie ihrer Elterngeneration vorgeworfen hatten. „Nur, wer dabei war, kann unser Handeln oder Nichthandeln verstehen.“
Es kam zum Siegeszug der Sozialwissenschaften über die Geisteswissenschaften mit der vordringlichen Zielsetzung, sich selbst im anderen zu erkennen, auch wenn es einige als Wunsch formulierten zu erkennen, was die Welt im innersten zusammenhält, andere darunter die Behandlung der Gegenwart als Geschichte verstanden. Neugier war nicht mehr erlaubt. Es wurden Studienordnungen in den Universitäten erstritten, in denen die Gegenwart mit einer Stunde Null begann, weil die Nachkriegsverdrängung verdrängt, die Sünden der Eltern- und Großelterngenerationen verdammt, der europäische Imperialismus, der westliche Kolonialismus als Schandmal, die eigene Gesamtgeschichte als angeborener Fehler, das eigene Urteil als Wahrheit postuliert wurden. Und allen, die dem Glaubensbekenntnis des wertfreien und doch determinierten Globalismus nicht folgten, wurde voller Verachtung geraten, sich an eine andere Universität zu begeben. Einmal mehr suchte man bei den Antipoden die Erlösung von dem Übel. War es in den zwanziger Jahren östliche Esoterik, war es jetzt die gesellschaftliche Realität und die Rettung durch die chinesische Große Proletarische Kulturrevolution, die einige mit der gleichen Begeisterung erlebt hatten wie ihre Initiatoren die britischen Strafvollzugsreformen im 19. Jahrhundert, wenn sie auf dem Sportplatz der Pekinger Universität schweres Sportgerät von der einen Ecke in die andere und wieder zurück tragen durften. Dieses Hin- und Herschleppen im Verein mit einem Sommeraufenthalt in der Bekaa-Ebene prägte auch Inez Jentners Weltbild in den künftigen Jahren, doch nichts nützte mehr als die regelmäßigen Besuche im Zwiebelfisch. Hier traf sie sich mit Gesinnungsgenossen, mit denen nämlich, die nach oben wollten, und sie dachten geringschätzig von dem Bierdeckelmaler, der ihre Lebenslinie von links unten nach rechts oben vorzeichnete, von der glühenden außerparlamentarischen Opposition zum Einsatz der Instrumente zur Machtvermehrung und zum Machterhalt, so erfolgreich, dass jede ihrer einstweiligen Verfügungen gegen die Behauptung, sie seien IMs gewesen, von Erfolg gekrönt war.
Es war dies dieses spezielle Verhalten sich bildender Großreiche der Weidenomaden. Wie zur Wahl des Häuptlings waren die Prätendenten gleichen Willens nach West-Berlin geströmt, und die Klügeren, die mit dem besseren Geruchssinn, hatten sich regelmäßig im Zwiebelfisch getroffen.
Und so machte sie sich selbst vergessend in der ständigen Wiederholung – oder wie sie es nannte: Erneuerung bzw. Innovation, in genialer Epigonalität im deutschen universitären Leben unentbehrlich, berief sich auf Francis Bacon, der die Zeit zur mächtigsten Erneuerin erklärt hatte, und – wenn ihr Entdeckung drohte wie den Schneidern – kämpfte sie erfolgreich mit ihrem Netzwerk der inzwischen verschleierten Spartakiade, ihrer Unentbehrlichkeit, weil unbegrenzten Willigkeit, mit provokativen Handlungen, indem sie sich selber faule Sardinen in den eigenen Briefkasten bugsierte, Loyalität und Unterstützung fand, die sie gnädig honorierte wie ein bestechlicher Beamter in den öffentlichen Baudezernaten und schließlich mit ihrem schamlosen Willen zur Macht.
Sie hatte schweigen gelernt, was ihre Person anbelangt, kannte die für weiterführende und erfolgreiche Diskussionen notwendigen Versatzstücke von Bourdieu bis in die Unendlichkeit, und versagte ihr gerissener Intellekt, dann hatte sie entweder genügend Sozialkapital angehäuft oder sie beherrschte die unendliche zermürbende Beharrlichkeit der Verweigerung, und versagte auch dieses Talent, blätterte sie in ihren Dossiers nach zur Durchsetzung ihres Wollens geeigneter Tabubrüche gegen deutsche political correctness durch ihre Gegner. Dazu hatte sie Telephonaten gelauscht, heimlich Kassettenrecorder mitlaufen lassen, hatte auf den Schreibtischen ihrer Chefs und Mitarbeiter und selbst in den Papierkörben gewühlt und nicht zuletzt zwischen den Zeilen gelesen, zu allerletzt zu Lügen gegriffen, die sie im nächsten Augenblick wieder verdrängte, wenn der Betroffene sie zu spät, weil bereits gesagt, widerlegen konnte. So konnte sie auch rigoros die differenzierende, in den Nuancen nachvollziehbare Verteidigung des Vaters durch den Sohn rigoros verwerfen, wenn es galt, kostenlos und im Nachhinein noch Heidegger oder Erik Wolf zu vernichten. Was sie tat, hatte große Ähnlichkeit mit nicht justiziablen Insidergeschäften, und sie tat es keineswegs ungeschickter als Martha Stewart mit offener handfester Bereitwilligkeit, Aufgaben an sich zu ziehen und erfolgreich zu bewältigen, die den Kollegen lästig waren. Gleichzeitig war sie zur meist nicht erkennbaren Intrigue fähig, ihre Gegner oder nur Rivalen so zu vereinzeln, dass nie der Teppich sichtbar wurde, den sie knüpfte, bevor er nicht vollendet war. Und erst als letzten, wenn auch sich häufenden Ausweg mobilisierte sie ihre grenzenlose Hartnäckigkeit und begab sich dann in einen Zustand der Totenstarre, in dem sie zur Wahrnehmung ihrer schließlichen Torheit nicht mehr fähig war, um unvermittelt aus Jahrhunderte alter Erfahrung, dass Beharrlichkeit den Gegner auslaugt, zur scheinbaren Vernunft zurückzukehren.
Die Spielernatur Karls war dieser Konsequenz, wenn sie aufeinanderstießen, nicht gewachsen. Es fehlte ihr das Lächeln und der bewusste Mut zur Lächerlichkeit. Und, um es mit der Wahl von Waffen zu vergleichen, die Konsequenz und Hartnäckigkeit war schwerstes und unelegantes Geschütz. Aber keineswegs war Karl der einzige, den sie an sich zerschellen ließ. So mancher überschätzte sich in der Auseinandersetzung mit ihr, weil er die Truppen hinter ihr nicht erkannte und sich die treffenden Waffen leichtfertig aus der Hand schlagen ließ. So war es Professor Altmann ergangen, einem dieser strahlenden davongekommenen Achtundsechziger, der sich von seinem zugegebenermaßen brillanten Intellekt und aus der sich daraus ergebenden trügerischen Souveränität dazu hatte hinreißen lassen, ihren aufstrebenden Einfluß im Keime ersticken zu wollen, indem er einen offenen Brief an die gemeinsame Universitätsspitze schrieb, ihr Netzwerk der immer einflussreicheren Mittelmäßigkeit zu zerreißen. Er ließ sich verleiten, rechts und links der physischen Promiskuität und gegenseitigen Förderung zu verdächtigen, als habe er unter dem Bett gelegen und gelauscht. Das Ende war, dass er sich auf diesem Nebenkriegsschauplatz verteidigen und schließlich entschuldigen musste, so dass der klamme, zähe Aufstieg kein Thema mehr war, sondern weiterging und Inez Jentner, diese scheinbar unscheinbare Frau einen kaum mehr anfechtbaren Status erlangte. Wäre sie eine Ptolemäerin gewesen und als Nebengottheit mit einem granitenen Standbild im Tempel geehrt worden, wäre ihre von Acne zernarbte Haut nicht erkennbar gewesen, jedoch ihr oft und fast praxitelisches Lächeln. Auch spätere Versuche eines ungeduldigen Kollegen, in der Taz eine diffamierende Schmierenkomödie zu inszenieren, konnten ihr danach nichts mehr anhaben. Im Gegenteil verschob sich die Außenansicht derart, dass es selbst in einem sonst wohlwollenden Nachruf auf ihn hieß, er habe zu sehr das akademische Ränkespiel geliebt, obwohl er nur jedesmal zu unvorbereitet in die Schlacht geritten war. Sie glitt auf der Frauenschiene erfolgreich und strafend durch die Landschaft wie auf einem Hexenbesen, und alle, die zu bequem, nicht in Berlin gewesen waren oder glaubten, auf die üblich angenommene Weise aufsteigen zu können, konnten sich nicht vorstellen, dass die nächtlichen Sitzungen im Zwiebelfisch für eine Karriere so wichtig gewesen sein konnten. Sie verstand sich auf das Geschäft. Vor Dritten ging sie lächelnd auf ihre möglichen Feinde zu, um ihnen den Judaskuss zu geben, versuchte aber nie, sich der dreißig Silberlinge zu entledigen. Niemand, den sie nicht berührte, konnte verstehen, dass dies oft ein Todesbiss war, als schnelle der überlange Hals des Protorosauriers Dinocephalosaurus orientalis mit dem Kopf und dem Maul voller Reißzähne kaum sichtbar für sein Opfer hervor.
Erst als sie auf dem Höhepunkt einer begrenzten Macht angekommen war, aufgestiegen war zu einer der an ihrer Universität gehörten mitbestimmenden Stimmen, verlor sie die Machbarkeit und die notwendige Geduld ein wenig aus den Augen. Sie lehnte alles ab, was ihrer Machtbehauptung abträglich erschien, beanspruchte arbitrix Germaniae elegantiarum zu sein, Maßstäbe zu setzen wie der chinesische Kaiser in Kalligraphie, Malerei, Poesie und Wissenschaft, doch war sie nicht konsequent, weil sie die zunächst Verurteilten hinterher umarmte und bedauerte, als sei ein anderes Ich für die Vernichtungsaktionen verantwortlich. Zu viele ihrer Zwiebelfisch-Genossen hatte sie überdies gefressen, so dass ihr Flankenschutz schließlich geschwächt war. Sie hatte daraus gewonnene Pfründen anderer an sich gerissen und ein wenig das Augenmaß für das Mögliche verloren. Doch genügte eine einzige überlebende Zelle, damit sie sich wieder generierte. Und immer wieder, wenn er mit ihr zusammenstieß, fragte sich Karl, ob sie einen intellektuellen Kern besäße – oder nur ein dichtes Bündel von Instinkten sei und durch ihren Machtwillen die anderen gefügig mache.
Es war auf dem direkten Aufstieg zur Macht, dass anlässlich der Vorstellung eines Bandes mit osteuropäischen Quellen zu einem größeren Aufstieg in den zwanziger Jahren der Nowak eingeladen und geschmeichelt, wie es sich für halbe Prominenz gehört, nach Berlin kam. Er ahnte nicht, dass seine Wiener Parties mit seinen eigenen Reaktionen gegen Ende eben dieser mit Versteckspielen hinter den Sesseln „huhuhu, wo bin ich?“, ihn zum Samenspender in den Jentnerschen Planungen qualifiziert hatten und ihn zum zu verstoßenden Vater eines Ludwig-Friedrich machen sollten. Dass er sich hinterher mehr als elend fühlte und mental bis zu einer beschleunigten Demenz nur noch besoffen war, bedeutete nur, dass er sich für weitere Erfolge disqualifiziert hatte. Unter schriller Musik ging er mit gerötetem Gesicht und benebeltem Hirn in den Keller und kämpfte dort mit dem Teufel, dem er unterlag. Der kleine Ludwig-Friedrich wurde unterdessen zum Instrument des Frauseinbeweises. Und der Nowak? Irgendwie war er doch um die fünfundvierzig geworden, hatte seine Kindheitsträume und –erlebnisse gehabt und diese wieder vergessen, als die jeweilige Gegenwart immer wichtiger wurde. Er füllte bestimmte Maße in Zentimetern und Gramm aus, hatte seine unveränderlichen Kennzeichen, die ihn aber kaum wiedererkennbarer machten. Nach dem Ludwig-Friedrich gab es eine Wohnung, die von Unbeteiligten aufgelöst werden mußte, eine Monographie, die ein seltenes Mal von Studenten eingesehen wurde, die sich mit den finsteren Jahrzehnten Osteuropas beschäftigen mussten, er war eine Karteileiche in einem Kirchenbuch geworden und blieb für seinen künftigen Sohn eine unbekannte Gestalt. Das wäre sie wahrscheinlich auch unter anderen günstigeren Bedingungen geblieben, da Ludwig-Friedrich zwar etwa zwei Jahre lang den Inhalt eines bedeutsamen Körbchens bildete, das vor unterschiedlichen Konferenzräumen abgestellt wurde, mit dem man sich überdies in Krisen beraten konnte. Dann aber verschwanden Ludwig-Friedrich und sein Körbchen aus der Öffentlichkeit – eigentlich eine traurige Geschichte: Ludwig-Friedrich entwickelte sich niemals.
Nach ihrer Promotion wurde Inez Jentner zunächst Assistentin und machte sich ihrem ausländischen Professor unentbehrlich, erstens ganz einfach, weil er auch nach fast dreißig Jahren die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrschte, weil seine neuen Landsleute zu lange seine Wortwahl und seinen Akzent apart gefunden hatten und er seine Sprachmängel schließlich aus Koketterie internalisiert hatte, zweitens, weil sie gemeinsam das politische Spektrum der Universität kontrollierten, er konservativ mit Freundschaften im älteren unversitären Establishment, die er sich durch Koffertragen und Einladungen in seine alte Heimat erkaufte und indem er für seine Lebensgefährtin die abgetragenen Strumpfhosen der Präsidentengattin als huldvolle Gabe entgegennahm, während sie mit ihren Spartacusverbindungen und dem gemeinsamen Willen zur Macht das sogenannte linke Spektrum zu Solidarität zwingen konnte, wenn jemand von ihnen sich zu emanzipieren suchte.
So hatten beide im Verein mit Professor Gordon das Institut, den Fachbereich, die Universitätsverwaltung und –spitze kontrolliert und mit jedem Tag an Macht gewonnen und sich selbst befriedigt. Alle drei beherrschten die Verfahrensregeln perfekt und hatten sich in den anderen Gruppen der Universität Zöglinge herangezogen. Ein Weg führte mit Gordon über Betten, Küchentische und sommerlich nächtliche Wiesen, und diese Vertrautheit ließ, nachdem die Bereitschaft honoriert worden war, die entsprechenden Telephon- und Zwiebelfischzirkel in allen Bereichen der Universität entstehen. Andere Eitelkeiten wurden durch Promotionen oder Magistrierungen befriedigt. So erhöhte sich die Zahl der Doktoren mit verlorener Dissertation, der Magister aufgrund von Seminararbeiten.
In dieser Hinsicht waren alle drei sogar ein Genuss, neben den Professoren, die sich durch ihre zeitweilige Macht blenden ließen zu glauben, sie brauchten die Spielregeln nicht zu lernen und darüber untergingen wie ein katholischer Theologe, ein Kunsthistoriker und viele andere, meist Männer, weil ihnen die Beharrlichkeit der willensstarken mit Schlauheit gepaarten Dummheit fehlte. Man konnte von ihnen sagen, daß alle drei Talente hatten, um zusammen einen bedeutenden Menschen auszumachen.
Ja, so war Inez Jentner hinter und unter den Größen wie Otto oder Gordon groß geworden und hatte viele von ihnen hinter sich gelassen. Sie war unglaublich gut im schamlosen Lügen. Sie war weniger gut, auch wenn sie den Brustton der Überzeugung beherrschte, in einer inhaltlichen Diskussion. Unübertroffen jedoch war sie, wenn sie nicht gerade einen ihrer lähmenden Hassanfälle hatte, in politischen strategischen Spielen. Gelang es ihr, einen klaren Kopf zu behalten, spielte sie jeden, auch ihre Lehrmeister an die Wand, so wie sie ihren hauptsächlichen Mentor kalt und überlegt in die Rente kippte und seine Schuhe übernahm. Dessen ohnmächtige Rache versuchte es vergeblich mit Freunden in der überregionalen Presse. Die einzige Befriedigung, die ihm schließlich blieb, war, seine Bücher nach Erlangen und nicht an das ehemals gemeinsame Institut zu geben, in dem sie mehr als einmal gemeinsam ihre Gegner in Fliegerstellung einem höhnenden Publikum vorgeführt hatten.
In Einzelfällen reichte ihr Netz über Berlin hinaus, weil sie von Gordon gelernt hatte, mit unerfüllbaren Versprechen wie mit realer Gewissheit zu jonglieren, junge Leute zu kaufen, denen sie dann befehlen konnte, das Feld zu bestellen. Brach ein seltenes Mal jemand aus, strafte sie unerbittlich mit Liebesentzug, setzte ihn mit Enthüllungsdrohungen geschickt, kenntnisreich und mit Augenmaß unter Druck und wurde danach noch misstrauischer. Schien dieses Vorgehen immer noch nicht erfolgversprechend, stellte sie wahre Begebenheiten in unmögliche zeitliche Zusammenhänge, verstand, ihre Insinuationen so zu verwirren, dass das Opfer sich dennoch verfangen musste. Doch besaß sie weder das Fleisch, noch das Blut, noch die Lust großer Kaiserinnen – nie verbarg sie Münchhausen unter ihrer Krinoline. Sie hatte sich so oft im Spiegel gesehen, daß sie den Himmel nicht mehr sah.
Als sie starb, ob am n-ten Gehörsturz, durch heimlichen Mord eines ihrer vielen Opfer – nach den Spuren zu urteilen erschlagen mit einem Spaghettilöffel oder durch den Stich mit einer mit Polonium vergifteten Regenschirmspitze, weil sie ihre eigenen Abhängigkeiten und Verpflichtungen vergessen hatte und Enthüllungen welcher Art auch immer inzwischen in der Verjährung untergegangen wären, hieß es dennoch „nihil nisi bene“, doch das war viel später und zu spät. Tatsächlich gab es nach ihrem Tode polizeiliche Ermittlungen, weil zu viele von zu vielen Drohungen gehört hatten, in Kneipenrunden Aufforderungen und finanzielle Angebote an Kleinkriminelle erlauscht hatten. Und natürlich war sie in das Unglück von Gütersloh verwickelt. Dennoch gab es keine eindeutigen Kausalketten, vielmehr gab es zu viele Mörder und keinen Mord. Daher wurden die Verdächtigungen archiviert und vergessen.

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