Erinnerungen III
David eroberte sich nach vielen Monaten Abwesenheit Wien zurück, ging am nächsten Mittag, nachdem von seiner Seite die Nacht mit Gertrud zur Normalität erklärt und gemacht worden war – und Gertrud wußte, dass ihre suchende Seele in einer von ihr eigentlich gewünschten Szene nur noch größeren Schaden genommen hätte – allein zur Fini in die Seilergasse, sich umsorgen zu lassen, nicht zuletzt wegen des Mohnkuchens zum Dessert, und um Bekannte und bekannte Gesichter zu treffen vom Qualtinger bis zum Vater des doppelten Lottchens und dazwischen den Herrn Roemer, den Eberhard, sehr dezent gepudert mit seidenen schwarzen Socken, der heute seinen zwanzigjährigen engagierten und ernsthaften Neffen im Schlepptau hatte. Dieser wiederum hatte noch nie einen eindrucksvolleren Film gesehen als den Tanz auf dem Vulkan, den Nevil Shutes noch Überlebende am letzten Ufer aufführten, also nicht Ariane als Elisabeth Bergner oder Audrey Hepburn, ganz zu schweigen von den Filmen Marcel Carnés und René Clairs oder etwa Cocteaus. Er war in dem Alter, in dem man auch damals und immer die Welt kritisiert und verbessern will, so, als ob er keine Geduld hatte, auf die ernsthaften Jahre nach 1968 zu warten.
Die Mittagsstunden unter dem Regiment der Fini waren ein wunderbarer Einstieg in Wiener Klatsch. Die wichtigste Regel bei Fini war, einander nur nette Sachen zu sagen, bei dem Schauspieler den letzten Auftritt zu loben, bei einer alten Dame ihr Aussehen und David, nachdem er so lange weg gewesen war, zu sagen, wie sehr man ihn vermißt habe. Die große böse Welt verlor hier ihre Gefährlichkeit, auch wenn man dem anderen nur durch kleinste Handreichungen gefällig war. Verirrte sich ein Fremder hierher, wurde er nicht hinausgefroren, doch verstummte das Gespräch von Tisch zu Tisch. Man grüßte einander nur mehr verschwörerisch und verschob seine Güte auf einen günstigeren Augenblick. Alle hier schätzten David und er sie, und viele von ihnen waren seine Freunde, deren er auf seinen Reisen gedachte, indem er denen, deren Besonderheiten er kannte, Honig vom Hymettos, Genever aus den Niederlanden oder die Beschreibung des Gefängnisses des Marquis de Sade mitbrachte.
So war er gewappnet, als er am Nachmittag Nora im Kellergeschoß des Familienpalais aufsuchte, beide eher gutmütig spöttelnd – ganz kurz – über Karls Familie, kurz das jeweilige familiäre Umfeld mit seinen Veränderungen andeutend, um dann die aus einer engen Beziehung gewachsene vertraute Freundschaft zu genießen. Aus dem Entlein aus Böhmen war vielleicht nicht ein Schwan geworden, doch eine charmante und aparte reife Frau, die seit langem von ihrem sich meist lächerlich machenden, den verlorenen slowenischen Gütern nachjammernden Mann getrennt lebte, deren Sohn erwachsen und deren Tochter in einem Internat am Bodensee – wem bist du zugesprochen? – aufgehoben war. Sie selbst versuchte sich im Kunstgewerbe, arbeitete mit Metallapplikationen, verkaufte in dieser Zeit Espressomaschinen mit kurzer Halbwertzeit und war nicht nur qua Abstammung ein vollwertiges Mitglied der Wiener, vielleicht sogar internationalen Gesellschaft. Sie glitten durch ihr Gespräch und genossen ihre Unbefangenheit. War es vielleicht die gemeinsame epirotisch-venezianische Herkunft? Auf jeden Fall machte die Wiederaneignung Wiens wunderbare Fortschritte.
Außer David gab es eben auch Emma, die neben Kathrine saß und sich in sich zurückgezogen hatte, als sie spürte, dass dieser nichts an einer Diskussion lag. Mit ihr war Katherine, nicht ganz vorbehaltslos, wohl wirklich befreundet. Auch sie hatte in Athen gelebt, aber in anderen Kreisen verkehrt, da ihr Vater Industrieller war, und so war dies kaum der Hauptgrund für ihre Freundschaft. Emma war ebenso alt wie Katherine – mein Gott! 24 Jahre, aber wegen Krankheit hatte sie die Schule viel später beendet. Sie hatte Katherine in der Universität angesprochen, als diese sich für Psychologie einschrieb. Emma war hilflos umhergeirrt, weder der bürokratischen Maschinerie gewachsen noch klar darüber, was sie denn studieren sollte, und sie hatte sich von Katherine verführen lassen.
Nachdem sie am ersten Tag zusammen Kaffee getrunken hatten, das heißt, Katherine hatte sie am hellichten Vormittag zu einem Slibowitz überredet, entschloß sie sich, ebenfalls Psychologie zu studieren, da es ja doch egal war, was man machte. Hätte Katherine etwas anderes gemacht, wäre ihr Emma gefolgt, denn von ihrer Seite war es Liebe auf den ersten Blick, die zarte Gestalt im Vergleich zur eigenen Schwere, die Beweglichkeit im Vergleich zur eigenen Langsamkeit, die gleichgültige Effektivität im Vergleich zur eigenen Ratlosigkeit, die dauernde Bereitschaft zu sanftem Spott, der nicht mehr schmerzte als eine Liebkosung.
Entgegen der Realität wirkte Emma keineswegs unbeholfen, zwar langsam und von wohlproportionierter Übergröße, man hätte sie nicht für unselbständig oder entschlußängstlich gehalten. Sie hatte in all den Jahren, die Katherine sie jetzt kannte, immer in einer Pension gewohnt, was für Katherine viel zu teuer gewesen wäre. Es war aber weniger das Geld, sondern die Verwunderung darüber, wie wenig Emma von ihrer Umgebung abhängig war. Diese war ihr gleichgültig, sollte neutral bleiben, keinen Augenblick sollte auch nur der Anschein einer Beziehung entstehen. Mit Absicht schien sie alle Bemühungen darauf zu verwenden, dass ihre Persönlichkeit nicht bemerkt werde. Auch Katherine verschwendete keine Energie darauf, die von ihr gemieteten Zimmer zu verändern, sondern lebte zwischen Koffern und ihr nicht gehörenden braunen Möbeln, aber man konnte merken, dass gerade sie hier lebte, Dinge sammelte, die jeden Zimmerwechsel zu einem veritablen Umzug werden ließen, Bücher, düstere Bilder, auf denen Orpheus ohne Zuhörer spielte, Schallplatten oder irgendwelche, möglicherweise schönen Dinge.
Auch die Art wie sich Emma gab, schien unabhängiger als sie wirklich war. Ihre Bewegungen und Handlungen schienen allein auf sie selbst konzentriert zu sein, solange man sie nicht mit Katherine zusammen sah und dann spürte, wie sehr diese der Mittelpunkt Emmas war. Katherine bestimmte, ging voran, dachte für beide, brachte Emma zum Lachen und ließ sie Dinge tun, die sie vorgetan hatte. Das einzige, was Katherine ihr zum Leben wirklich hätte geben können, ihre konzentrierte Arbeitsweise, versuchte Emma vergeblich nachzuahmen, weil sie immer wieder abschweifen mußte zu sich selbst oder zu Katherine. Sie hatte nicht nur einen Menschen gefunden, den sie liebte und kopierte – war sie eine Ida Baker? – sie hatte auch einen Menschen gefunden der diese Liebe in Form von Fürsorge annahm, und so wurde sie für Katherine zum Schutz gegen ihre Anfälle von Einsamkeit und Angst.
Nach langen Nächten kam sie am nächsten Morgen, half ihr mit Handreichungen, sich für den Tag zurechtzufinden, auch wenn es nur mit Nescafé aus dem Boiler war oder mit einem Strauß gelber Blumen, weil gerade heute ihr gelb so gut gefiel. Manchmal behielt sie Katherine auch über Nacht in der Pension, wenn sie nach einer turbulenten Nacht nicht mehr allein sein konnte.
Emma akzeptierte auch David, und sie drei gehörten zusammen gegen die große Welt. Manchmal mochten äußere Beziehungen stärker werden, die Liebschaften Davids konnten ihn manchmal weit entführen, aber untereinander hatten sie zu einem entspannten Verhältnis gefunden, in das man Gefühl und Leidenschaft hineintragen konnte, darin Auslösung oder Bestätigung fand und Kraft schöpfte, um wieder in das Leben hinauszutreten. Gelegentlich wurde jemand zeitweilig aufgenommen. Doch wie hatte sie die Liebe Emmas erwidert? Einmal hatte sie sie geküßt, zu sich ins Bett genommen und sofort wieder hinausgejagt.
Als Anna aus der Jugendzeit nach Wien kam, erkannte Kathrine nur für Augenblicke die großzügige, selbstverständliche Anna von früher wieder, aber nur in Nebensächlichkeiten, auf dem Bahnhof im Umgang mit dem Gepäckträger oder zum Kellner in einem Restaurant. Dann trumpfte sie unnötig auf.
Ohne krank zu sein, trug sie Spuren am ganzen Körper eines zu hastigen Lebens. Sie war hochgewachsen mit starken Knochen mit der Eleganz eines kräftigen Tieres. Jetzt war sie unkoordinierter in ihren Bewegungen und ihre Knochen schienen aus der menschlichen Hülle herauszustoßen als seien sie mehrfach gebrochen. Die physischen Veränderungen ließen Katherine an Jan denken. Sie war in vielem genau wie früher, rebellisch und unkonventionell, als Schulmädchen imponierend für die Altersgenossinnen. Sie glaubte noch immer schockieren zu müssen mit dem, was bei einem Schulmädchen damals schockierend gewesen war, doch wirkte sie dadurch nicht einmal mehr rührend malplaciert, sondern der früher jugendlich intelligente Protest war nun geschmacklos und peinlich.
Sie waren vom Bahnhof zu Katherine gefahren, in das Zimmer im Hochhaus mit einem Fenster auf einen der vielen Innenhöfe, deren überwältigende graue nur durch wenige Rituale gegliederte Einsamkeit so fesselnd sein konnte. Um dem Zimmer Leben zu geben, verstreute Anna ihre Sachen, breitete Höschen und Hemdchen aus, in der vordergründigen Annahme, eine verrucht provokante Atmosphäre schaffen zu können, und Katherine war innerlich immer trauriger geworden. Anna war auf wenige menschliche Empfindungen und Handlungen reduziert. Selbst wenn Anna von ihrem Beruf als Femdenführerin erzählte, erfaßte sie nur Nichtigkeiten und hinfällig gewordene scheinrevolutionäre Akte.
Als Anna ihre Sachen verstreut hatte, nahm sie einen Schlüpfer hoch: „So habe ich es auch im Zug gemacht, o Gott, wie waren die Leute erschrocken. Sie haben nicht einmal protestiert. Es war urkomisch. Als ob ich damit meine Nacktheit zeigte.“ Ihr Gespräch handelte von männlichen Erlebnissen und intimen Taten. Katherine schwieg und hatte von Anfang an genug davon. Stattdessen hatte sie David angerufen, ihn gebeten, zu ihr zu kommen, um Anna kennenzulernen, sie hatte nicht gesagt, um sie von ihr zu befreien. Und als David kam, der ordentliche David, der über sich selbst so leicht zu erröten verstand, konnte er viel leichter auf Annas Text und Melodie reagieren, ihre Unterwäsche bewundern, sich fast als Trinker ausgeben, um ihr zu gefallen.
Sie hatte beide losgeschickt, um ein Zimmer für Anna zu finden, selbst war sie zurückgeblieben mit dem Erlebnis Annas zur bloßen Geste erstarrten Wildheit. Abends wollten sie dann gemeinsam essen gehen. Später rief Anna an und beauftragte sie, zuerst bei David vorbeizukommen und ihre Reisetasche mitzubringen. Die Frage, ob sie ein Zimmer gefunden hätten, wurde mit Lachen beantwortet. Als sie kam, lief Anna mit Shorts von David und in einem seiner Hemden in der Wohnung herum. David badete wieder. Es war nicht wert gewesen, es zu bemerken, aber es hatte sie gestört, weil David ungeschriebene Spielregeln verletzt hatte.
Anna hatte inzwischen über sie hinweg den restlichen Tag organisiert. Ein Freund Davids hatte angerufen – ausgerechnet der Professor Nowak, um sie zu einem Fest mit Dorka und Metze einzuladen, und David hatte sich leicht von Anna überreden lassen, dass sie alle drei hingehen sollten. Außerdem wollte sie vorher großartig essen gehen. Das war nicht mit Schwierigkeiten verbunden, denn David kannte die meisten Kellner Wiens, die es verstanden, ihn mit Herr Graf anzureden, nicht nur, aber auch, weil er gern einfließen ließ, dass seine Mutter eine venezianische Gräfin gewesen sei. Katherine trug fast immer ihr graues Kostüm und wechselte nur zwischen einem noch dunkleren Pullover mit Schalkragen, der damals gerade Mode geworden war und einem glatten grünen Pullover. Die Sicherheitsnadel, mit der sie den defekten Reißverschluß ihres Rockes am Platz hielt, sah man nicht. Und wegen ihrer Kleinheit trug sie ziemlich hohe Absätze, die ihren schlanken Körper auffälliger machten. Mit Anna konnte sie nicht konkurrieren, die nur ein enges einfaches schwarzes Kleid in ihrem Gepäck hatte, dazu schwarze Jourdan-Schuhe und auf dem glatten Kleid einen schweren Modeschmuck aus aneinandergereihten rotglasierten Tonplättchen. Sie steckte ihr Haar hoch und befestigte es mit einer großen Emaillebrosche, benutzte gleichartige Clips und feierte eine Schminkorgie.
Danach wandelte David stolz neben Anna, die ihn durch Absätze und Frisur noch machtvoller überragte und sonnte sich in der Gewißheit, dass er kurz vorher diese mächtige Tigerin überwältigt hatte. Unscheinbar klapperten Katherines Schuhe neben ihnen her. Sie waren in den Coq d‘Or gegangen, waren dem wiedererkennenden Haushofmeister zu einem schönen Tisch gefolgt, hatten das Ritual der Essensempfehlungen und der Diskussion über dessen Zusammensetzung durchlaufen, und Anna hatte als einzige von ihnen bis zu einer Mousse au chocolat durchgehalten. Danach waren sie zu Professor Nowaks Fest gegangen. Es war eines dieser mittelfeinen, üblich gewordenen Feste gewesen, und Professor Nowak hatte sie im dunklen Anzug und buntem Schlips mit einem Glas Wodka und gedämpftem Licht empfangen.
Seine Wohnung war Ergebnis seiner östlichen Interessen, seiner russischen und sonstigen slawischen Sprachkenntnisse, seiner politischen und akademischen Meriten. Er liebte schon damals den frühen russisch-sowjetischen Konstruktivismus. In Anlehnung daran war seine Wohnung eingerichtet, und an den Wänden hingen gerahmte Umschlagblätter aus den frühen Jahrgängen der „UdSSR im Wiederaufbau“. Für sein Fest hatte er die strenge Ordnung durchbrechen müssen, Matratzen und Küchenstühle ergänzten die normalen wenigen strengen Sitzmöbel. Nach einer überschwenglichen Begrüßung mit Handkuß für die Damen, die jedem Gast für einen kurzen Augenblick die Illusion schenkte, man sei die Hauptperson, wurden sie getrennt, placiert und vergessen.
Trotz ihrer Bedeutungslosigkeit im Leben Katherines ließ sie die Gäste noch einmal Revue passieren, noch einmal den kleinen Peter, der seine Mutter mit traurig hungrigen Augen verfolgte, wenn man ihn ansprach, kein anderes Thema fand als eben seine Mutter. Dann die Renate, die sich als Mäzenatin aller aufstrebenden männlichen Künstler Wiens fühlte, weil sie einmal in der Woche mit einem Bohneneintopf Salon hielt und behauptete, alle in sehr persönlicher Weise zu kennen. Davids venezianische Mutter imponierte ihr so sehr, dass sie eine Verbindung zu ihrem Besuch in Venedig im vergangenen Jahr herstellte. Bereits prominent war der Kabarettist Franz, der durch die Veröffentlichung einiger Sketche und Schallplatten eigentlich sogar weltberühmt war. Prominent waren sie alle, denn nach mathematischer Wahrscheinlichkeit war die Zahl der Gäste groß genug, ganz Wien zu kennen und ein wenig darüber hinaus. Der Nabel der Welt ist das Ich, auch im Bug eines Ausflugdampfers, Psalmen lesend gegen den ohrenbetäubenden Lärm der Schrammelmusik in Erinnerung an parallele Zeugungsakte in Hotelzimmern, der eine David, der andere Salomo.
Katherine konnte nicht behaupten, dass ihr das Fest vollkommen mißfallen hätte. Es war eher langweilig gewesen, ein wenig geschmacklos, ein wenig zu deutlich in der Anlage, und dennoch beneidete sie die meisten der Gäste. Unterwegs hatte ein Julius ein paar Mal versucht, stehen zu bleiben, dann aber unvermittelt begonnen, von zu Hause zu erzählen. Natürlich begann er mit seiner Großmutter Katharina, die mit im Hause lebte. Er stammte von einem Bauernhof und wenn ihm Wien auch nicht gerade gut getan hatte, so spürte man doch, dass er mit vielen natürlichen Träumen lebte, wenn er das nicht einmal so alte Haus beschrieb, das sich so vollkommen den Bergen angepaßt hatte, dessen Holz durch Sturm, Schnee und Regen bald selbst wie verwittertes Gestein geworden war. Es waren nicht so sehr ferne Kindheitserinnerungen, sondern seine immer noch bestehende Zugehörigkeit zu einem Ort und zu den Menschen, mit denen er verbunden war. Nur seine Großmutter konnte er in ihrer schwarzen Kleidung beschreiben, nur seine Mutter hatte diese dünnen strähnigen Haare, die gerupft und so verehrungswürdig ausschauten.
Er hatte sich in eine unsentimentale Begeisterung hineingesteigert, die seine übliche Schwerfälligkeit verschwinden ließ, und Katherine wurde von einer körperlosen neidvollen Sympathie erfaßt, nicht fähig zu sein, ebenso unbefangen die Schönheiten ihres kretischen Dorfes wieder zum Leben zu erwecken. Nicht ihre Mutter, aber der Vater und seine heimische Umgebung waren böse und zerstörerisch gewesen. Oder litt sie unter einem Sean O‘Casey-Syndrom, wenn selbst Anna ihrer Kindheit und Jugend heute lichtvolle Momente abgewinnen konnte? Oder hatte Julius lediglich alle finsteren Seiten von Sodomie bis zu tödlichem Haß vergessen, den Zugereisten, der in den Lehmboden gedrückt und erstickt worden war oder den Zugereisten, der allein aus diesem Grunde als Schuldiger ausgemacht wurde?
Ihre Reaktion auf seine Erzählungen hatte sie verleitet, sich mit einem innigen Gefühl von ihm zu verabschieden, ihn aufzufordern, sie anzurufen, sie seinem Bruder vorzustellen. In ihrem Zimmer kehrte sie zu ihren Zweifeln zurück.
Trotz ihrer sonstigen Neugier war ihr nicht Inez Jentner aufgefallen, auffallend genug in ihrer verbissenen Unauffälligkeit, grau wie eine schmutzige Wand mit Pickeln wie zerquetschte Fliegen auf eben dieser, voller Haß auf eine schönere, törichtere Welt, die später einmal in einer Nacht den Nowak zum Vater ihres Sohnes und sich selbst für einen Augenblick zur Frau machen würde, als sie den Nowak in sich hineinzwang, ihn wie ein Gollum, mit derselben Erinnerung an mögliche schöne Augen, mit Armen und Beinen gefesselt hatte und den letzten Tropfen aus ihm herausdrückte. Sie ließ ihn hineingleiten und verdaute ihn dann.
Damals studierte sie noch, zunächst in Wien, Germanistik und Soziologie, war Mitglied der sozialistischen Studentenvereinigung Spartacus, reaktionär bis auf die Knochen, voller Zielstrebigkeit, die Welt und nicht nur den Nowak sich zu unterwerfen, sie klein und schäbig erscheinen zu lassen, blutleer wie sie selbst. Vielleicht war Gott doch eine Frau, die Welt nach ihrem Bilde zu schaffen. Im Innern haßte sie die Welt, die in ihrer Heiterkeit den Ernst des Lebens vergaß. Und doch wollte sie sie erobern mit der sichersten Methode seit Anbeginn der Gesellschaft, mit der immer wiederholten Bereitschaft, da zu sein, zur Verfügung zu stehen, an der klügsten Nacht des Jahres teilzunehmen, dem sichersten Weg, den gläubigen Satz, den Anfängen zu wehren, zu falsifizieren. Ihre Unscheinbarkeit war nicht zwingende Folge ihrer sozialen Herkunft. Ihr Vater war ein anerkannter und geachteter zwar, aber in ihren Augen doch nur kriechender Arbeiter in der Merkelbachschen Manufaktur in Höhr-Grenzhausen, das die kleinkarierte Bezeichnung Kannebäckerland damals noch nicht verloren hatte. Der karge Westerwald spiegelte sich minus der Phantasie auf ihrer Seele, ein Grund, bis zum Lebensende Unterprivilegiertheit als immer zu bekämpfenden Zustand zu verstehen, gefesselt zu sein in ihrem Status, der doch nur Ausfluß ihrer eigenen Begrenztheit war. Anstatt nach Barmen auszuwandern wie es viele Nordhessen getan hatten, um in ein ihnen angemessenes religiöses Umfeld zu kommen, war der Urgroßvater in den Westerwald gezogen und pflegte hier in Isolation seine pietistischen Wurzeln, und noch der Vater war aus dem gleichen Holz geschnitzt, und alle hatten ihnen angemessene, scheinbar unterworfene Frauen geheiratet. Die Schwere der Generationen hatte sich auf das Gemüt von Inez Jentner gelegt und ihre eh dürre Seele von Kindheit an verfinstert – daher sprach sie auch von ihrer Kindheit als sozialem Konstrukt, obwohl es eine vague Ahnung in ihr gab von einer heiteren Welt, die aber nicht herauszukommen wagte. Und so kämpfte sie sich von Jahr zu Jahr durch die Schule, verbissen schweigend gegen die Schule, gegen den kargen Kirchenraum und schließlich gegen die Religion ihrer Väter, erfand, sobald sie den Westerwald verlassen hatte, eine Zigeuner-, nein Sintiabstammung und erklärte damit ihren entrechteten Status, den sie gegenüber der Welt einklagen konnte. Sie verdrängte, dass sie dennoch nicht über den zweiten Bildungsweg sich den Erfolg hatte erkämpfen müssen und verfremdete ihre fraglos bescheidene Kindheit. Sie sperrte sich gegen die Sonne, die manchmal schien, gegen die Vögel, die manchmal sangen, gegen die Schönheit von hellroten Himbeeren am Wegrain. Sie bemerkte nur das schmerzhafte Licht, die irritierenden Gewohnheiten der Vögel, die Dornen, das spröde Unterholz – es war eine zu korrigierende manipulierende Welt, doch besaß sie daneben eine praktische und böse Intelligenz, die sie sicher durch die Schule führte, durch das Gymnasium in Vallendar bis zur Universität, dann möglichst weit weg von allem, was sie hätte wiedererkennen können. Wie sie ihre Herkunft fälschte, fälschte sie das Verhalten der Umwelt zu ihr. War ihre Betroffenheit nicht groß genug, wurde sie ihr eigener agent provocateur, um am nächsten Tag gegen die ungerechtfertigten Anfeindungen zu protestieren und erzeugte damit eine widerwillige Sympathie, die ihr weiter und weiter half, fort aus dem Kannebäckerland in eine Welt, in der sie fortgesetzt und oft erfolgreich sich bemühen konnte, Unheil anzurichten. Trotz des Widerwillens und wegen des Mitleids hatte sie immer Erfolg. Sie spielte die Karte der Frau und trug die Emanzipation der späten sechziger Jahre bis in die Gegenwart, obwohl sie ihren Körper gehaßt hatte seit sie sich seiner bewußt geworden war, der Entwicklung ihrer Brüste und der Haare zwischen den Beinen. Sie hatte diesen Haß sublimiert, wider besseres Wissen zur Formel gefunden „wenn die Pflicht ruft, muß die Liebe weichen“ und diese zu ihrem Nutzen gewendet. Nicht umsonst hatte sie sich von der bourgeoisen revolutionären Clique nur am Rande berühren lassen, denn alles diente nur der Durchsetzung einer neuen Person, die Kleinbürgertum, Religion und Region hinter sich gelassen hatte, es jedes Mal verstand, die Vergangenheit verschwinden zu lassen. Doch hatte sie nie sehen können, dass die Macht der Frauen auch eine Geschichte hatte, weil Boucher und Fragonard sie nie als Modell gewählt hätten oder nur gegen exorbitante Bezahlung. Der Realismus der Herzogin von Burgund war ihr fremd und unbekannt, die bemerkte, dass in England die Königinnen besser regieren als die Könige, weil unter den Königinnen Männer, unter den Königen Frauen herrschen.
Es war der falsche Zeitpunkt, um zu bemerken, dass neben Inez Jentner auch andere Personen anwesend waren, die später Erfolg hatten. Diese zu erkennen war Katherine nicht in der Lage, dass ein junger künftiger Aktionskünstler es zu seinen Lebzeiten noch bis zu einer Einzelausstellung in der Albertina bringen sollte, dass die Lotti vom Steigerhof im Enstal, jetzt noch metaphorisch bezopft und mit weißen Kniestrümpfen, aber gierig bereit, schweigend zu lernen, später die österreichische Politik mitbestimmte, sobald sie nur ihre aus selbstsicherer, praller Üppigkeit herausragende Hakennase zeigte, nicht aber die Empfehlungen einer ganzen Riege altgewordener Parteigranden. Diese hatten das resche Mädchen, die Politologie in Graz studierte und abschloß, ins Herz geschlossen und sehr bald erkannt, dies waren die Schultern, auf denen man zu neuen Erfolgen fortschreiten konnte.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen