Öffnung
Wieder war der Zugang Karls voller Schmerzen. In Wien hatte er an der Theke einer kleinen Weinwirtschaft gestanden, nicht weit von seiner Bleibe im XIV. Be-zirk. Auf seinen Wegen durch die Stadt – nach der ersten Tramfahrt hatte er seine Füße in die Hand genommen und ließ sie die Stadt erkunden – hatte er sie entdeckt. Die Schritte schluckten nicht genügend Zeit, während er zwei Tage darauf gewartet hatte, David anrufen zu können, der ihn bei seinen Freunden einführen sollte, damit er nicht so allein sei, so hatte David gesagt in Verkennung der Bedeutung der Augen. Solange er ging, ging Karl schneller als nötig, um so das Unbekannte zu überwinden. Vor Schaufenstern mit Öfen oder Malbedarf wurde er ungeduldig, ängstlich, die Zeit zu versäumen und ging weiter, bevor er die Ausstellungsstücke wahrgenommen hatte. Als ob er so den künftigen verabredeten Zeitpunkt versäu¬men könne. Fast unbemerkt war er nach planloser Wanderung in die Wirtschaft gelangt, nachdem er mehrfach vor ihr auf und ab spaziert war. Er glaubte, wenn er sie beträte, verstohlene Aufmerksamkeit zu erregen. Und so war er zahllose Male bis zu einer der häßlichen Vorstadtkirchen gegangen, häßlich, da 1890 noch nicht allzu weit zurücklag, hatte unzählige Male vor dem Schild einer Baugrube gehalten, wo die Kommune baute, Karl jedoch aus Mangel an Geduld nie wahrnahm, was. Schließlich stand er an der Theke und sah zunächst niemanden als den Wirt würfelspielend dahinter. Dieser griff ungefragt nach einer Weinflasche, füllte ein Glas bis zur österreichischen Hälfte, und Karl wagte gar nicht erst zu widerspre¬chen. Der Wirt kehrte zu seinem Würfelspiel zurück. Karl starrte die Flaschen¬hüllen entlang und bemerkte ein Photo des rufenden Berges mit einer Widmung. Das Glas war geleert und wurde nachgefüllt. Die daraus entstehenden Verpflichtungen gegenüber dem Wirt beruhigten Karl. Jetzt verlor sich der Makel, nur Laufkundschaft zu sein, und er wagte es, seine Umgebung und Bruchstücke der Unterhaltung wahrzunehmen. Es waren kaum Gäste da. Der Wirt würfelte mit einer üppigen, bunten Frau, die mit ihren gewaltigen Ohrgehängen sexuell anziehend war. Sie hieß Sonja und war ganz eigentlich unerträglich wie das Michelinmännchen. Zwei Männer beteiligten sich am Würfelspiel, von denen der eine im lokalen Fußballverein spielte, der andere Nachtportier in zwei Bars war, die Sonja gehörten, und der Sylvester hieß. Ein dritter junger Mann spielte in Abwesenheit eine etwas undurchsichtige Rolle in einem giftgrünen Porsche und als von Karl vermuteter Geliebter Sonjas. Als die Stimmung zu aufgeladen wurde, erzählte der Wirt von seinem Sohn, der ihm die Flaschen mit den Kerzen auf die Tische gestellt habe, den er viel zu selten sähe, da er nach der langen Nacht bis elf Uhr schlafe. Dann sei der Sohn in der Schule. Wenn er am Mittag die Wirtschaft öffne, käme der Sohn gerade nach Hause. Und schließlich war es tatsächlich Zeit, David anzurufen.
Dieser Nachmittag, zu dem David Katherine und Karl gebeten hat, zu dem auch Emma und als zweites noch fremdes Wesen Gertrud zugesagt hatten, war von David als rites de passage Karls intendiert. Karls Vater hatte nicht mit weißen Gamaschen am Nachtleben der zwanziger Jahre teilgenommen, er hatte keinen Onkel, der ihn mit sechzehn im Freudenhaus hätte initiieren wollen. Seine wichtigste Erfahrung war der Wohnzimmerteppich, auf dem er sich beständig, aber wahllos erahnend, irgendwann wissend durch die heimische Lektüre fraß, das Geflüster und die Prahlereien der Klassenkameraden als bloße Bestätigung des nur Gelesenen zur Kenntnis nahm.
Gertrud kannten David und Katherine eher flüchtig. Sie war etwa so alt wie David, eine vorsichtig gierende gebildete höhere Tochter mit enttäuschten Erwartungen, etwas üppig und erfüllt von naiver Freundlichkeit in der begehrlichen Hoffnung, diese möge einmal erwidert werden.
David erwartete sie. Katherine war die erste, die nach fünf Stockwerken, nur Juden und Verrückte rauchen bergauf, die Atelierwohnung erreichte, und alle haben wir etwas von einer Gertrud in uns. Sie freute sich, David wiederzusehen, so sehr, dass sie sich auf seine Verschwörungspläne einließ, auf sein Spiel einging, doch, wie er, den Ausgang ungeplant ließ. Es kamen Karl und nach ihm Emma. David zelebrierte seinen griechischen Kaffee, plauderte über Josephine und die Schweiz, sprang hinüber in seine kurze Kölner Vergangenheit, vielleicht noch etwas kritischer als in seinen damaligen Tagen, doch für Karl ohne weiteres wiedererkennbar. Denn es war dies das Verständnis von fairplay, das David besaß, niemanden auszuschließen. Katherine spöttelte mit ihm und erzählte Kuriositäten von gemeinsamen Athener Bekannten mit einer Neigung für Schwächen und verunglückte Situationen. Emma schwieg, oder, wenn sie etwas sagte, waren es nur Laute, die ihre Anwesenheit bekräftigten. Karl nahm sich zurück, lächelte wiedererkennend oder interessiert in der menschlichen Weise, wie Hunde einander kennenzulernen versuchen. Doch gleichzeitig warb er mit dauernden Selbstbespiegelungen wie seiner Zeit Sofronisba Anguiscola und meinte: „Ich bin immer so schüchtern.“ Auf diesen geschickt idiotischen Satz reagierte Katherine mit der Überlegenheit und dem Vergnügen der erwachsenen Frau: „Damit tust du den ersten Schritt, deine Schüchternheit zu überwinden.“ Dies brach tatsächlich ein wenig das Eis, und die Unterhaltung umfaßte jetzt alle. Karls Lachen hatte etwas so unbewußt Verlockendes, dass Katherine zu David meinte, er müsse eingeweiht werden, da er jetzt doch einer von ihnen sei. Gedankenlos fand Karl den Plan einen riesigen Spaß und Katherine sagte: „Wenn du nachher so charmant bist, verpatzt du alles.“ „Das wäre doch schön.“ Und Katherine hörte sich sagen: „Und du musst so tun, als seist du in mich verliebt.“ Karl hörte es auch.
Gertrud war, soweit es ihr Körper zuließ, gut gekleidet, was für sie nicht unwichtig war, man sah ihr so etwas wie Bogner an, mit einer fast natürlichen Dauerwelle, mit vorläufig eher nur angedeuteten Säcken unter den Augen, nur ein ganz klein wenig vermittelte sie den Eindruck, als wolle ihr Körper sich aus seiner diskreten Pracht heraussprengen. Aber es war noch nicht die Zeit, in der man sagen konnte: „ich liebe jede meiner Schwabbelstellen wie mich selbst.“ Und dazu das Dauergeräusch naiv erstaunter Plauderei mit recht heller Stimme. Und so glaubte sie auch, sofort Davids Wohnung in Besitz nehmen zu können. „Wie herrlich! Eine Idealwohnung! Wollen Sie sie nicht mir überlassen?“ Gertrud stürmte über die Begrüßung hinweg zum Fenster. – „Diese Aussicht! Sie verstehen nicht, sie zu würdigen! Um das zu können, muß man Poesie besitzen. Hier würde ich rauschende Feste feiern, nicht mehr studieren!“ – Seit zwanzig Jahren studierte Gertrud Kunstgeschichte und beschäftigte sich für ihre Dissertation mit der Typisierung chinesischer Keramik aus Banpo. „Ich würde leben!“ – „Trinken Sie Wodka?“ Und David goss allen ein. Er saß selbst auf dem Bett, Gertrud nahm den einen übriggebliebenen Sessel, im anderen saß Katherine. Emma und Karl hockten auf den Stufen der kleinen Empore vor dem Fenster. – „Kennen Sie Herrn Atat? – Wissen Sie es noch nicht? Ja, ich meine den Pianisten“ – Spielt man Triolen bei Brahms?. „Wissen Sie es nicht? Er hat Selbstmord begangen. Doch, ganz bestimmt. Ich weiß es von seinem Bruder.“ Gertrud hatte einen ernsten intelligenten Gesichtsausdruck. Es war ihr wert, dass sie etwas vor den anderen wusste. Das galt auch für den Slibowitz, den sie in der Bognergasse für nur 35 Schilling den Liter kaufen konnte. So lag ihr ernstes Gesicht nicht allein an der berichteten Tragödie, auch wenn dies kein abendfüllendes Programm sein konnte, sie wusste etwas und vertrieb sich und den anderen eine Stunde mit Überlegungen über den Selbstmord. Nach drei Wodka mußte sie wieder die Aussicht bewundern, was in dem kleinen Raum eine eher größere Unruhe verursachte.
David ließ zunächst die Dämmerung und schließlich die Dunkelheit den Raum besetzen. Mit den Fingern konnte man die Gläser ertasten und gefahrlos füllen, indem man mit einem Finger den Pegelstand maß. Wie auf einer Reise nach Jerusalem wechselte man die Plätze. Gertrud schloß sich David auf dem Bett an, Emma übernahm ihren Sessel, und Karl und Katherine – so meinte Karl – entzogen sich der Gemeinschaft auf den Treppenstufen der Empore, zunächst als ausgeschlossene Betrachter der Welt unter ihnen, indem sie einander zu ihren Vertrauten machten. Doch zurückgezogen hatte sich nur Emma, gleichsam in den Mutterschoß, wo sie die Unbequemlichkeiten des embryonalen Stadiums spürte. Daran erinnerte sie sich, wenn ihr linker Arm zu schmerzen begann, wenn sie spürte, dass ihr großer flächiger Körper keinen Platz mehr im Raum zu haben schien und Reste der Placenta ihr glattes schwarzes Haar verklebten. So verfiel sie in abwesende Schweigsamkeit.
Das Gespräch und Getuschel beschränkte sich auf den Nachbarn. Katherine wollte Karl provozieren. Er war so viel jünger als sie, so bewusst seiner physischen Sperrigkeit, fühlte sich selbst und den anderen im Wege. Doch der leicht spöttisch wohlwollende Beschützerinstinkt Katherines verwandelte sich nach kurzer Zeit in den Wunsch, beschützt zu werden. Der erste Schritt dorthin war, Karl aus seiner Rolle als Mitopfer der Verschwörung zu befreien und ihm scheinbar amüsiert zu erzählen, daß David und sie geplant hatten, Gertrud dazu zu bringen, sich eine Blöße zu geben. So flüsterte sie und gewann damit Karl, der dennoch noch nicht seine Buchdeckel verlassen konnte, sich auf den mörderischen Gesualdo kaprizierte im Wunsch, der Floh zu sein auf Katherinens Brust, nicht einer der vielen in der Renaissance. Doch half die Dunkelheit, und seine unkundigen Hände begannen, auf duldendem Terrain zu wandern, normalisiert durch Bemerkungen und Lachen, um jederzeit ohne Gesichtsverlust sich trennen zu können und unbefangen einander wieder zu begegnen. Die besondere politische Beziehung war vollkommen, als in den Gesprächsfetzen der künftige Stern der österreichischen Ostforschung auftauchte, der Professor Nowak.
Der Zustand unausgesprochenen Glücks zerbrach, als sich Gertrud nackt und schluchzend an ihnen zum Fenster vorbeitastete und hinausspringen wollte. David folgte im gleichen Zustand. Katherine und Karl halfen auch, und Gertrud konnte von einem Sturz in die Nacht abgehalten werden.
Karl traf Gertrud einige Jahre später wieder. Ihre Typologie hatte sie erfolgreich beendet, doch sie war immer noch auf der Suche, älter geworden, voller vergeblicher Sehnsucht und süßtrauriger Erinnerungen, so hockten sie über einer Flasche Wein in der ererbten elterlichen Wohnung, und Karl wurde veranlasst, zwei Dutzend Austern zu öffnen. Sie sprachen behutsam über bescheidene Gemeinsamkeiten. Gertrud wurde gerettet.
Katherine, Emma und Karl aber verabschiedeten sich und wanderten durch eine Wiener Märznacht zur Herrengasse, erfüllt von unberechtigtem Gelächter, das Herz voller unerfüllter, weil unausgesprochener Versprechungen, jedoch mit der Preisgabe der Telephonnummer. In Anlehnung an den bengalischen Freund wanderte Karl weiter durch die Nacht und schlich sich glücklich verwirrt in den frühen Stunden des Morgens in sein Zimmer bei seinen Leuten im 14. Bezirk.
Als er am Vormittag die ihm von Katherine gewährte Nummer anrief, war sie zwar noch da, hatte jedoch für ihn an den beiden nächsten Tage keine Zeit. David mußte sich wieder Josephines annehmen. Gut, Karl würde sich in einigen Tagen wieder melden. So leicht war die Welt, die er sich seit der letzten Nacht aufgebaut hatte, wieder eingestürzt. Norditalien und Frankreich rückten näher. Er packte seinen Koffer, erstaunte mit Maßen – doch sicherlich erleichterte er sie auch – seine wohlwollend gleichgültigen Gastgeber, die ihn schließlich nur seinem Vater zu Liebe aufgenommen hatten, als er ihnen mitteilte, dass er seine Zelte ihn Wien abbrechen werde. Er blätterte im imaginären Stapel väterlicher Empfehlungsschreiben, traf eine mißverstandene Verabredung und fuhr mit dem Zug nach Halbthurn.
Nie war ihm der Koffer so im Wege, als er auf dem Bahnhof dort zum Tee abgeholt wurde. Tausend Mal entschuldigte er sich dafür, dass er ein so unförmiges Gebilde mit sich herumschleppe, aber er wolle am Abend weiter nach Eisenstadt. Er konnte doch nicht sagen: „Wir behausen jeden Gast, und wenn er zwischen der Trockenwäsche schlafen muss.“ Mit dem Herrn des Hauses durfte er den Grund und Boden in der weiter oben beschrieben Weise abschreiten. Mit ihm und der Dame des Hauses den Tee aus zarten Tassen zusammen mit trockenem Gebäck nicht nur in einem kontinentalen Salon Jane Austens, sondern auch in der formellen Art eines ersten und in diesem Falle einzigen Besuchs einnehmen. Die Dame des Hauses betrieb Konversation, und so begann Karl eine parallele Reise durch die Architektur Hildebrandts, doch seine Torheit hinderte ihn daran, diese Lebensweise eines konzilianten Besenstiels von außen zu genießen. Hier auch erlebte er zum ersten Mal die demokratischen Züge des osteuropäischen Feudalismus, das merowingische Verwandtschaftsnetz des Erzhauses, den Handkuss einerseits und die Vertraulichkeit mit der Dienerschaft, die Gleichberechtigung im täglichen Leben, während das Charisma der Geburt eine ganz andere Kategorie war. Nicht entscheidend war, dass man Namen fallen lassen konnte, man kannte einander.
Er nahm den Bus nach Eisenstadt, fand ein Zimmer im Gasthaus mit dem Türkenkopf – ein vor Entsetzen versteinerter Belagerer Wiens – dem Schloss gegenüber, hockte allein in der Schankstube, kam sich nicht speziell verloren vor, sondern war entschlossen, dass man mit sich selbst zufrieden sein könne, vielleicht eine Sternstunde seines Lebens, aber kaum eine Erkenntnis zur Förderung der Soziabilität. Am nächsten Tag und für alle Zeit blieb ihm nur der kleine Pavillon im Schlosspark in Erinnerung, denn nicht nur tat er die ersten Schritte in Richtung Pannonien, sondern wanderte zwei Tage nach einander an diesem Pavillon vorbei ins Leithagebirge einmal nach Loretto, als er noch nicht wusste, dass das berühmtere in Italien lag, einmal fast bis nach Wiener Neustadt. Es hätte der Teutoburger Wald sein können mit Markomannen hinter jedem Baum, und sein Gehirn wurde eins mit den Füßen, und diese fütterten die Augen mit sich immer wiederholender Schönheit. Jeden Abend, vier Abende lang, saß er in der gleichen Schankstube, erfuhr den Geschmack kleinstädtischen Essens und trank Ruster Wein, lange vor einem entdeckten Glykolskandal.
Ähnliche Wanderungen folgten später, entlang Offa’s Dyke auf der Grenze zwischen Phantasie und realem Überleben, von Minden nach Osnabrück zwischen den römischen und germanischen Schlachtreihen, auf dem Ausonius-Pfad durch den Hunsrück und schließlich von Mainz nach Fulda, um den schlecht balsamierten und allmählich stinkenden Leichnam des Bonifatius noch einmal zu geleiten, immer allein, weil die zufälligen Partner die Strecken mörderisch fanden, noch mörderischer, wenn man auf den Spuren seines Schülers Sturm zu Fuß bis in die Diemelgegend vorstieß Dies waren doch Wege, auf denen man zueinander zu finden hoffte, und doch wurden sie zu nie erfüllten Hoffnungen des Gleichklangs.
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