Mittwoch, 19. Januar 2011

Lesender Weise 10

Zurück nach Güterloh
Und schließlich war ein Kreis von zwanzig Vertretern aller Schichten der Bevölkerung im Gründungssenat versammelt. Es gab einen inneren Zirkel der letztlich entscheidungsberechtigten Mitglieder. Was Geld doch erreichen kann: Karl war selbst dabei und besaß überdies die Vollmacht Hannelore Münchbergs, hatte deshalb ein eigenes Büro, in dem selbst, als der Flugplatz noch weitgehend eine Baustelle war, an der Wand der „Große Hampelmann“ von Roland Fuhrmann hing. Aus dem Kreis seiner alten Kollegen, ausgewählt nach Neigung, nach Pragmatismus und politischem Kalkül, waren es Gordon und Otto, Karls alter Schulfreund Gerhard, die Jentner und andere, die wichtig waren, aber nur indirekt den späteren Werde¬gang prägten. Es gab eine Vertreterin der Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung, Frau Dr. Eva Pambach, habilitiert für das Fach Soziologie und jung genug, noch wissenschaftliche und persönliche Wünsche zu haben, die die politischen Grenzen zu sprengen drohten, eine Vertreterin der Bildungsministerin des Landes, Frau Dr. Carola Millstein, längst im Gegensatz zu Frau Pambach, nicht desillusioniert, sondern zufrieden mit einem Ausschnitt der Macht, es gab die Herren – und eine Dame – der lokalen und regionalen Industrieunternehmen und Interessenverbände. Von diesen tat sich zunächst der Präsident des Industrie- und Handelstages mit einer Philippika hervor, der sich als moderner Mensch als veränderliches Wesen in der Kritik realisierte und zu einer deftigen Professorenbeschimpfung hinreißen ließ, die er später in einer der letzten Sendungen der altgewordenen Sabine Christiansen wiederholte. Er trat dafür ein, an der jetzt neu zu gründenden Universität das Prinzip von hire and fire einzuführen. Dies sei eine Garantie für Leistung wie sie die deutsche Wirtschaft mit ihren Verantwortlichen täglich erbringe.
Glücklicherweise, mindestens für die männliche professorale Fraktion, konnte die Mitgliedschaft Adrienne Göhlers vermieden werden. Zu viele der bereits Berufenen erinnerten sich an die kurze spannende Zeit ihrer Amtsführung als Wissenschaftssenatorin in Berlin, einige wenige auch an die Art und Weise, wie sie als Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds fungiert hatte. Es gab Glücksfälle im Leben wie diesen, dass Frau Göhler noch nicht die Bedeutung Güterslohs erahnt hatte und mit ihr und für sie die taz nicht auf die Barrikaden ging. Glücklicherweise auch gab es eine professorale Mehrheit, der mehr an einem erleichterten Einstieg als am Hinauswurf gelegen war. Und diese fand zusätzliche Unterstützung aus dem Kreis des wissenschafspolitischen Establishments.
Zu einem der letzten Male hatte Karl bei der öffentlichen konstitutierenden Sitzung des Gründungssenats die Möglichkeit, in einer vielbeachteten programmatischen Rede die Ziele der neuen Universität zu formulieren: „Wenn jetzt gefragt wird, was die Ziele unserer neuen Institution sind, dann können wir nur antworten: ‚die Forschung über den Menschen in der Gesellschaft und über die Natur und die Bedingungen, in der sie existieren kann, die Forschung über das, was die Menschheit tut und was Natur und Bedingungen hervorbringen.
Menschliches Wissen kann eleganterweise unter den dreifach kategorisierten Fähigkeiten des Geistes analysiert werden, der Erinnerungsfähigkeit, der Verstandesfähigkeit und der Imaginationsfähigkeit, die immer wieder eingesetzt werden, wenn es gilt, die Ideen zu ordnen, festzuhalten, zu vergleichen, zu unterscheiden, zu verbinden und zu gliedern, die wir durch unsere Wahrnehmung aufnehmen oder durch unsere Überlegung erkennen. Und so sind die drei Hauptstränge der Wissenschaft die Geschichte als Gesellschaftswissenschaft, die Naturwissenschaft und die Kunst. Durch die Geschichte erfassen wir die Summe der natürlichen gesellschaftlichen Erzeugnisse oder den wahren Ablauf von Reichen, mit der Naturwissenschaft erfassen wir das ganze Universum der reinen und angewandten Mathe-matik im Verein mit der Ethik und dem Recht, mit der Kunst erschließen wir uns die Schönheit unserer Vorstellungskraft, den Charme der Erfindung in modellierter Sprache, in Farbe, Form und Musik. Es geht um die Homomorphismen in holomorphen Funktionen, die holomorphen Funktionen im quasi-nichtreduzierbaren Vielfachen, um harmonische Funktionen in Grenzsituationen. Laßt uns angehen wider die Fragmentierung der Wissenschaften, gegen die tausend Aufsplitterungen in Probleme der Philosophie, Argumente der Philosophie, Geschichte der Philosophie, antike und mittelalterliche, ökologische, politische, kontinentale und feministische, wider Metaphysik und Epistemologie, eine Philosophie des Geistes, der Sprache, der Logik, der nonkognitiven Ethik, der Mathematik – so wichtig z.B. bei der Frage nach staatlicher Diskriminierung und anderen nur schwer meßbaren Problemen –, der Wissenschaft, der Technologie, der Ethik und Moral, der Religion und Sozialwissenschaften, des Rechts, der Erziehung und Kunst, wider die Vereinzelung Wittgensteins, Poppers oder Russels.“
Diese sehr viel längere Rede, ein bewußter Verschnitt programmatischer akademischer Reden seit dem 18. Jahrhundert, wurde nicht nur in der Westfälischen Zeitung referiert, sondern wurde ein viel diskutierter Text der deutschen Wissenschaftspolitik, in dem die vielversprechenden innovativen Ansätze immer wieder herausgearbeitet wurden.

Um nicht das prospektive, doch reale Stiftungsvermögen anzugreifen, waren die Unternehmen in Gütersloh bereit, die bei der Initiierung anfallenden Kosten, die Anreise mit dem ICE nach Bielefeld, mit dem Jet nach Düsseldorf, selbstverständlich 1. Klasse, um nicht die Energien der Gründungsmitglieder bereits im Vorfeld zu erschöpfen, ebenso den Zubringerdienst in den obligaten schwarzen Limousinen zu übernehmen. Die Firmen stellten ihre Gästehäuser für Sitzungen zur Verfügung, und nicht zuletzt wurde die schwer angeschlagene Möwenpick-Kette für das Catering gewonnen, da sie sich von den großartigen Plänen einer Internationalisierung von Wissenschaft in Gütersloh endlich längerfristig einen lukrativen, recht konjunkturunabhängigen Standort versprach. Die nach allzu häufigen Sitzun¬gen und Restaurantessen immer dicker werdenden Bäuche versprachen auch der Oberbekleidungsindustrie einen steten, wenn auch bescheidenen, so doch berechenbaren Zuwachs. Das war keineswegs unrichtig, da später mit der Universität die Kaufkraft in Gütersloh erheblich wuchs. Unerwartet kam auch ein gewisser Chic in die Stadt, und insgesamt war die Gütersloher Geschäftswelt mit dem wachsenden Umsatz zufrieden. Einen gewissen Schrecken verursachte allerdings die Professorin Kim-Sebestyn, die von ihren Neffen heimlich „The Queen“ genannt wurde, wenn sie die Läden nach einem Besuch wie von einem Sturm verwüstet wieder verließ.
So vergingen die Wochen mit langen hektischen Sitzungen mit unterschiedlicher Begabung der Beteiligten zur Konfliktbewältigung – manche, auch Karl, hatten Schwierigkeiten sich zunächst zu entärgern, um den Erfolg zu sichern. In den Sitzungen versuchten Professor Otto unzählige Karos, Professor Gordon allmählich immer raffinierter werdende Schneckenhäuser, Karl seine Mitstreiter zu zeichnen, und Frau Professor Jentner orientierte sich an der Aktenlage. Es gab immer wieder lang andauernde Konsultationen elektronischer und anderer Terminkalender, mit einem ungewöhnlich hohen Anteil der auffällig unauffälligen grünen Plastik-Taschenkalender der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, um immer wieder unter Mühen gemeinsame Termine zu finden, die dem ansässigen Stab und den jeweils zu importierenden VIPs genehm waren. Der enorme administrative Druck, der mit Vortragsverpflichtungen in Tokyo, Hanoi, Hawaii, Princeton, Delmenhorst oder Iserlohn, mit Lehr- und Prüfungsverpflichtungen an den Heimatuniversitäten, dem täglichen Jogging einiger und der verschleierten Faulheit einiger anderer kollidierte, machte eine Einigung über Sitzungstermine immer wieder zu einem diffizilen Rechenstück oder zu einem im Chaos aufgehobenen Ordnungsproblem. Hierfür würde man bestimmt eine spätere Professur benötigen, die in der Lage war, nicht nur Modelle zu entwerfen, sondern tatsächlich chaotische Zeitreihen bestimmte. Jeder promovierte den Nucleus, den er präferierte, kannte die deutschen akademischen Statistiken, dass gerade diese Ausrichtung, diese wissen-schaftliche Thematik vernachlässigt werde, dem jahrelangen Rotstift vor allem zum Opfer gefallen sei. Unterschlagen wurden die Kollegen, die in anderem Forschungszusammenhang eben diese Themen behandelten – oder sie wurden als die eigentlichen Vernichter lebenswichtiger, relevanter, zukunftsbestimmender Studien- und Forschungsgänge decouvriert.
Gelegentlich wurden die Auseinandersetzungen so scharf, dass sehr viel Zeit für die Verabschiedung der Sitzungsprotokolle aufgewendet werden mußte. Es gab so vieles, was manche hinterher nicht gesagt hatten, dass nach nur drei Sitzungen während der Diskussionen Tonaufzeichnungen gegen den Widerstand einer qualifizierten Minderheit zugelassen wurden.
Der private Charakter der Johannes-Universität wurde festgeschrieben, doch konnte die Universität auf die öffentliche Anerkennung nicht verzichten. Während Karl und seine akademischen Mitstreiter den ländlichen Einfluß noch weitgehend ausschalten konnten, wurden Bund und Wirtschaftsvertretern ein Gegenzeichnungs- und beschränktes Einspruchsrecht zugestanden, verankert durch die Mitgliedschaft im universitären Senat, der industriellen Aufsichtsräten nachgebildet war. Keineswegs wider Erwarten konnte die Eitelkeit der Wirtschaftsvertreter in der Regel problemlos befriedigt werden, und solange Frau Dr. Pambach im Ministerium zuständig war für die flankierenden Belange der Universität, war auch die Zusammenarbeit mit den politischen Entscheidungsträgern sehr befriedigend. Hierbei handelte es sich um besondere finanzielle Zuwendungen als wichtige Besonderheit und um die regelmäßige Billigung der zu berufenden Professoren.
Unabdingbar war auch die stete Rückkoppelung mit den einem jeden jeweils vertrauten Entscheidungsträgern, vor allem für alle diejenigen, die Kontakte zu den Trägern der Bildungspolitik und –administration hatten, und auf diese Weise wuchs allmählich auch der Einfluß der Wissenschaftsministerin, die ihre changierenden Auffassungen der blinden Loyalität zum Machtzentrum scheinbar unterordnete, sich aber außerhalb dieses Auge des Taifuns, unbemerkt von diesem, ein Netz jüngerer aufstrebender Wissenschaftswissenschaftler geschaffen hatte, über das sie wie Omphale herrschte und nur gelegentlich mit Inez Jentner teilte, wenn sie ihre rote Mähne zurücknahm, ebenso wie ihre gierigen Knie und ihre ihr Gegenüber entlarvenden Augen. Und Karl murmelte: „Vielleicht mag man den roten Schopf. Ich liebe die grauen Haare. Sie zeigen die gewonnenen Jahre, rot ist nicht kongruent mit dem Kopf.“
Dann mußten des Nachts immer wieder die Handies aufgeladen werden, die am Tage schweißdurchtränkt wurden und Wirkung zeigten wie Publikumsmehrheiten bei der Suche nach kurzlebigen Sternen, wenn Eva Pambach sich mit ihrer Ministerin kurzschließen mußte. Nicht immer, doch als Außenwirkung dominant, galt es, den Geschlechterkrieg zu gewinnen. Manchmal allerdings war die Herrschaft schwach wie über den Herakles im Deckenfresco Andrea Pozzos im Palais Liechtenstein in der Fürstengasse im 9. Bezirk.
Zur offiziellen Gründungsfeierlichkeit, für die man sich später vom Flughafengelände zur 1979 fertiggestellten wenig inspirierenden Stadthalle an der Friedrichstraße, berühmt durch den Wettbewerb der neuen Stimmen, der jedes Jahr von neuem ungeahnte Leidenschaften hervorzauberte, begab und zur Grundsteinlegung – auf Pergament geschrieben wurden das Wissen, die Kunst und die Moral der Gegenwart eingemauert – konnten alle kommen, obwohl sie sich nach den Terminen des Minister- und Bundespräsidenten richten mußten. Sie strichen den Tag der Geisteswissenschaften aus ihrem Kalender oder sagten eine Anhörung durch den Finanzausschuß des deutschen Bundestages ab. Sie vergaßen ihre Termine in den verschiedenen Findungskommissionen landauf und landab und sogar ihre eigene Karriere, die sie mit Berufungsverhandlungen an der St. Lawrence University hätten vorantreiben können.
Sie schluckten Melatonin gegen den jetlag. Sie opferten ihre anderen Verpflichtungen mit zögernder Zusage, und die Gästeliste war imponierend, las sich wie ein Gotha der internationalen academia. Abgesagt hatten aus Altersgründen Jürgen Mittelstraß und Gerd Roellecke, und beide waren später froh, dass ein fadenscheiniger Grund genügt hatte. Im Sinne guter deutscher politischer Korrektheit war auch André Glucksmann nicht eingeladen worden. Konvertiten mag man nicht. Es kamen der Bundespräsident – als generischer Terminus gebraucht, doch war es immer noch ein Mann – und der Ministerpräsident – auch er ein Mann, es kamen die Wissenschaftsministerin des Bundes, die Bildungsministerin des Landes, Staatssekretäre beiderlei Geschlechts, die Präsidenten der großen und kleinen Stif-tungen beiderlei Geschlechts, viele im noch tatkräftigen Alter zwischen fünfzig und siebzig, in Anzügen von C & A bis Armani und Brioni, in Kleidern von Georges Rech bis H & M, je nachdem, ob sie immer dasselbe Kleid anzogen oder der Jahresmode folgten, manchmal hauteng gekleidet als äußere Botschaft innerer Kompaktheit, aber insgesamt Beweis der Klassenlosigkeit des Designs, mit gefärbten und ungefärbten, teilweise nicht mehr vorhandenen Haaren, mit Spritzen und Hormonpflastern jung geblieben, um die Gefahr der Auswirkungen drohender Schizophrenie zu mildern, dennoch zumindest differenzierende Gegner des Klonens, der Genveränderung und hormonbehandelten Kalbfleisches, Anhänger der Mülltrennung, Versuchspersonen für Designer-Östrogene, leicht renoviert, mit der möglicherweise und hoffentlich benötigten Gleitcrème im Gepäck und der Unzufriedenheit und der ewigen Schuld der anderen, die das Bewußtsein eines nur partiellen Erfolges gebiert. Dies waren aber kaum die gleichen Hexen, die zur Erlangung des ersehnten Geliebten in frühen Morgenstunden Sekret aus ihrer Vagina auf Flächen verschmiert hatten, die dieser aller Wahrscheinlichkeit nach berühren mußte. Sie waren eher solche, die ihren Freundinnen nicht verschweigen konnten, welche Erfolge sie bei the boys errangen, wie ihre männlichen Kollegen nach dem Begrabschen ihrer Studentinnen, und bewußt jeden Anflug von Eifersucht bekämpften. Und doch war es Liebe mit dem Merkmal der Begrenztheit. Die kurzen Beziehungen trugen Namen und Wiedererkennungszeichen, auch wenn sich das Letztere nie wieder als nötig erweisen sollte. Sie vergrößerten die Summe des Glücks in subtiler Neckerei, wenn man fähig war, den Verlust zu verdrängen. Wie eine altgewordene Lavinia schwadronierten sie öffentlich über die Politik und den Untergangswillen des deutschen Volkes und drangen immer weiter und schließlich erfolgreich zu den Themen der Verführung vor, die sie betrillernd, ihrer faktischen neuen Macht bewußt, über ihre Gegenüber ausgossen in einer Form noch nie gekannter sexueller Herzenswärme. Dies kostete Zeit, so dass Stephanie Reiter, die ihre Liebesbriefe nie schrieb, sondern fast täglich in fiebriger Ungeduld erlebte, zwei Jahre mit dem selben Vortrag durch die Lande tingelte. Dadurch wurde dieser gelegentlich besser. Weniger konventionell gebunden als Carmen Ordónez und ohne die stets präsente Tauromachie entging sie den immer wiederkehrenden Gewissensbissen und dem wiederholten bewußten Tabubruch auf Kosten ihrer Physis und Psyche. Mit absichtlich unordentlich aufgestecktem Haar, ganz leicht angegraut und schelmisch mädchenhaft verhuscht mit weichen Gesichtszügen, investierte sie unauffällig alles in diese punktuellen Höhepunkte, was der weiblichen Körperpflege in der Spa-Kultur geboten wird, was Rautenmuster auf sienafarbenen, leicht verdrehten Strümpfen und ein Cordrock, der sich wohlig um die Beine legt, an Kundigkeit nach Initiationsriten insinuieren können. Einem weiteren Ritual ähnlich liebte sie es, auf halber Strecke noch während des Flirts nackte Männerfüße unter ihrem Rock zu wissen. Nicht ähnlich prominent aufgrund ihrer Geburt ersparte sie sich die entblößende Wahrnehmung und fand immer wieder Zeit, sich selbst zu verdrängen und leise belustigt über den Streß durch Wochenendbeziehungen zu klagen. Die Herren erfuhren die Erfahrungen des Dichters, bei dem den Alten der jetzige Sommer rasanter als der vorige schwindet, das Leben sich nur mehr im Bild der Sonnenblume sammelt, deren schwarze Kerne erblühen zu Deinem Venushügel-Haar, das lockt zu Dir. In solchen Augenblicken erwachten wieder alle vom Dichter verurteilten Gestalten zu lebensvolleren Wesen. Und bei Gelegenheit genoß sie das folgenlose Spiel mit den Kastraten, erkannte aufgrund ihrer natürlichen Großzügigkeit aber nicht immer das unterschiedliche Balzgehabe einiger, die ihr dann doch nur unnütze Geschenke brachten, die als Hochzeitsgaben gegenüber anderen wieder genutzt werden konnten, oder die bei der falschen Person „Hannah“ flüsterten, um eben dieser mitzuteilen, dass man sich bereits seit vierzig Jahren danach gesehnt habe, zwischen ihren Beinen zu ruhen. Und doch beglückte sie selbst noch den letzten Betrüger, wenn sie mit über ihren Brüsten zusammengefaltetem Badetuch in der Türöffnung stand, dieses öffnete und die Anziehungskraft eines vielgeliebten Körpers bewies, weil sie in unvor-eingenommener Bereitschaft jeden aufnahm und erreichte, dass meist manche müde Schwänze munter sich erhoben. Für sich selbst und ihren jeweiligen Geliebten schuf sie eine immer neue Erfahrung. Ihr jugendlicher Freund Georg Gamov erkannte endlich in ihr die Hostie, die er als Kind beim Abendmahl gestohlen hatte, um zu Hause unter seinem Mikroskop – damals vergeblich – die Transsubstantiation zu überprüfen, und er bestand mit ihr die Reifeprüfung. Doch erwachte auch sie sehr viel später neben einem jungen Pamphylier oder einem Pisidier, den sie sich mit einem Wagen für ihn und einen Traktor für den Vater erkaufen mußte.
Natürlich gab es auch die gedeckt gemusterte Mode, doch genügte dieses Unter-scheidungsmerkmal kaum, die lokale Prominenz von der weltläufigen aus Frankfurt an der Oder oder Aachen zu unterscheiden. Dies war der Augenblick erfreulicher deutscher Eleganz, in dem die Moden der letzten fünfzig Jahre von der H-Linie bis zur italienischen Exzentrik des frühen 21. Jahrhunderts vorgeführt wurden. Hier wurde die Mehrdimensionalität der Modemenschen Wahrheit und Vergnügen – in Gütersloh. Oft blieb die Frage ungelöst, ob die Kunst der Natur oder umgekehrt subordiniert war. Auffällig war die deutsche Rücksichtnahme auf die Tierschützer im Gegensatz zu der spanischen Ministerinnenriege. Es gab kein Stückchen Fell oder Fellimitat zu sehen.
Nicht anders kamen die Honoratioren von Gütersloh, Vertreter der meisten deutschen Universitäten meist in Gestalt ihrer Rektoren oder Präsidenten, Rektorinnen oder Präsidentinnen von der Viadrina bis zur RWTH, von Flensburg bis Passau – und Karl erinnerte der Aufmarsch an seine Kindheit und Hoffmann von Fallersleben, und natürlich kamen die Mitglieder – ♂ und ♀ – des Gründungssenats, die noch scheinbar verborgenen Kandidaten für die vorgesehenen Professuren und ein wenig unabhängiges sogenanntes Fußvolk mit Zwölfjahresverträgen am Rande des keineswegs unbedeutenden journalistischen Auftriebs. Es kamen auch die den Aufstand probenden Vierziger mit Herrn Bolte an der Spitze, Botox gespritzt unter den Achselhöhlen, mit den kleinen blauen Pillen in der Tasche, mit noch mangelhafter Lebenserfahrung, Leser des International Journal of Impotence Research, aber mit postsäkularer Zivilisationskritik im Kopf.
Die Einzelnen in der Schar ähnelten teilweise Puppen, fleischgewordenen Androiden, die von Natur aus steif mit abgespreizten Armen sich fast mechanisch oder von Kinderhand geführt bewegten und doch Gefühle zeigen konnten, gelungene Beispiele künstlicher Intelligenz, andere – die Mehrheit – waren ein gutes Vorbild des heutigen Autodesigns, scheinbar austauschbar, aber doch mit unverkennbaren Idiosynkrasien, gelegentlich nur in den Accessoires, manchmal aber auch in der Gesamtlinie mit scharfen Bug- oder weichen Heckpartien, im Profil unproportional, en face zu breit geraten, unsicher in Volumen und Graphik und dennoch oft liebenswert oder in ihrer Unvollendetheit beunruhigend attraktiv. Sie waren die Figuren der Commedia dell’ arte. Reichte es, die Begierde des Besitzenwollens zu wecken? Felicita Sartori, die nie wieder später in Gütersloh auftrat, überstrahlte viele in einer Robe „à la turc“. Es gab immer noch Mann und Frau, die nicht ihre zivile Festtagsrobe ausfüllten, die die Aura des Jogginganzugs nicht abschütteln konnten oder besser nackt wie Pascual Jordan auf Sylt ihre wissenschaftlichen Diskussionen bestritten hätten. Nicht alle konnten sich an ihrer Zigarette festhalten oder hatten ihre Elisabeth Bonneau gelesen. Insgesamt war es ein glücklicher Moment, in dem die Kreis- und Wissenschaftsfunktionäre das Karojackett der Stehbierkneipe und den wachen Sinn für die Kameraderie der Provinz respektive die Goldrandbrillen und gestärkten Manschetten der erfolgreichen Manager im Schrank gelassen hatten und den utopischen Körper eines internationalen Salons zu repräsentieren versuchten.
Karl hatte immer noch die Fäden so weit in der Hand, dass er als Vorsitzender des Gründungssenats moderieren durfte, an fünfter Stelle Grundsätzliches und bereits Entschiedenes sagen durfte, eingerahmt von Palmenkübeln, einem Ikebana-Arrangement in Form eines Andreaskreuzes, das einem von hinten beobachteten Geschlechtsakt in der Mitte des Lebens – c. f. American Beauty – ähnelte, und dem eingeflogenen Wiener Kammerorchester. Nicht nur das: er durfte sich immer wieder an prominenter Stelle, mit den anderen und Prominenten auf dem Pulpito vor dem künftigen Rektorat stehend, photographieren lassen und sogar ein Schäufelchen halten. Einen kurzen Augenblick tauchte in der Erinnerung auf, dass die Gründung der Johannes-Universität zu Gütersloh von ihm als böser Scherz ent¬worfen worden war, um schneller noch in das Dunkel der Bedeutung des Augenblicks zu versinken. Später würde sein Realitätssinn – dachte er – gewiß zurückkehren.
Die Grundsatzrede, hinterher viel diskutiert, weil von jedem eines der vielen Versatzstücke zustimmend zur Kenntnis genommen werden konnte, hielt jedoch jemand anders, auch wenn Karl sich dies gern zugetraut hätte, doch wollte er seine Spieluhr auf keinen Fall gefährden, und so war es der Präsident einer der großen deutschen Stiftungen, da Susan Sontag selbst auf dem Wege nach Salzburg oder Bill Clinton am Fuße der Roosevelt-Statue im Osloer Hafen zu teuer gewesen wären. Er hielt den zentralen entscheidenden programmatischen Vortrag über die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstbehauptung der Universität zwischen Kant und Heidegger, wobei er sich mit einer Interpretation zurückhielt, die die Fesseln sogenannter gesellschaftlicher Forderungen entlarvt hätte, die befreite Wissenschaft, über Angstkartelle und Forschungspuristen, wie mit dem Gütersloher Konzept die alten Fachkulturen durchbrochen und neue flexible Stellwände geschaffen würden, wodurch dann die notwendige Rechtfertigung von Forschung vor einer größer werdenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit erfolgen könne, und dies überdies durch eine Academia, die von Vertretern einer mündigen Zivilgesellschaft getragen werde, nicht aber von dem Fakt, dass auch im Wissenschaftsbetrieb der Teufel auf die größten Haufen scheißt wie in einem lettischen Märchen. Dieser Präsident war ein Naturwissenschaftler und hätte gerne die Reaktion chemischer Verbindungen als Metapher für den fruchtbaren Gärungsprozeß genutzt, der die neue Universität auszeichnen sollte. Stattdessen wählte er das Bild der Lynkeoi, einerseits in Anspielung auf die Accademia dei Lincei, von der er zum Frühstück gelesen hatte. Andererseits übertrug er die lynkeischen Fähigkeiten auf die mutigen madagassischen Grabfrösche – er gebrauchte selbstverständlich die taxonomischen Bezeichnungen Mantidactylus und Boophis –, die sich vor Millionen Jahren aufs weite Meer wagten und auf Blättern und Baumstümpfen zu den Komoren aus der bloßen Bestätigung der Vergangenheit in eine sich absichernde Zukunft surften. Damit entwarf er gleichzeitig eine Geographie des Denkens von Bergspitze zu Bergspitze, als er diese Metapher aufgreifend und seinem im Publikum sitzenden Freund Kawakami Izumi zulächelnd, der bahnbrechende Forschungen zu Metabolismen bei amphibischen Embryonen aufzuweisen hatte, den gleichen Mut jetzt den aufopferungswilligen Universitätsgründern zusprach, die bei diesem Vergleich nur leicht erröteten. (Gordon schlug später vor, den Frosch in das Universitätssiegel aufzunehmen. Van Groningen erwähnte in seiner unnachahmlichen vorbeigehenden Art die Batrachomyomachia.) Das war etwas anderes als die spanische Mörderschnecke – Arion lusitanicus –, die sich bequem unter Einfuhrpflanzen schattig gebettet in der übrigen Welt ausbreitete. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf den janusköpfigen Charakter der Universität als kosmopolitische und lokale Institution, doch sagte er nur, was der Verlust des Kosmopolitismus bedeute, da sich mit dem Übergewicht des Lokalismus die Universität zunächst provinzialisiere, eine Zeit lang noch praktische Fähigkeiten vermittele, dann aber erstarre und sich selbst mangels Innovation überlebe. (Die Anwesenden rätselten darüber, ob er damit ihr Dasein als Reisekader legitimiere.)
Angesichts der Krise des Staates und der Zweifel, welche Rolle ihm zukomme, war es von Vorteil auf die Geistesgrößen der eigenen Vergangenheit zurückgreifen zu können, um die Verbindlichkeit eines neuen Weges zunächst aus der Distanz zu prüfen. Die Entwicklung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde mit den Worten Wilhelm von Humboldts skizziert, „alle Freiheitsbeschränkungen so lange ruhig bestehen zu lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kennzeichen zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende Fesseln ansehen, dass sie ihren Druck fühlen und also zur Freiheit reif sind.“ Dieser Zeitpunkt sei gekommen, dass der Staat „keinen Schritt mehr weiter gehe, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er die Freiheit.“
Was bedeute akademische Freiheit? Ungehinderte Suche, Forschung, ohne vorher sagen zu können, zu welchem Ergebnis man gelangen werde. Forschung habe ein subversiver Akt zu sein, der den Staat reizen müsse, ihn zur Zensur verführe, doch damit auch lehre, Toleranz zu üben und aus diesem Konflikt zu lernen. In ihrer gewollten Abwesenheit würdigte er auch anhand eines ihm von Karl zugesteckten Zettels die größte Einzelstifterin Hannelore Münchberg, die in der Tradition der großen deutschen Kunstsammler und Stifter selbstlos und ohne un- oder erfüllbare Forderungen diese Neugründung ermöglicht hatte. Frau Münchberg hatte nie unerfüllbare Auflagen an ihre Stiftung geknüpft, um Albert C. Barnes nachzueifern, hatte eben keine entsprechende Ludwig-Universität oder Jacobs-Universität verlangt. Vielleicht hätte sie es gern gesehen, wenn der Name Davids im Universitätsnamen in der einen oder anderen Weise berücksichtigt worden wäre, doch akzeptierte sie mit großer Fassung die Entscheidung für Johannes Gigas und schenkte der Universität nur ein Jugendportrait Davids von Josef Scharl, das später, als die Bedeutung dieses Malers auch in Gütersloh im Gefolge der sich wandelnden Mode erkannt wurde, einen besonderen Platz im ersten Raum der Stadt- und Universitätskunstsammlung erhielt, die überdies die größte Sammlung von Taubenbildern José Ruiz Blascos diesseits der Pyrenäen ihr eigen nannte. Ein letztlich scheiternder Versuch war die Bereitschaft Güterslohs und seiner Universität, der Gefahr der Schließung der Uffizien mit dem Angebot zu begegnen, den dortigen Schätzen im Westfälischen eine gesicherte Heimstatt zu bieten.
Aufgrund seiner eigenen universitären Bindungen sprach der Präsident weiter die Hoffnung aus, dass das bedeutende Gütersloher Unternehmen, das jetzt ebenfalls so großes Interesse an der jüngsten deutschen Universität und Bereitschaft zu helfen zeigte, sein älteres Engagement für Witten-Herdecke nicht aufgeben werde. Mit der Bertelsmann Stiftung habe in der Stadt ein internationales Kompetenz-Zentrum seinen Sitz, das richtungsweisende Impulse für Politik und Gesellschaft gebe, aber auch Gütersloh bisher und sicherlich auch künftig nicht aus den Augen verlieren werde. Als Stütze und Standort in Berlin könne sich die Universität gewiß auch auf den medialen Dom im Herzen der Stadt und als externes Herz der Universität verlassen. All dies sagte er in gebildet konventioneller Weise mit einem leichten Schuß von Selbstironie, die seine Rede erträglich machte, und, um allen Anwesenden ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, sagte er: „Wir sind alle Bartholomeer.“ Der Höhepunkt seiner Rede war, als er im Auftrag der Bundesregierung die nach entarteter Kunst und nach dem Bombenhagel noch erhaltenen Lofotenaquarelle E.W. Nays, die man in einer wieder unbefangenen Zeit wieder mit einem Stuka-Angriff vergleichen konnte, ergänzt durch ihren kapriziösen Vorläufer, die Rohrfederzeichnung der Ostseefischer, als Dauerleihgabe übergab, ein wundersamer erster Schritt zur späteren Aneignung. Bewegt waren wir alle vom endlichen Pathos, als er der Hoffnung Ausdruck verlieh, das Ergebnis der Gründung möge ein Kunstwerk werden wie Michelangelos David, gerettet aus einem erfolglos bearbeiteten Stein. Wir waren der David, die Kultur-kritik traf die bestehenden Universitäten. Der Pathos erreichte seinen Höhepunkt, als er mit der Charakterisierung dieser neuen Universität endete, dass sie die vom Konservativismus gesteckten Grenzen einreißen werde, weil sie nicht länger nützlich seien oder nie hätten errichtet werden dürfen.

Eine kauzig liebenswerte Rede hielt die Bürgermeisterin der Stadt, die schelmisch provokant die Koseform Gütsel für Gütersloh benutzte, damit sich die Gäste sofort wohl fühlen sollten und nicht den Eindruck erhielten, mit Pomp und langen Reden übersättigt zu werden. Geschichte und Gegenwart wurden von ihr kurz aufgerollt, Gütsel als weltoffene Stadt mit einem Ausländeranteil von ca. 10%, in der etwa hundert Sprachen gesprochen werden, beschrieben – u.a. war zum 31.12.2002 eine Norwegerin in Gütersloh gemeldet. Nicht erwähnte sie Herrn Piepe vom Ausländeramt, mit dem Karl bereits wegen der potentiellen ausländischen Studenten hatte sprechen müssen, damit diesen nicht des Nachts die Türen eingetreten wurden. Jener zeigte sich sehr verständnisvoll, da dieselben durch entsprechende Stipendien zunächst, dann aber auch durch die geplante Einbindung in die universitäre For-schung als gegenläufigen braindrain Deutschland, nein, Gütersloh als Wissenschaftsstandort auf der internationalen Landkarte etablieren sollten. – Vor allem aber hob sie hervor, dass Gütersloh mit knapp hunderttausend Einwohnern Lebensmittelpunkt für alle sein könne, denen der Gruß von Tür zu Tür noch etwas bedeute. Gütersloh sei groß genug, den Geist zu behausen, aber nicht so groß, dass die Nachtigallen heiser gegen den Stadtlärm ansingen müßten. Es sei groß genug, nach den Sternen zu greifen und doch mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. Und es habe Ähnlichkeit mit der Schweiz, da es auch nach Jahren wieder erkennbar sei. Und schließlich läge es so zentral, dass die Nordsee nur 220, die Ostsee 350 km entfernt seien. Dann leitete sie über zum bisher bestehenden Bildungsangebot der Stadt, verwies auf die it-akademie Ostwestfalen, die erst vor kurzem ebenso wie die Fachhochschule der Wirtschaft im Jahre 2000 von der Bertelsmann Stiftung und der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen mit ihren global players und hidden champions, mit ihren mittelständischen Aktivitäten bis nach China gegründet worden war. Merkmale dieses neuen Aus- und Weiterbildungskonzeptes sind Top-Niveau in der Lehre und eine Jobgarantie für ihre Absolventen. „Höchste Aktualität und kompromißlose Praxisorientierung sind die Anforderungen an die Kursinhalte, die vor jedem Kurs gemeinsam mit den Unternehmen entwickelt werden, denen es an Fachkräften mangelt. Die it-akademie bietet keine Kurse von der Stange, sondern maßgeschneiderte Angebote für kleine Gruppen von Teilnehmern, die so gezielt auf ihre spätere Aufgabe im Unternehmen vorbereitet werden.“ Aber auch im Sekundarbereich hat Gütersloh sehr viel und innovatives zu bieten. „Bildungsexperten aus aller Herren Länder stehen Schlange in den Klassenzimmern des Evangelischen Stiftischen Gymnasiums an der Feldstraße. Die FAZ war auch schon da, denn in Gütersloh wird Schulzukunft erprobt – mit Hilfe des Laptops, hinter dem hochrote Schülerköpfe Power-Point-Präsentationen zu Harry-Potter-Romanen entwickeln.“ Und nicht zuletzt sei die 1984 eröffnete Stadtbibliothek genannt, mit den Möglichkeiten eines modernen Alexandria, die selbstverständlich noch nicht den Erfordernissen eines wissenschaftlichen Betriebs gewachsen, doch durch die bereits gegebene Bereitstellung eines breiten und aktuellen Angebots an elektronischen Medien und Internet-Services und Trendbereichen wie z.B. Literatur zur Globalisierung als Chance für eine Welt bestens gerüstet sei und die großen wissenschaftlichen Dienste abonnieren könne. Und so könnte die künftige Universitäts- und Stadtbibliothek der Würzburger Stadtbücherei den Titel der „Bibliothek des Jahres“ bald streitig machen. Unter Einschluß des Bücherwurms und der Forschung stünden nicht mehr selbsternannte Zensoren an den Buchausgaben, sondern unbefangene Befriediger geheimer und anderer Wünsche aufgrund einer hervorragenden Infrastruktur, eines innovativen Managements und des Zugangs zu Datenbanken mit der quasi-grauen Literatur der Fachhochschulen, amerikanischen Seminararbeiten und den Universitätsjournalen nie gehörter provinzieller chinesischer pädagogischer Hochschulen. Nicht wie in Würzburg nur über SMS, sondern wie in Princeton auch an die morgendliche e-mail-Lektüre, würde die Ankunft bestellter Bücher oder eventuell interessierender Titel gemailt. Einzig den alten Pedell, der auf seiner Rückentrage die bestellten Bücher an den Platz im Lesesaal bringt, wird es nicht mehr geben. Die Frage des Lesens wird hintangestellt. Und so wachsen die Benutzerzahlen durch die heilige unio von Wissenschaft, Wissensdurst und vergnüglicher befriedigender Präsentation in Malthusschen Potenzen. Hinzu kommen die Kinderkrippe für das erste Lesevergnügen und ein Hundeauslauf mit beschriebenen Orakelknochen. Nur böse Zungen könnten behaupten, sie besäße auch das dünnste Buch der Welt, den Freizeitführer Gütersloh mit dem Hinweis auf Gütersloh als erogenes Zonen-Randgebiet und Herrschaftsgebiet der Barfüßer, oder wie Voltaire – so bewies sie die Bildung ihres Redenschreibers Bareis – schreiben: „In großen Hütten, die man Häuser nennt, sieht man Tiere, welche Menschen sein wollen, die aber auf’s traulichste von der Welt mit anderen Haustieren zusammenleben.“ Und dabei lächelte sie schalkhaft und klug volkstümlich und verwies noch darauf, dass sich Gütersloh trotz aller Bemühungen leider nicht in den Streit zwischen Worms, Braunschweig und Osnabrück einschalten könne, wer zum ersten Mal in Deutschland italienisches Eis habe anbieten können. Es gebe ein Gerücht, dass das Café Ja¬nicke, als es sich noch in der Berliner Straße befand, vor 1911 kurzfristig einen italienischen Conditor beschäftigt habe. Als er der Tochter des Hauses zu nahe trat – Sie kennen doch die Italiener: Küß mich, oder ich schieße!“ – (das war, bevor das Antidiskriminierungsgesetz in Kraft trat), wurde das Beschäftigungsverhältnis schnell gelöst. Auch um den ersten Dönerstand in Deutschland wetteiferte Gütersloh mit Berlin. Und schließlich hoffe sie, ihre Zuhörer verstünden, wenn sie der Hoffnung Ausdruck verleihe, Gütersloh möge das Huddersfield einer neuen Revolution werden und sein.
Ahnungsvoll habe Gütersloh den Boden für die Universitätsgründung in den letzten beiden Jahrzehnten bereitet.
Die Reden nahmen kein Ende. Der polnische Gast, der Vertreter der Universität Krakau, Professor Ryszard Bodziacki hielt seine Rede auf Latein und hängen blieb in der Erinnerung aller Gebildeten die Sentenz „Quod factum est, tege, quod futurum, rege.“ Der offizielle Vertreter der britischen Regierung, der Earl of Bredon, zitierte zu viel und abseitig Catull bis er sehr viel passender zur Bedeutung Güterslohs ausführlich das dreizehnte Kapitel des 4. Buches Mose heranzog.
Um auch potente Sponsoren aus dem weiteren Raum Ostwestfalen-Lippe perspektivisch zu gewinnen, war der Eigentümer eines der großen Bielefelder Unternehmen – Jauch, der etwas alt geworden, die Moderation nicht mehr ganz so fest im Griff hatte, wie noch ganz am Anfang des 21. Jahrhunderts die Sendungen für RTL, insistierte auf Namensnennung – für eine weitere kurze Ansprache gewonnen worden, in der er die Region neben München, Stuttgart und Hannover als Wachstumsregion Deutschlands konstatierte. Er beschrieb den Menschenschlag der Gegend: ehrlich, verläßlich, sparsam, bodenständig, und vor allem auch beständig. Frau Jentner, aufmerksam lächelnd, flüsterte ihrer Nachbarin zu: „Einmal mehr diese kapitalnotwendigkeitspathetischen Bemerkungen.“ Alle folgten dem Grundsatz, es gebe „une mer à boire“. Kaum ein Gruß konnte anläßlich dieses Ereignisses, ohne ein Emblem anzubringen, bestellet werden
Und nachdem Ehrengäste wie Barenboim und Radu Lupo entgegen ihrem normalen Musikgeschmack Milhauds Scaramouche in einem heiteren Dialog vorgetragen, ein Hund auftragsgemäß gebollen und eine Aufführung der Strawinsky-Oper „The Rake’s Progress“ in Anlehnung an die Uraufführung Eugenio Montales aus dem Jahre 1951, zu der der Schauspieler Zwanzig des Gütersloher Theaters Auszüge aus den Kommentaren Lichtenbergs las, den Festakt mit einer Einvernahme der frühen Moderne und einer hommage an Britannien beschlossen hatten, bewegten sich die Gäste unchoreographisch, aber doch wunderbar hölzern wie zerbrechliche Werke eines Kunsttischlers zum Buffet, auf dem es als Besonderheiten eingeflogene Percebes aus Carrapateira, softshell-crabs aus Maryland und Austern von den Bänken vor Bouzique gab, als hommage an die neue ostwestfälische Heimat marinierte Marderfilets, pürierte Pumpernickel und gebratene Birkhuhnbrüstchen, schließlich Lippischen Ananas, Möpkenbrot, Graude Bohne, Leineweber Blindhuhn und Konsorten – und natürlich deutsche Weine. Ein besonderer, nicht trinkbarer Clou war als Tischschmuck ein Bronzegefäß aus der chinesischen Shangzeit, das von behandschuhten Händen für VIP-Gäste kurz geöffnet wurde und dann einen besonderen blumigen Duft verströmte. Die Chinesen hatten den Traubenwein erfunden. Auf Veranlassung Karls gab es heiße Häppchen von paniertem Ris de veau und Kalbshirn, eingeflogen aus Argentinien, notwendigerweise mit einem Warnhinweis für alle die versehen, die bewußt die Gefahr einer Infizierung mit BSE vermeiden wollten. Aber natürlich gab es die konventionellen Beiträge eines jeden Partydienstes von Schinkenröllchen – aber selbstverständlich westfälischem – bis Bavaria blue auf Pumpernickelscheibchen, und last but not least die Rindersalami, deren Hersteller von sich sagt: we answer to a higher authority.
Vor allem genoß Karl, ohne an die Exhumierung eines Kastraten aus wissenschaftlicher Neugier zu denken, das Verzeichnis der kostbaren Geschenke, welche der Ravisseur Signor Farinelli, vulgo Carlo Broschi aus Andria, der italienische Sänger, von dem englischen Adel und anderweitigen Standespersonen für eine einzige Dero Vorstellungen anzunehmen geruhte. Der Bezug war klarer als in dem Rezitativ, das begann, „no word from Tom, has love no voice? Can love not keep a maytime vow in cities?“ Und Hannelore Münchberg war natürlich nicht Sarah Young. Und die indirekte Beteiligung Aldous Huxleys öffnete die Türen zu Him¬mel und Hölle einmal mehr einen Spalt, in den W.H. Auden trat, und nicht zur wohligen Anmut, die die Handbewegungen Timothy Learys für ihn selbst auslösten. Doch waren die, die Bücher lebten, nicht da, sondern in Entziehungsanstalten, in zerwühlten Betten oder in wahre Tränen des unerträglichen Selbstmitleids aufgelöst, no llores und como llora diskutierend.
Durch Namensschilder, die Broschen und Krawattennadeln übertönten, war es nicht allzu schwer, zueinander zu finden, sofern man sich nicht bereits kannte. Das Problem bestand darin, dass bei dieser Gelegenheit mehrere sonst einander nicht kreuzende Zirkel zusammenkamen und die Situation es notwendig machte, im Interesse der gemeinsamen Sache die jeweilige Wir-Gruppe zeitweilig zu verlassen. Und so stießen lokale Prominenz mit jeweiligen, vielleicht nicht ganz so prominenten Partnern und jungem erwachsenen Nachwuchs auf die meist einzeln erschienenen zahlreichen Juwele aus der deutschen Wissenschafts- und Politiklandschaft, der internationalen Künstler- und Zeugengemeinde einer globalen Welt, auf alle Tiefgründigen, die die Masken lieben und auf die amüsant degoutante Schlüpfrigkeit älterer Herren wie Nicolaus Sombart, der an einem Tag in der Presse von Peter Wapnewski liebevoll gewürdigt, am nächsten in seinem veröffentlichten Tagebuch die Salbaderei eben dieses bespöttelte und sich nicht scheute, den Muschis wissenschaftlich, politisch und kulturell bedeutender Damen, die er erkundet hatte, in einer gemeinsamen Liste mit bekennenden Professionellen ihre Namen anzuheften. Im Nachruf nennt man so etwas dann: Die Gesellschaft mit allen Sinnen verstehen. Damit stach er zuerst auf Deutsch, dann auf Japanisch in das sprichwörtliche Wespennest. Karl hatte ihn etwas hinterfotzig auf die Gästeliste gesetzt. Ob es klug gewesen war, ihn einzuladen, vor allem, da er es sich nicht verkneifen konnte, sich gelegentlich adminikulierend über das Ereignis der Universitätsgründung zu äußern?
Eingeladen und gekommen waren auch Antonio Negri und Michael Hardt. War das gut? Doch: dadurch wurden Spannungen erzeugt, die die im Laufe des Abends einsetzende Entspannung um so schöner erscheinen ließen, und Gütersloh bekam nicht nur im Verborgenen für eine kurze Zeitspanne das Flair metropolitaner Verruchtheit und Progressivität. Selbst die Sombartschen Analysen der Gesellschaft – was wir essen, ist das Gewissen, was wir scheißen, Ideologie – und ihr Vergleich mit den französischen Zucht- und Tollhäusern des 18. Jahrhunderts, der Kriminalisierung der Idiotie, der nur mit Aderlaß, Schröpfung, Abführmittel und Brechreiz beizukommen sei, glitten ab in amüsierende Beliebigkeit. Es zählte eher die Wucht seines Auftritts als der Witz seines Inhalts. Dafür zeichnete Marie-Theres, eine höhere Gütersloher Tochter mit Salem-Vergangenheit und universitärer Zukunft verantwortlich. Um ihr eigenes nach ihrem Verständnis unzeitgemäßes romantisches Fieber zu bekämpfen, erinnerte sie daran, dass in wenigen Tagen die hundertzehnte Wiederkehr des Bloomsday zu feiern sei, und für verständnislose Gesichter: „Der Tag, an dem Nora Barnacle ihrem James zum ersten Mal einen 'runterholte“. Um der jugendlichen Wahrheit die Schärfe zu nehmen, korrigierte ein anderer: „Der Tag, an dem Nora Barnacle zum ersten Mal mit ihrem James ausging.“ Später versuchte es Marie-Theres noch einmal mit mit dem alten Vers „Der Kampfer ists, der Wunder kann, sein Riechen nur entmannt den Mann.“ und dieses Mal wurde sie von anderer Seite korrigiert, dass nämlich die Kampfer-Raffinierer in Venedig geil genug waren, viele Kinder zu zeugen. Irgendwie war es nicht ihr Tag. Sombart war zusammen mit Laura Kipnis, der Medienwissenschaftlerin von der Northwestern University in Illinois, gekommen, die kultur- und sexualwissenschaftlich begründet den Seitensprung als Wiederbelebungsversuch befürwortete. In beider Schlepptau, da noch nicht wieder ganz hoffähig, wurde Witwe und Werk eines deutschen Schönheitschirurgen eingeschleppt. Negri und Hardt verschenkten handsignierte Exemplare ihrer Werke. Nicht anwesend waren Boileau und Narjeac.
Es war nur die Pozzi, die bemerkte, dass Sombarts forcierte Provokation nicht einmal, nein, auf keinen Fall das Prädikat alla boccaccesca verdiene. Ein weiterer Versuch, ein wenig Spannung zu erzeugen, war die Einladung an Raymond Damadian M.D., der mit ganzseitigen Annoncen versucht hatte, des Kaisers neue Kleider für sich zu reklamieren. Auch nach mehreren Jahren tobte er noch durch die Gesellschaft und zog wie ein Zauberkünstler die Beweise rechts und links aus seinen Taschen als hätte er die ganze Gesellschaft des Wiener Opernballs finanziert. Ein wirklicher Clou, der zeitweilig drohte, den Grund für die versammelte Gesellschaft zu kippen, war die Anwesenheit Nima Zamars, die diese Gelegenheit nutzte, um sich rechtzeitig selbst und ihr Konstrukt von Hintermännern zu entlarven. Die Traube politischer Prominenz wich erst zurück, als der Eindruck egoistischer promotion zu eindeutig wurde, und als eine der wenigen mit den Gründungsfeierlichkeiten unzufriedenen Personen zog sich Frau Zamar lange vor Ende des Abends zurück, um rechtzeitig ihren nächsten Termin, ein öffentliches Streitgespräch in der Bibliothéque National zu erreichen. Aber schon Mircea Eliade hatte – leider – von tempus illus gesprochen.
Es wurde ein rauschendes Fest wie einst in Port Middlebay zu Ehren von Wilkins Micawber Esquire, wo sich wahrscheinlich nicht weniger als siebenundvierzig Personen auf einmal zu Tisch setzten, abgesehen von denen, die auf den Gängen und auf der Treppe bedient werden mußten, mit einer Tombola wie auf dem Bundespresseball, mit Gewinnen wie einem stahlgrauen VW der Phaeton-Klasse – gewiß wäre der Bugatti Isadora Duncans mit seinen Speichenrädern emotional erregender gewesen –, PCs und anderen schönen Sachen, die aber ebenso wie die Loseinnahmen mit einem Namensschild des Gewinners als generischem Terminus versehen der künftigen Universität zur Verfügung gestellt werden sollten. Außer-dem wurde, um den Bekanntheitsgrad der Universität zu fördern, in Anlehnung an ein eben solches der Daily Mail aus dem Jahre 1889, ein Preisausschreiben initiiert, in dem die Finanzierung eines Studienplatzes für die volle Studienzeit ausgelobt wurde für den, der die Zahl deutscher Professoren am 3. Oktober 1991 nennen könne. Es war ein Fest, das die juvenile Arroganz der Werbetreibenden Lügen strafte. Nicht, dass nicht die zu fördernde Jugend im Munde geführt wurde, stellte sich dennoch eher unausgesprochen die Frage, ob Männer jenseits der fünfzig anders küssen, wohin Scharfzüngigkeit und Intellekt der Elite im Bett oder in den Dalkeauen verschwinden, ob die erotische Ausstrahlung sechzigjähriger Frauen auch bei größter Annäherung Bestand hat. Karl hätte diese Frage gern mit ja beantwortet, sobald er an Jessica Lange in Big Fish dachte oder an sich selbst in einer Rolle Jack Nicholsons. Nicht erkennbar aber war, ob die Seelen der Akteure in puncto sexi übervoll waren.
Es wurde diskutiert, einander gratuliert, die Tanzfläche okkupiert, sich am Buffet delektiert. Man spreizte sich und streckte sich, um dem eigenen Körper Spannung zu verleihen. Der Geist war hier versammelt, wenn auch in der Postmoderne und im Rausch des Dekonstruktivismus nicht mit der gleichen scheinbaren Präzision wie die Mandarins von Paris vor gut fünfzig Jahren und ohne deren Chance zum provokativen Tabubruch, der zur Verpflichtung wurde, bis er in einer lauen Juninacht unter dem besternten westfälischen Himmel in eine augenblickliche Vertraulichkeit hinüberglitt, im Dunkeln die Worte von und über Gadamer, Derrida, Heidegger oder Luhmann mit Untertönen wie zarte Fledermäuse umeinander glitten, als Liebeserklärung dem Geiste andere verständnisvolle Bereitschaften erklärten, während dazwischen kaum weniger geistvoll die Berliner universitären Größen den Wodka sublimierten, Inez Jentner als eine der Drei Heiligen Königinnen aus dem Morgenlande ihre kürzliche Entdeckung der interkulturellen Genderkompetenz dem versammelten spanischen Hofe mitteilte wie Columbus einst die Standfestigkeit eines Eis oder aber ihre Entdeckung der Kindheit in China an ihrer Universität, die erst durch die gleichrangige Thematisierung von Realität und Konzeption als auch objektiven und subjektiven Strukturen in ihrer Andersartigkeit in einer anderen Kultur in ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten erfaßt und verstanden werden könne. Dann wieder widersprach sie den Kollegen, die ihr widersprachen, dass nämlich die Kinder- und Kindheitskonzeptionen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts vor allem Bestandteil eines radikalen und ikonokla¬stischen Programms des Bruchs mit der Tradition waren, sie insofern weniger mit einer tatsächlichen Entwicklung von Kindheit zu tun hätten als mit diesen ideologischen Schlachten. Dazwischen aber vermengte sich auch jung und alt in gemeinsamen Interessen, gemeinsamen Zielen, allen lag am Wohlergehen dieses zarten, doch kraftvollen universitären Kükens. Eine Herrnhutherin kannte das Spiel bereits aus eigenem Antrieb und eigener Erfahrung aus Bonn, eine Bulgarin aus leidvollerer Erfahrung, eine Deutsche aus der Frauenbewegung, als diese unter der Bezeichnung Genderproblematik noch nicht den Mann mit einbezog. Der Stiftungspräsident bewunderte die Beine der Bulgarin und schlug ihr vor, alle Probleme auf den Malediven durchzusprechen, so wie man in den dreißiger Jahren nur bis Mallorca zum gleichen Zwecke gefahren war, das nach Ansicht des deutschen öffentlichen Fernsehens noch 1960 exotisch gewesen war. Die immer heitere, nüchterne Intellektualität ausstrahlende Sybille Rutzowski war diesen Weg vor Jahren erfolgreich gereist. Ihr war auch die Entdeckung zu danken, dass in der Erfahrung ihres Körpers weibliche Tiere und Frauen größere gemeinsame Erfahrungen teilen als Männer und Frauen. Der Schmerz, der einem zugefügt wird, wenn das Fleisch von den Knochen gerissen, die Knochen zerbrochen werden und das Leben gefährdet wird, sei ein Wissen, das für das männliche Geschlecht unerreichbar sei. Allerdings sei er nicht anonym und insgesamt genderspezifisch, sondern ganz individuell am eigenen Leibe zu erspüren.
Der Stiftungspräsident hatte offensichtlich die gleiche Empfindung, die ihn beim Anblick der endlosen Beine Petersburger junger Frauen gekitzelt hatte, wenn er ihnen nur fast unauffällig nachschaute, wie sie auf überhohen Absätzen engelgleich über das unregelmäßige Trottoir glitten. Sprachlos war er ihnen nicht nahe gekommen, doch bemerkte er unangenehm berührt, wie bei solchen Gelegenheiten seine Windeln verrutschten. Dies geschah ihm auch auf diesem Fest, als er zu vergessen versuchte, welchen Weg zwei Strumpfnähte nahmen. Zum eigenen Schutze führte die Bulgarin ihren deutschen Ehemann vor. Natürlich war die Ehe eine überholte Institution, doch, als sie sich entschlossen hatten zu heiraten, war dies ein großartiger Anlaß für eine Party gewesen, und es war schließlich eine höllisch gute Party geworden. Ein Problem dieser interkulturellen Ehen sei jedoch, dass ihr Mann nicht gut genug Bulgarisch könne, damit sie ihn erfolgreich in ihrer Muttersprache beschimpfen könne. Der Intellekt begann, allmählich unter die Gürtellinie zu rutschen, die inhibierenden Synapsen wurden allmählich zerstört, und manche dachte daran, wie es wäre to powder her face und diskutierte dabei die Variationsmöglichkeiten bei Schamhaarfrisuren. Doch waren das nur einzelne Inseln eines gemeinsamen Wollens, ein Versuch für die Nacht und die einsamen Tage in Gütersloh. Man glaubte, man spiele das Spiel der Verführung auf hohem Niveau und merkte teilweise nicht, wie das Selbst unversehens Spezies spezifisch reagierte. Frau war sich sicher, man beherrsche den horreur du flirt, man schütze sich mit einem arroganten Busen. Und bei einzelnen Männern begannen die burmesischen Glöcken ganz leise zu scheppern.
Dagegen reagierte der Siftungspräsident vorsichtig auf die Breitseite der Bulgarin. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt und verstand seine gleichgültige Empörung über Betrügereien beim Millionenspiel in Großbritannien und der Schweiz oder über die sexuellen Unregelmäßigkeiten bei der Starsuche unter Sängern und Gärtnern.
Die Bedeutung dieser Gründungsfeierlichkeit für die weitere Entwicklung der Gütersloher Universität kann gar nicht überschätzt werden, wenn sie auch nur eine Perle auf einem sehr viel länger gesponnenen Faden war, selten den Anfang bedeutete mit dem Austausch von Visitenkarten oder mehr, oft die endgültige Bestätigung oder die Gelegenheit zum Potlatsch. Vor dem Hintergrund der unausgesprochenen Pläne, Schulen zu bilden, Verwandte, Bekannte und Freunde zu fördern, lenkte man die Gespräche auf das Piotrowski-Gesetz nicht nur zur endlichen Schonung der deutschen Sprache, sondern um die Germanisten zu trösten und um Namen nennen zu können, die in der historischen oder Kulturlinguistik begannen, einen guten Klang zu bekommen. Ein untauglicher Versuch wäre gewesen, angelsächsische Lehnwörter durch die älteren französischen zu ersetzen, ein Trost immer, das arabische Lehngut zu entschlüsseln. Dieser Augenblick und dieses Gespräch erlebte die beglückendste Szene des Abends, als ausgerechnet Sombart, seine zarten Seiten den Beteiligten entdeckend, einen Zettel aus der Tasche zog, von dem er eine Lesefrucht von Kosztolányi zum besten gab: „Ich war deinem Volk nie böse, denn von ihm haben wir unsere schönsten Wörter bekommen, Wörter, ohne die ich unglücklich wäre – dreihundertdreißig unserer schönsten Wörter verdanke ich euch.“ Das war anders als es vom deutschen Karl von Rumänien berichtet wird, dass er seinem Sprachlehrer vorwarf, zu viele lateinische Fremdwörter zu verwenden. Und Karl, der sich mit Lichtenberg für den Empfang vorbereitet hatte, memorierte eine Fußnote: „In Frankreich teilte man sonst die gebratenen Tauben bei Tische quer, in unähnliche Hälften, und nannte das Stück mit den Beinen culotte, und das andere, nicht sans culotte, sondern séraphin. Danach teilte die Egalité so, dass jeder etwas vom sans culotte erhielt.“ In internationalisierter Herrenrunde wurden Anekdoten über die indische Dienerschaft – unser Verdienst ist es, auf diese Weise Arbeit zu gewähren – ausgetauscht, über den Türwächter, der sein wärmendes Feuer so placierte, dass die herrschaftlichen Räume verqualmt wurden und er auf sein momentanes Schicksal aufmerksam machte. Ohne es selbst zu merken, wurden in Eco’scher Manier Institute erfunden, die es nicht gab, von denen man aber glaubte, man habe sie besucht. Die Klassik spielte hinein, als ein Bildungsbürger die längst verblichenen olympischen Maskottchen Athena und Phevos und ihre umgekehrte Trichterform erwähnte. Der Wandel Shanghais, das Nicht-Wiedererkennen der Hotelpaläste des Vorjahres waren Thema, nicht mehr die längste Theke der Welt, sondern die höchstgelegene Bar der Welt, die „Wolke neun“ im Jin Mao Tower, tiefschürfende interkulturelle Beobachtungen über das Verhalten von Liftbenutzern jenseits der Paarungszeit. Ebenso wurden kurz gestreift die ideologisch präparierten Seelen der Machtelite und tägliche, nicht selbst erfahrene Kümmerlichkeit, die Globalisierung als neue und verdeckte Form des Kolonialismus. Eine vereinzelte Person hatte auch bereits in den Abendstunden auf der Congress-Avenue-Brücke in Austin gestanden und den Schwarm der mexikanischen Freischwanz-Fledermäuse beobachtet. Seitdem war er freiwillig zahlendes Mitglied der Fledermausschutzorganisation Bat Conservation International, die später auch den Rhinolophus hipposideros in ihren Kanon aufnahm. So wählte jeder das Feld, auf dem er sich nicht nur sicher fühlte, sondern auch annahm, dass der Gesprächspartner nichts davon verstand, verquirlte Raum und Zeit mit den Flugeigenschaften der Zanonia macrocarpa des Ignaz Etrich, und nur Herr Binding wollte über etwas sprechen, was er selbst (noch) nicht verstand, nämlich über die Herkunft der drei eisernen Ringverankerungen am Kuppelansatz des Aachener Oktogons. Als niemand diese Frage mit ihm erörtern wollte, weil ein anderer gerade von einem Gemälde des Luis de Morales berichtete, auf dem ein frühreifes Jesuskind an der Brust Mariens fingerte, erzählte er ungehört von einem Wappen am Dom zu Worms, das Wappen des Hund von Saulheim: Drei Halbmonde, Stern in der Mitte. Und dann begab er sich in den Dunstkreis einer der wenigen medialen Prominenten und hörte sich an, wie Joan Collins den € kritisierte, weil dieser ihre Zweitwohnung in St. Tropez so ungemein verteuert hatte.
Und die künftige Professorin Kim-Sebestyn gab vor drei altersklugen Revolutionären, die ihre Vergangenheit in den Kolumnen der Welt verborgen hatten und dazu beitrugen, dass man sich völlig unberechtigt über die große Zahl der Renegaten der achtundsechziger Bewegung wunderte, Beispiele für die Eindeutschung des Englischen aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wenn die Engländer bottoms up sagen und damit das Chinesische gan bei wiedergeben, dann wird daraus die deutsche interkulturelle Kompetenz, dass die Chinesen beim Zuprosten sagen: „Hintern hoch“, und das „verdammt verrottete internationale System des alten Europa“ wird zum „blutigen“. „We all were amused“. Doch brauchten sie ihre Vergangenheit nicht zu verbergen, weil der revolutionäre Kampf lediglich der Netzwerkbildung gedient hatte. Man hatte sich ähnlich wie die Balten im Dritten Reich auseinanderdividiert – Partei, Kirche, Widerstand –, um gemeinsam zu siegen. Man zählte auf den Schutz durch die oberen Zehntausend. Zu einem Gesellschaftsspiel wurde der deutsche Gebrauch des Genitivs wie „die Gesellschaft ist durch rechtskräftige Abweisung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse auf Grund des § 60 Abs. 1 Ziff. 5 GmbHG aufgelöst“. Immer wieder das Amusement über die eigene Sprache, über Wortungetüme wie Verkehrsinfrastrukturfinanzierung oder Bundesfernstraßenfinanzierungsgesellschaft, länger als die meisten walisischen Ortsnamen. Mit dem letzteren hätte die frühere Bundesregierung manchen Eiwurf vermeiden können. Wolfgang Stiehler erregte sich dazwischen über das in die Herkunftsbezeichnung Erzgebirger gemogelte „l“ und führte als Beweis an, dass es schließlich „das klaane Gungel“ und „gruße Maad“ heiße. Die Zwischenbemerkung der schnippischen Marie-Theres verhallte nicht ungehört, aber unkommentiert, als sie sich darüber zu wundern vorgab, warum die dänische Übersetzung Millerscher intimer Entäußerungen im Gegensatz zur deutschen auch die richtige Temperatur wiedergebe. Der so ungemein gebildete Sprachphilosoph Meyerhold bedauerte, dass der deutschen Sprache das so treffende englische Wort ostracism, to ostracize fehle. Fürwahr, für thinktank gibt es offensichtlich kein deutsches Wort, da uns die norwegische Unbefangenheit für tenketank fehlt. Um so schöner war jedoch seine Begeisterung für die Melodie der englischen Sprache, als er seine Zuhörer herausfordernd fragte, ob jemand eine melodischere Wortreihe nennen könne als „Torridge and Taw, the Axe, the Otter, the Exe, the Teign, the Dart, the Yealm, and the combined Plym, Tavy, and Tamar.“ Der große Portugalkenner Ian Ianson führte genüßlich kauend bulgur auf Bulgarien zurück. Aber doch war er ein neugieriger Mensch, kramte in seinen Hosentaschen, bis er einen bereits etwas alt gewordenen Zettel fand, auf dem ihm unverständliche Worte aus dem Biographisch-bibliographischen Kirchenlexikon standen: „Der Autor, Konrad Fuchs, schreibt selbst, dass das schwer zu verstehende Wörter seien. Warum erklärt er sie dann nicht? Was bedeutet Okzepank, Kaischnerenant, Tamaw, Conschaw, Hebascon?“ And somebody asked: „How would you translate ha:rtz four into American?“ Und so schwirrten echte und Volksetymologien durch den Raum, unterhaltsam und gelegentlich beschämend, wenn jemand nicht höflich schwieg oder wie ein jordanischer Gast, der als Student sein Geld im Bayerischen Hof in Sweifeeyeh verdient hatte, begeistert bemerkte: „Überall höre ich die Sprache des Apfelstrudels, von dem Unersättliche Dritthalb aßen.“ Wie die Benrather Linie wurden die Wasserscheiden zwischen der Tomate und dem Pomodoro gezogen, zwischen Apfelsine, Orange und Portugaleser. Und betrüblich war, dass die portugiesische Quitte im Grimmschen Wörterbuch nicht mit der Marmelade assoziiert wurde. Sprachverfärbungen wurden auf die ausländischen Ehefrauen zurückgeführt, so der bescheidene deutsche Wortschatz im Koreanischen durch die Wienerin an der Seite Yi Sŭngmans. Der Botanik bzw. der Musik wurden im dahinplätschernden Gespräch auch die Mandelbrot- und Randelbrotmenge, das Hasen- und Drachenfraktal subsumiert. Ein anderer künftiger Professor griff, als hätte er noch nicht vom Sitz der Schadenfreude gehört, die Theorien des 19. Jhs. wieder auf, dass das menschliche Gehirn aus verschiedenen Organen bestehe, der Erinnerungssinn ganz unmittelbar über den Brauen, schmerzerzeugend, wie nur Erinnerungen es können, die Geschlechtsliebe in nächster Nähe zum Rückenmark. Später durfte er darüber forschen und war einer der bedeutendsten Drittmitteleintreiber der Universität.
Nur gelegentlich schienen Gesprächsfetzen in eine unangenehme Ernsthaftigkeit hinabzuführen, wenn das Thema der Siedlungsgeschichte Palästinas aufgegriffen wurde, der eine geschickt auf die ersten Feuerstellen der Menschheit an den Quellen der biblischen Katastrophe verwies, ein weiterer die Eisbohrkerne aus Grönland hervorholte mit ihren Hinweisen auf flatternde Klimata, und dann jemand geschwind wie aus Versehen einen braunen Riesen in die Gesprächsrunde warf, um die neuesten Theorien der Ablenkung kleiner Sterne mit ihrem Urheber und dem Sozialdarwinismus als gefährlichem Geschöpf in Verbindung zu bringen. Aus dieser Gesprächsrunde ertönte auch ein verspäteter Toast auf die junge Universität. Ob die erste Siedlung auf dem Mars Gütersloh oder Amerika heißen werde, das werde sich zeigen müssen. Dies wurde in späteren Gesprächen weiter ausgeführt, dass dies nämlich bedeute „designed in Gütersloh, made in California“. Und schließlich gelangte man zu einem mentalen Darwinismus, zu der Frage von der Lernfähigkeit des menschlichen Geistes. Man erklärte die Beulen der Erde und ihre kurze Geburt innerhalb von zehn Millionen Jahren. Man spielte mit Caravaggio und seiner erotischen Emblematik, Enigmatik, nicht nur, um zu zeigen, wie ein Bild als Text gelesen werden könne, sondern auf einer zweiten Ebene dem Verstehenden ein Zeichen zu geben. Und so wurden nicht von der Empirie gemästete Thesen zwischen den Gesprächspartnern hin und hergeworfen, mit Vor¬teilen für jene, die nicht in den Flüsterton der Rede, ins Stammeln und Stocken verfielen, mit Tränen im Worthintergrund vor Spannung und kurz vor dem Ersticken vor Aufregung.
Dies war die Gelegenheit der Professorin Pozzi aus Urbino, von den „Momenti nel Decamerone di una poetica narrativa“ zu beginnen und diese einer Intertextualität zu subsumieren, zu den Canto notturno eines irrenden Leopardi zu wechseln mit einer Leichtigkeit, die ein mittelaltes philologisches As der Leopardi-Studien von vornherein verstummen ließ. Sie sprach über den Nutzen oraler Traditionen, über „il bello e il bruto“ im italienischen Theater, dass es einmal „ultraibseniano“ gewesen sei, verzichtete jedoch trotz amerikanischer Comedy-shows und Erinnerungen an infantile Witze über die Länge von Schwänzen zu raisonnieren oder Mae West zu kopieren, „ist das ein Revolver in Deiner Tasche oder freust Du Dich nur, mich zu sehen?“, weil unverfänglicher die Pornographie des Marquis de Sade war. Vielleicht war es auch ein unbewußter Aufstand gegen die kühne deutsche sexualsprachliche Terminologie. Doch räkelte sie sich stattdessen gekonnt lasziv – zur Entspannung hatte sie oft genug die Romane der Barbara Cartland gelesen, ihr Alter ignorierend, den pudellockigen schwarzen Kopf mit stählern gelockten Strähnen zurückgeworfen, ein mokant forschender Blick unter halb gesenkten Lidern, schwer wie die schillernden Panzer eines Käfers, dazu ein großzügiger Mund, in fließenden Siebenachtel Hosen aus schwarzer Seide, die in Tulpenform endeten, verführerisch kleinbrüstig, erkennbar ohne BH – nicht nur Tomi Ungerer teilte den Geschmack seines Vaters – auf ihrem weißen Gartenplastikstuhl. Als sie aufstand, war sie eine heitere unberührbare Primadonna. Sie repräsentierte die bewußte unschuldsvolle Verführung. Mit Quellenangabe erzählte sie ein Bonmot aus den Ullstein-Heften der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts über die verbalen Reaktionen der Frau in verschiedenen Nationen nach der ersten Nacht und ergänzte die Reihe durch die aufgeschnappte Bemerkung einer Griechin: Diese sage nichts, sie warte auf das zweite Mal. Von dort war es nicht weit zu Beobachtungen über die Rezeption der Lolita rund um die Welt und ihr Verglühen bei 451 Fahrenheit.
In ihrer Majestät wäre sie ein Gewinn, dachte jeder, der sich zu ihren Füßen benahm wie ein lümmelnder Grasfrosch auf Eierpiraterie bedacht, manchmal mit vor Bewunderung versiegender Stimme sich ausbreitete, während sie noch einmal genußvoll einen Satz aus ihren Begrüßungsworten auf ihrer Zunge zergehen ließ, dass Gütersloh „un avvenimento intellectuale de eccezionale interesse per mundo“ sei. Sie hatte das Vergnügen an der Universitätsgründung mit der liebenswerten Eitelkeit einer Frau verglichen, die sich anders als die Victoria Vincenzo Consanos, vielmehr wie die Venus von Milo von ihrem Bewunderer im Spiegel betrachten ließ. Doch blieb ihr eigenes vergnügliches Geheimnis, dass sie die Réunion anläßlich der Universitätsgründung in ihrer kurzen Ansprache mit den geselligen Zusammenfügungen auf den Bildern Gaspare Traversis in Verbindung gebracht hatte. Und leicht versteckt fragte sie: „Können Affen Gott überhaupt lästern?“.Wäre sie nicht akademisch bereits zu alt gewesen, so wäre sie tatsächlich ein Gewinn, da zwar auch sie sich gelegentlich mit der Welt entzweit sah, doch hatte dies nicht ihre Mundwinkel zu schwer werden lassen und keine anderen Linien als die Variationen des Lächelns in ihr Gesicht gezeichnet.
Erst als ihr Gordon eine Passage aus einem Gespräch über Zeitungsdeutsch erklärte, die sie am Rande ihres eigenen Gesprächzirkels aufgeschnappt hatte, „das Maggikochstudioentzücken ergoß sich wie frauenschenkelwarmes Griebenschmalz auch über die finstersten Gesichter“, spürte sie im Gedanken an sich allmählich unter der Haut bildende Fettkügelchen so etwas wie den Anflug schlechten Geschmacks, den sie dadurch verdrängte, dass sie sich auf das Urteil des Teiresias berief, welches ihm als Strafe Heras das Augenlicht gekostet hatte, und sie verkündete, der Mensch müsse einen leibökologischen Körpervertrag festschreiben, der die Beständigkeit eines sich im Park der Welt bewegenden sechzigjährigen Körpers verewige. Und doch murmelte sie hinreichend verständlich „brutta!“ und „merdosa!“.
Vor mehr als dreißig Jahren hatten manche der Anwesenden aus dem Radio erfahren, dass ihr Mittelalter mit eben diesem Alter beginne. Vor zwei Jahren hieß es in der Presse, ab vierzig werde man älter, jetzt mußte man sich ab fünfunddreißig um das Alter sorgen, doch warf eine nicht zuzuordnende Stimme ein, man müsse sich gar keine Sorgen machen, da man sich eh ab einundzwanzig auf der abschüssigen Bahn zur Senilität befinde, doch könne man sich damit trösten, dass die Dicynodonten in Australien, die hundert Millionen Jahre länger lebten, der Erinnerung entflohen seien. Der Erfolg, die mittlere Lebenserwartung von Spulwürmern auf 124 Tage geschraubt zu haben, stellte mit seinem methusalemischen Maßstab vieles andere in den Schatten Es war ein sehr deutsches Gespräch unter Deutschen, um zu beweisen, dass man in Deutschland nur lügt, wenn man höflich ist. Es entglitt allmählich der Kontrolle der Senora Pozzi. Und dazwischen mengte sich der scheinbar unschuldige Professor Landmann mit einem verwunderten Augenaufschlag und der verschmitzten Frage, „ist das wirklich so? Nein, das wußte ich ja gar nicht“, während er sich innerlich wie ein Bukarester Kanake vor Lachen schüttelte. Er nahm die Professorin Pozzi auf den Arm – allerdings in einer Weise, die man nur als morigerous bezeichnen konnte, indem er die Männer zu den Linkshändern des Menschengeschlechts erklärte, deren Aufstand der Entrechteten vor siebentausend Jahren das, was wir als Zivilisation bezeichnen, eingeleitet habe. Einer der größten Erfolge des Mannes war, die Frau, die femina, in der katholischen Theologie zu instrumentalisieren, als mulier, virgo, uxor, conjux, sie jedoch nie femina zu benennen. Mann habe sich von seiner Rolle als Wespenspinnenmännchen emanzipiert – sollte man das so verstehen? Oder habe das Männchen verdrängt und vergessen, dass jede zusätzliche Sekunde des Geschlechtsaktes die Chancen für die Übertragung des eigenen genetischen Materials erhöhe und jeden Tod, auch den aufgrund kannibalistischer Determiniertheit des Weibchens lohne? Und versuchen Sie, sich zu vergegenwärtigen, wie es war, als der kleine Ankäus, dieser, obwohl vertically challenged, Held des Argonautenzuges, von den Priesterinnen der großen Muttergöttin durch das mallorquinische Unterholz zu Tode gehetzt wurde. Das Y-Chromosom ist der Träger der Kultur und bereitet allen Beteiligten größeres Vergnügen als an der Ausgabeluke der Samenbank Schlange zu stehen. Danach führte er die Professorin Pozzi in das Jahrhundert der Ärzte, die drohten, die Priester arbeitslos zu machen, indem sie und nicht mehr die Religion den Sterbenden geleiteten. Dagegen erwiderte diese in italienisch gefärbtem Englisch mit der Grabinschrift des Arztes Silvester: „Silvester the Physician lies here, and his dissolution shows that medicine withstands not death.“ Daraus entwickelte sich zunächst der Versuch einer Verteidigung Bandinellis, dann ein anregendes Gespräch über die Materialisierung der Aufklärung im 18. Jahrhundert und aus dem 18. Jahrhundert in die Tiefe der Zeit zu den Hominiden, den ersten sapientes, die sich vor 1,8 Millionen Jahren mit Zahnseide die Zähne polierten, das Putzen als die älteste Kulturtechnik des Menschen oder Beweis feliner Verwandtschaft. Und der Weg zur rationalen Erklärung immer wieder begangener Fehler, so dass seit der Nachprüfbarkeit menschlichen Handelns durch seine verschriftlichte Verewigung die Menschen politisch immer richtig gehandelt hatten. Daraus wiederum ergab sich eine entspannte Zweisamkeit im wogenden Meer der internationalen, meist deutschen Academia am Buffet und im Gespräch und beim Rotwein, dessen Polyphenole die Aktivitäten von Genen ankurbelten, so dass sie den Alterungsprozeß günstig beeinflußten, und die Pozzi und der Landmann amüsierten sich gemeinsam, während sie vergnügt aus einem Schüsselchen mit Fruchtsalat löffelten, dabei zwei Damen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft lauschten, die sich darüber austauschten, was Susanna nach dem Bade am besten anziehen sollte oder, wo David denn stecke auf dem Bathseba darstellenden Stundenbuchblatt des Guyot II Le Peley – vielleicht, weil sie bei aller Lebendigkeit sich ihre Selbstkritik erhalten hatten, als Mittelmaß die Qualen der Menschen eher nur noch zu vergrößern, die Fehler im Gewebe zwar zu erspüren, doch nicht in der Lage zu sein, mit Worten diese zu lösen und zu tilgen –, bis eine wohlige entspannte Müdigkeit sie trennte, über die nicht mehr ganz so modernen italienischen Theatersatiren I bambini sono di sinistra und den Helden eines anderen Stückes, Giorgio Persicano.
Aus der unschuldig geistreichen Bemerkung über das Jahrhundert der Ärzte, die von einem der jungen Vielversprechenden zufällig aufgeschnappt worden war, entstand später eines der großen geisteswissenschaftlichen interdisziplinären Projekte der Johannes-Universität zur Rhetorik der Immunität – das Jahrhundert des unempfindsamen Textes. Dazu führte dann der zum devot lauschenden Ohr gehörige Kopf Anita Paalens aus: „Die Macht der Literatur ist jahrhundertelang nach dem Vorbild der Ansteckung gedacht worden. Die kathartische Wirkung der Tragödie, aber auch das ansteckende Lachen der Komödie setzten voraus, dass der Zuschauer das Bühnengeschehen als physischen Einbruch erlebt. Der empfindsame Roman verstand sich als Organ zur Mitteilung feinster Empfindungsnuancen und schuf damit ein Medium, das die romantische Erzählung zur infektiösen Verbreitung beklemmender Grenzerfahrungen nutzen konnte.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts mehren sich jedoch die Anzeichen eines Wandels im Selbstverständnis der erzählenden Literatur. Seit Mitte des Jahrhunderts tritt Gustave Flaubert mit einer Reihe von Romanen hervor, die den Leser nicht länger damit locken, in eine Welt exemplarischer Erfahrungen großer Gefühle oder extremer Zustände einzutauchen. Stattdesssen bieten sie ihm die Teilhabe an einer Distanzierungsübung. Statt ins Geschehen hineingezogen zu werden, prallt der Leser gegen eine federnde Wand aus Ironie und anderen Abwehrmechanismen. Sein Identifikationsbedürfnis findet kaum noch Nahrung. Diese Literatur, so scheint es, will nicht mehr anstecken, sie will Unempfindsamkeit verkörpern. Die ‚kalte‘ Faszination, die sie auf den Leser ausübt, liegt im Versprechen der lesenden Teilhabe an dieser Unempfindsamkeit. Flaubert ist der Autor, dem man nachsagte, er führe die Feder wie ein Skalpell. Was die Technik des „chirurgischen“ Erzählens betrifft, so haben zahlreiche moderne Autoren verschiedenster kultureller Herkunft seine Nachfolge angetreten.
In der Rhetorik der Immunität wird die Traditionslinie modernen Erzählens erforscht werden, an deren Anfang Flaubert steht – und zwar in steter Auseinandersetzung mit der Geschichte derjenigen Disziplin, die seit dem 19. Jahrhundert den alten Traum von der Immunität monopolisiert und auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hat: der Medizin. Der Habitus des Arztes oder Physiologen, der erstmals Flaubert zugeschrieben wurde, ist für moderne Erzähler so gängig geworden, wie es im 18. Jahrhundert der Habitus des Seelsorgers oder Pfarrers war. So werden die Invasionsängste des bürgerlichen Subjekts geschürt und gleichzeitig seine Immunkräfte gestärkt.“
In einem großen zentralen Kreis sammelten sich deutsche Verleger und Literaten um die Begeisterung von Ulla Berkéwicz für Giorgio Agamben und sein altes neues Modell, was das Genie sei. Ein begnadetes Wesen, das jeden anderen Erklärungsversuch überflüssig mache, das die faulen Äpfel in der Schublade Schillers, das acht Meter vom Schreibtisch entfernte Schnupftuch Kants – war Jesus Epileptiker? – zu den Petitessen machte, die sie waren. Niemand hatte Erfolg, wenn er stattdessen die soziologische Definition Lange-Eichbaums vorbrachte und das Genie als Wertebringer erklärte oder Lombroso noch nicht überwunden hatte, non est magnum ingenium sine mixtura dementiae.
Physiker sprachen über Teleportation der Quanteneigenschaften von Photonen, Biologen über die Wanderungen von Helicobacter pylori von Afrika und Sibirien bis Gütersloh, von der Yersinia pestis und dem Rattus norvegicus. Professor Bismillah Bulatov vom kasachischen Wissenschaftszentrum für Quarantäne und Zoonosen in Almaty schaffte die Entlastung und Ehrenrettung für den Rattus norvegicus und ließ ihn in die Bedeutungslosigkeit hinabsinken, indem er von seinen Forschungen an den Großen Rennmäusen (Rhombomys opimus) berichtete und in welcher Weise die Populationsschwankungen unter ihnen ein Hinweis für den Ausbruch einer Pest seien. Oder über Überlegungen, wie die Versklavung von Ameisen der Art des Myrmecocystus mimicus durch ihre Verwandten von der Art des Myrmecocystus depilis mit der unter den Menschen der Vergangenheit und Gegenwart vergleichbar sei, man von dem Myrmecocystus depilis vielleicht sogar lernen könne. Der Biologe Holz von der Südküste des Bodensees begann ziemlich ungehört, vom Xiphophorus helleri und dessen beim Männchen auffällig verlängerter Schwanzflosse zu erzählen, doch nur doppelt Eingeweihte erkannten das phallische Paradoxon, dass sich das Weibchen im Laufe der Zeit durch Genveränderungen ein größeres sexuelles Vergnügen herangezüchtet hatte. Besonders Initiierte wiesen darauf hin, dass – als beträfe es sie nicht – das Männchen dadurch größerer Gefahren durch größere Räuber ausgesetzt wurde und man sich so unschuldig des Überdrusses weiblicherseits entledigen könne. Parasitologen ließen sich über den Microphallus papillorobustus aus, der mit seinem Vordringen in die grüne Schlabbermasse, die das Hirn der Sandkrabbenart Gammarus insensibilis ausmacht, diese in den Irrsinn treibt. Ergänzt wurden die Ameisen-Schreckensmeldungen durch die Berichte über die im 2. Weltkrieg von Afrika nach Australien eingeschleppte Anoplolepsis gracilipes, die auf den Weihnachtsinseln mit mathematisch gesteuerter Aggression bereits ein Drittel der Roten Landkrabben ausgerottet habe und ihre Opfer hilflos mache, indem sie ihnen Säure in die Augen spritze – Anlaß für die Soziologin Olga Apostolopoulou, sehr pointiert die Lorenzsche Verhaltensforschung wiederzubeleben und von der Gedankenpest zu sprechen. Dabei vergaß sie auch nicht auf die Ainuähnlichkeit des gealterten Darwin hinzuweisen Andere hatten über die Remipedia, speziell Godzilliognomi frondosi, und deren stupender Gehirnleistung geforscht, die augenlos, mit Chemorezeptoren bestückt, erstaunlich differenzierte Tätigkeiten ausüben können. Unser aller Olga – besser bekannt bei ihren Freunden als Maria Theresia, mit unglaublichem alkoholischem Standvermögen, scharfen, unattraktiven Zügen, doch um so lebendiger im Kopf, beteiligte sich ebenfalls an den unterschwelligen Anzüglichkeiten, wenn sie von der Untersuchung über Siebenschläfer berichtete, dass eben diese nur in fetten Jahren munter wurden. Geologen zerbissen zwischen anderen Happen genüßlich ihre Zungen an der Aussprache des Chicxulub-Kraters, um von dort über Cenotes, Iridium und Spherulen zu dozieren. Und der Lokalhistoriker Loges, dem die linguistischen Diskussionen bisher entgangen waren, begann vor fehlenden Zuhörern über den Namen der Stadt Lügde zu raisonnieren: aus Liuhidi, hidi = Ort, liu = vielleicht Leute, oder idi, ithi, ede = Feld, Flur und Liu = lage, eine von Holz entblößte Fläche. Nur ein besonders schneller Konversant warf ein: vielleicht einfach nur Lichtung und ging seiner Wege, um sich einen Rotwein zu holen. Politologen erörterten ernsthaft den Vorschlag Horst Mahlers, für Deutschland ein Fahrverbot für Ausländer auszusprechen, Mediziner führten das Endometrium und Myometrium in die Unterhaltung ein. Zwei Mediävisten stritten länglich über die Form der Bascinet, listeten alle Teile mittelalterlicher Rüstungen auf bis sie merkten, dass der eine vom Anfang, der andere vom Ende des 14. Jahrhunderts sprach und trennten sich dann in Freundschaft. Literaten waren sich einig darüber, dass Zen-Gedanken und Zen-Kunst längst überfällige Lese-Weisen Wordsworth’scher poetischer Produktion waren, Methoden zur Entfernung dualistischer in der westlichen Epistemologie begrabenen Idiome – cartesianische Dichotomien, um so zu erkennen, dass die ganze phänomenale Welt, dass alles, was existiert, verbunden ist in einem gigantischen, interrelierten interanimierten Geflecht sich bewegender Aggregatzustände.
Dieses vordergründige Murmeln verdeckte die raunenden Obertöne, wer wann, wo, wie – vielleicht ich, der Maijer, die Müllerin – als Platzhirsch oder Bienenkönigin obsiegen werde in Gütersloh, Bielefeld, Konstanz, in Genf oder Berkeley, verdeckte den tödlichen Kampf innerhalb der Wir-Gruppe, eine der seltenen Gelegenheiten, während derer Rivalitäten hinter erfolgreicher und versuchter intellektueller Eleganz verschwanden. Und doch war es keine Reunion, in der man sich auf Berliner Weise outete, sondern man bewahrte die Hamburger Diskretion. Selbst die Dreistigkeit, eine weibliche Brust zu berühren, erklärte man sich mit klammen fröstelnden Fingern und nicht mit einer sexuellen Neuorientierung. Nur an einer Ecke drohte zu später Stunde und keineswegs nur unter dem Einfluß leicht alkoholisierter Softdrinks – sie entsprachen dem Inhalt der jeweiligen Institutsgetränkeautomaten – die Konversation unnötig an Schärfe zu gewinnen, als die Vertreter der exakten Naturwissenschaften und Anhänger verschiedener Systeme, der Glaciologe Burnham-Smith und der Hydrologe Wallenstein sich nicht über die Fließrichtung der Sintflut am Bosporus einigen konnten und die Limnologin Nevsky aus Odessa überdies noch ihre Zeitskalen in Frage stellte. Und fürwahr gab es Gäste, die die Politologie zur Grundwissenschaft aller Wissenschaften erklärten, zur säkularisierten Theologie, zur verständlichen Philosophie, die, was unterschlagen wurde, kurzfristig wie keine andere Wissenschaft Sozialverhalten zu erklären im Stande sei, während in einer anderen Ecke der Wissenschaftstheoretiker A. Brown und der Wissenschaftsempiriker B. Hanbury darüber stritten, ob Theorie oder Empirie die Wissenschaft weitergebracht habe. Mit Teleskop und Mikroskop siegte Hanbury.
Für die Konferenz der Tiere – so wie Genetiker in Göteborg Mäuse so manipuliert hatten, dass sie hoppelten wie Hasen – die Hoffähigkeit der Tiere erst mit ihrer Vernichtung provozierend – in Gütersloh am Ende des rauschenden Festes, wenn es zum Techtelmechtel kam, die Spermien frisch und munter nach langem Kälteschlaf der Wärme nachwanderten und oft unkontrollierbar auch das zweite Palpum eingeklinkt wurde, dann ruhten die Brüste wie zwei halbvolle Reissäckchen auf dem Leib, bei aller Hagerkeit war doch die Taille verschwunden, etc. etc. War man sich für den Abend besonders nah gekommen, ertasteten einige die gegenseitige Eignung. Es war nicht bei jedem männlichen Teilnehmer so, dass er im westfälischen Princeton eine Erektion nicht schaffte. Und wie häufig war eine Lydia Delektorskaja, die ihren Koffer immer gepackt bereithielt? Doch ergaben sich aus diesen dem limbischen System entspringenden Reaktionen im Gespräch Überlegungen zur menschlichen Freiheit.
Inez Jentner als immer noch große, inzwischen ältliche Dame des hauptstädtischen universitären Lebens, lieber als Caesarin im gallischen Dorf denn zweite in Erlangen oder Tübingen, sprach ihren Katalog bereits in Passau, Trier und Honnef implementierter Innovationen und wiederholte sich so lange, bis fast jeder sich ihrer bohrenden Gewalt ergab und erschöpft zustimmte. Als sie ihrer großen Sorge und Betroffenheit über die Weltlage Ausdruck verlieh, erwiderte ein amerikanischer Kollege oder Tom Hanks, was sein Land wolle, das sei that you are never going to fuck with America like that again. Diese Äußerung ließ sie politisch korrekt, doch kaum von anderen bemerkt, erröten, und sie erinnerte spitz und ernsthaftig an den T-shirt-Aufdruck, der im Grand Slam in New York verkauft wurde, „Irak first, then France“, ohne damit nun zu einer größeren Heiterkeit beizutragen, ebensowenig gelang ihr dies mit der Rigidität und Selbstzensur der Amerikaner, die einem erwachsenen Menschen keine Zigaretten verkauften, weil er diese an einen Minderjährigen weitergeben werde – in so einem Falle würden österreichische Eltern, die ihre Kinder zum Zigarettenkauf schickten, gewaltig protestieren. Anabolika jedoch würden rezeptfrei verkauft, so dass man zur großen eigenen Überraschung erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahre, gedoped gewesen zu sein. Es sei die anmaßende Großmacht Amerika, die mit ihren Handlungen die gemeinsame euro-amerikanische Kultur zerstört habe, vielleicht zum Guten, da dies zur Emanzipation der nichteuropäischen Kulturen beitrage. Es war immer dieses gesellschaftlich korrekte Erröten, das auf ihren Wangen erschien, wenn sie wieder jemanden ertappt hatte, der aus angestaubten Berliner Witzesammlungen der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Teile zum besten gab, ohne die Quelle zu nennen. Wie eine manipulierte Schmeißfliege bewegte sie sich nur mit der schwarz-gelben gestreiften Tarnung einer Wespe, so dass keine Mosaikjungfer sich an sie heranwagte, erst recht nicht mehr, als sie zwischen zwei Schlucken Wein die These Judith Butlers aufgriff: „Die Wendung von einer strukturali-stischen Betrachtung, in der Kapital verstanden wird als gesellschaftliche Beziehungen strukturierend, und zwar in vergleichsweise homologer Art, hin zu einer Sicht der Hegemonie, in der Machtbeziehungen der Wiederholung, der Konvergenz und der Re-Konvaleszenz unterworfen sind, brachte die Frage der Zeitlichkeit in das Denken der Struktur und markierte eine Verschiebung von einer althusserianischen Theorie, die strukturale Totalitäten als theoretische Objekte annimmt, zu einer solchen, in der die Einsichten in die kontingente Möglichkeit der Struktur eine erneuerte Konzeption der Hegemonie inaugurieren, diese ist verbunden mit den kontingenten Orten und Strategien der Re-Artikulation der Macht.“ und damit wegen ihres phänomenalen Gedächtnisses, fast wortgetreu eine solche These zitieren zu können, konkrete Bewunderung erregte und dann Müdigkeit provozierte, als sie diese nicht unnatürlich, aber allzu erschöpfend als ungefesseltes Geschöpf auf den Postkolonialismus des männlichen Chauvinismus anwandte. Herr Landmann, der sich kurz diesem Kreis zugewandt hatte, erwähnte die alte Schellackplatte, heute kaum noch abspielbar, mit Parakeet Lessons. The correct method to teach your parakeet to talk, distributed by Dauntless International in 225 Lafayette Street. Ein weiterer Gast, der dem Verlauf des Gesprächs nicht gefolgt war, warf ein, die dürfe man auf keinen Fall wegwerfen. Vorsichtiges Nachfragen ergab, dass er Generalsekretär der Analogue Audio Association sei.
Dann sprang ein Teil der Unterhaltung weg von den pornographischen Sachsenwald-Filmen, fort von den antirassistischen Vorfällen in Pariser Vorortzügen hinüber zur postnationalen Identität, aus der Witzbolde die postnatale machten, zur Abgrenzung von Mitbürgern und Kollegen unter dem Gesichtspunkt, wann aus Mitbürgern als Kollegen Freunde, Fremde oder Feinde werden. Halb hingehört meldeten sich auch die Natalisten zu Wort, um zunächst bei den Momisten zu enden. Sie kehrte zurück zur nationalen Identität, indem das alte Kinderbuch von Karin Michaelis und Hedvig Collin Ausgangspunkt einer ausführlichen Diskussion über Dänemarks Rolle als Weltmacht wurde und die Hauptperson Bibi Archetyp des sozialen Verführers. Mit leichter Hand wurde daran das Problem der gefähr¬deten Bindungen geknüpft und mit der Soziologie der Emotionen und der Dynamik von Gruppenidentitäten umschlungen und wieder im „ich“ aufgelöst, ein guter Anlaß, das erste Ich bei Walther von der Vogelweise zu suchen, den Gebrauch der dritten Person bei Caesar zum Über-Ich zu erklären, das fehlende Ich in der chinesischen Lyrik wieder zurückzuführen zur allumfassenden Gruppenidentität – Du bist auch ich. Herr Landmann tastete sich mit der unterschiedlichen Umsetzung historischer Erfahrungen voran, wie die Polen aufgrund der positiven Erfahrungen mit der Kavallerie während der napoleonischen Kriege glaubten, diese ähnlich erfolgreich im Zweiten Weltkrieg einsetzen zu können. Die gemeinsame selbst-befriedigende Sprache war das Nano-Pidgin in einem großen Kompetenznetzwerk, so wie es sich später in den neu zu schaffenden Disziplinen der heute gegründeten Universität herausbilden sollte, in denen Nano-Forscher Mythenforschung betrieben und Laboratorien Gegenstand sozialwissenschaftlicher Feldforschung wurden. Neu erst mußte eine neue Sprache erlernt werden, aber der Gedanke daran erfreute die Gemüter, denn so gehörte man zu den Denkern. Vom Denken gelangte man zum Sprachgebrauch. Otto Sarrazin machte aus dem Veloziped das Fahrrad. Dagegen wurde Holberg erwähnt, der den Aphorismus geprägt hatte, dass Mann mit seinesgleichen Latein, Französisch mit den Damen, Deutsch mit dem Hund und Dänisch mit dem Diener sprach. Landmann wanderte weit in die Geschichte zurück, als er den Talmud zitierte: Griechisch für die Dichtung, Lateinisch für den Krieg, Syrisch für das Klagen und Hebräisch für das Sprechen. Nur das Tora-Hebräisch verdiente die Benennung als leshon ha-qodesh. Auf irgendeine Weise mußten in ihren Kriegen auch die Mediomatriker und Nemeter miteinander kommuniziert haben. Und so rieselten gekonnt enspannt das Wissen um was und wen, Innovation, Renommé und vielversprechende Namen von einem zum andern, mit dem Rat des einen, doch die Kharī Bolī mehr zu pflegen, breiteten sich gelegentlich aus wie sanfte Wellen in einem stillen Gewässer, wie elastische Wellen in deformiertem elastischen Material – so einer der reflektierenden mathematischen Physiker, wurden gespeichert oder abgetan, wenn der Abstand zwischen Wollen und Schein zu klein zu werden drohte. Von weitem sah man meist nur die Beteiligten aufeinander zuzappeln und konnte nur ahnen, dass sie aufeinander einplapperten. Alle Interessierten wahrten den kritischen politischen Konsens, um nicht eventuelle Enscheidungsträger zu verprellen.
Karl selbst begab sich kurz in ein Gespräch über Ornament und Tatuierung, in dem er als Minderheit die Meinung von Adolf Loos übernahm: „Je tiefer die Kultur, desto stärker tritt das Ornament auf.“, und er ließ sich vergnüglich erregend gelegentlich nur ein wenig von der Schweizer, so gelehrten Irene Bluntschli ablenken, indem er immer wieder in angemessenen Abständen nach ihrer üppigen echten roten Mähne Ausschau hielt, seinen jugendlichen Nasenfetischismus wieder entdeckte, wenn er darunter ihre schlanke vorspringende Nase über einem sanft vorsichtig lächelnden Mund sah, ein seltenes Mal sie auf ihre Forschungen zu Paul Flemings und Olearii Reise nach Persien ansprach und ihr nicht verriet, dass sie gemeint war, wenn er ihr bewies, dass er Verszeilen ihres Dichters kannte: „Halb gebissen, halb gehaucht, halb die Lippen eingetaucht, nicht ohn‘ Unterschied der Zeiten, mehr alleine denn bei Leuten.“ Sie war ein Erlebnis, das sich trotz der heftigen Ausschüttung von Phenyläthylamin in seinem Gehirn nicht erfüllte, doch dachte er später immer wieder an sie, an ihre verborgen traurigen Augen und die berührungslosen Bewegungen ihres Körpers, als wäre sie noch nie berührt worden, trotz einer erwachsenen Tochter. Und doch blieb sie nicht Maske, sondern wurde lebendig, obwohl Karl nie auch nur den Versuch unternahm, einen schönen Traum zu realisieren, sondern sich einmal mehr in der negazione übte. In allen späteren Jahren, in denen er sie eher zufällig gewollt sah, zeigte sich, dass sein und ihr Sero¬tonin-Spiegel ihre Beziehung dominierte. Einmal nur schenkte er ihr ein kleines Bändchen auserlesener Gedichte Paul Flemings, die Brockhaus in Leipzig 1822 veröffentlicht hatte. Sie nahm er nicht in sein Dossier auf, hoffte vielmehr wider jede Hoffnung, sie für „seine“ Universität gewinnen zu können. Nur einem Leser aus Kansas teilte er davon mit und schrieb davon, wie ein zu großzügiger Mund Vollkommenheit erkennen lasse. In allen anderen Diskussionen hielt er sich zurück, verschwieg seine Überzeugung, man müsse das Individuum befreien und freilassen, wenn intensiv und ernsthaft über Eliten diskutiert wurde, ob Universitäten eine Gesamtmenge von Eliten sein könnten, wie es die Vertreter aus unterschiedlichen Gründen attraktiver Universitäten meinten und postulierten, oder Fakultäten, wie die Vertreter berühmter medizinischer, juristischer oder wirtschaftswissenschaftlicher Teilbereiche sonst weniger berühmter Universitäten meinten, oder kleinere Arbeits- und Forschungszusammenhänge der geisteswissenschaftlichen Elite. Auch Professor Landmann bemerkte Irene Bluntschli an diesem Abend und nannte sie, da er sie nicht kannte, im Geiste Belinda und glaubte, sich an ihren Namen im Gästebuch des Hradschin zu erinnern unter den Unter¬schriften Lady Hamiltons und Horatio Nelsons. Um sie aus seinem Blutkreislauf zu verbannen, zitierte er leise vor sich hin: „On her white Breast, a sparkling Cross she wore, which Jews might kiss and Infidels adore.“
Die Randale, die der altgewordene Bürgerschreck Walter aus Ummeln, mit Aufrufen aus den sechziger Jahren vor der Stadthalle versuchte, verhallte ungehört, während einzelne Gäste zu spät durch die polizeilichen Absperrungen hinein- oder zu früh – aus welchen Gründen auch immer – hinausschlüpften und daher keine Zeit hatten, ihn wahrzunehmen. Er trug einen viel zu langen Text vor sich her, mit dem er die Front der Stadthalle etwa zwei Stunden abschritt, vergeblich nur deshalb nicht, weil sich die versammelten Presseleute den Text geben ließen. In der Gütersloher Ausgabe der Westfälischen Nachrichten wurde er am nächsten Tag ab¬gedruckt, um die Aufbruchsstimmung in Gütersloh zu illustrieren: „Wofür ist Kunst? Sind es nicht die Menschen die sich in den Ausdrucksmöglichkeiten des Gefühlslebens bewegen? In welche Disziplin sollen die jungen Sünder gezwungen werden, damit sie sich im künstlerischen Ausdruck üben? Ist es so, dass sie in die schulische Ausbildung sollen, um dann die Hure Gütersloh zu küssen? Warum sollte Gütersloh hinterherhinken mit lauwarmem Teewasser, während die ganze Welt sich jetzt von den stabilen akademischen Normen erholt? Hier nun sind so viele weitgereiste Menschen – hier sind doch jetzt genug Kräfte, um die Stadt zu einem Nest der avant-garde zu machen –, von hier kann vieles in die Welt entlassen werden, wenn einige Bande gelöst werden, Bande, die von Moralisten, Angsthasen und Krämerseelen in allen Bereichen unserer Gesellschaft gesponnen werden. Selbstverständlich ist es die Aufgabe jedes geköpften Künstlers, sich selbst zu erneuern, aber das ist nicht leicht ohne Kopf und wenn der Rest unter religiöser Demagogie begraben wurde. In dieser Stadt begraben zu sein, bedeutet nur, dass der Mord hier geschah. Eine solche Sinnlosigkeit darf sich nicht fortsetzen. Wenn es keine Erlösungsmöglichkeit für einen jungen Künstler gibt, dann ist sein Schicksal halb Selbstmord, halb ein Mord der Gesellschaft. Hier wird Lebensraum für junge frische Seelen gefordert, bevor sie im eigenen Blut ersticken. Kunst – das sind nicht mehr Bilder in einem Rahmen, das sind die Farben der Seele, der geistige Zustand, besonders das Menschliche in konzentrierter Form. Hat Gütersloh eine Chance?"
Überhaupt waren die anwesenden Journalisten der verschiedenen Zeitungen überwiegend schneller als die Realität, nutzten die Vorabinformationen der praeuniversitären Pressestelle, um dann am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren bis hin zu den Erlebnissen des bekannten Wissenschaftsjournalisten Otto Limberg, der in einer späteren Zweisamkeit durch sein Gelächter die sado-masochistischen Neigungen einer jungen aufstrebenden Forscherin trotz zunächst vorhandener Gutwilligkeit auffing, störte und zerstörte. Weder wurde dieses Ereignis Teil seiner Berichterstattung noch entstand daraus eine dauerhafte Beziehung.
Nicht nur am Dönerstand auf der Rückseite des Bahnhofs interessierte man sich nicht für den Auftrieb an Prominenz. Nur der nicht zugereiste Dietrich mumelte etwas von erst kuseln, dann jökeln. Im etwas heruntergekommenen italienischen Eiscafé daneben murmelte jemand verzweifelt betrunken etwas über den Mord an seiner Freundin, die es nicht anders verdient habe, da sie mit einem Türken gegangen war. Auch dem ehemaligen Dr. Schön bereitete die versammelte Herde Schmerz. Er kannte mehrere Gäste aus besseren Tagen, die nur nicht wie er übertrieben hatten und deshalb entlarvt worden wären. Ihnen war im Gegensatz zu ihm Einlaß gewährt worden. Doch war es nicht Karl, der ihm diesen verwehrt hatte. Professor Otto, der eine zu große Nähe roch, hatte Anweisung gegeben, ihn nicht hereinzulassen. Schließlich waren die Gründungsfeierlichkeiten keine Karnevalsveranstaltung, und Otto hatte längst Karls Unverantwortlichkeit als eine Gefahr für die erfolgreiche Verwirklichung ihres gemeinsamen Vorhabens erkannt. Und so konnte Dr. Schön nur gartend an den wegen Űberfüllung geschlossenen Türen rütteln.
Lange vor Mitternacht setzte mit und ohne Goldoni in Hand- oder Jackentaschen ein stetes Wegtröpfeln ein, zunächst merkte man nicht, dass sich die Trauben am Rande zur Dunkelheit zu lichten begannen. Angesäuselt versuchte einer der späten Gäste noch die 23.000 Gene des Haushuhns als Beispiel eines japanischen Kettengedichts aufzulisten. Karl hatte die Ehre, den Bundespräsidenten und den Ministerpräsidenten des Landes als erste zu ihrer jeweiligen Cortège zu geleiten, gesichert durch die vertrauten Leibwächter, doch fehlten der bedauernd Abschied nehmende Hofknix und Kratzfuß der erleichterten anderen Gäste. Für Karl war es kein Abend für Aberrationen oder die Gelegenheit für die Produktion von Oxytocin. Er wußte von der Bedeutung der verschiedenen Gäste, wußte die Informalität des mittleren Abends zu nutzen, sich in die Erinnerung entscheidender Personen einzuprägen und seine Pläne und Freunde scheinbar zu befördern, scheinbar nur, weil er es überaus diskret anstellte, Lücken ergänzte, Kreise komplettierte, scherzend Vertrauen einforderte und zu schenken vorgab und jede Entgleisung übersah. Dass er immer noch sein Dossier erweiterte, war nicht bemerkbar, doch er war sicher, dass der Abend sich gelohnt hatte und er nicht später Hilfe bei der zehnten Muse, der Paupertas audax, werde suchen müssen.
Später in seinem Zimmer konnte er über einem Glas Mineralwasser positive Bilanz ziehen und guten Mutes zu Bett gehen. Vorher saß er noch eine halbe Stunde am Fenster bei „einem Pfeifchen, durch dessen Gluth die kleine Nachbarin, die Nase, zugleich gegen die abgekühlte Nachtluft gesichert wurde“. Das wundersame an einer Gütersloher Nacht war, dass das sich widerspiegelnde Mondlicht nicht mit den Straßenlaternen verhandeln mußte. Die anderen Zimmer im Hotel zur Klosterpforte im Kloster Marienfeld, das vor wenigen Jahren der portugiesischen Fußballnationalelf als Stützpunkt gedient hatte, fielen langsam zur Ruhe. Langsam auch glitten die Kunstfertigkeiten des Hypokorismus und der Kosewortkaskaden in Handgreiflichkeiten und schließlich in den Schlaf hinüber. Frau Professor Meier, die im öffentlichen Gespräch vor nur kurzer Zeit die Infantilität von Wortschöpfungen wie Erstis bespöttelt hatte, flüsterte jetzt mit einem zweifachen Hypokorismus Dr. Müller ins Ohr: mein Mäuseschwänzchen und tat dann something childish but very natural, nachdem er sich freudig seiner Schamkapsel entledigt hatte. In einem anderen Zimmer hätte die poetische Biogenetikerin murmeln sollen: Leg dein Genom auf mein Genom. Im Sinnenreiz gingen alle Hell-dunkel-Verhältnisse verloren, auch wenn ein Einzelner noch das Licht auf Stirn und Schulter seiner Danae erkannte. In anderen Räumen sprach man Chinesisch statt Latein, um sehr persönliches Tun zu verschleiern. Die gegenseitige Befriedigung wurde dann fester Bestandteil der Erinnerungskultur, wenn man auch auf Deutsch deutlich und intellektuell hinterfüttert artikulierte: „Fick mich!“. Die öffentlichen Heroen der Renaissance kehrten zu den gepolsterten Liegen dionysischen kathartischen Tuns zurück, und nur selten – glücklicherweise – kopulierte man schicksalhaft mit einem toten Mehlkäfer oder platzte wie eine Kröte, die sich bei der Liebesbalz zu weit aufgeblasen hatte. Die Nacht und die verlöschenden Lichter legten die gleichmacherische Dunkelheit über die Einsamen und Müden, die Pärchen, die erfolgreich ineinander verschlungen, mit zuerst aufmerksamem, all¬mählich blöder, dann gespannter werdendem und schließlich mit befreitem Gesichtsausdruck zu neuen Taten entschlummerten oder bei denen sich das fesselnde Wort, erlernt in der Académie des Dames, das nein!, nein! ... ja! ja! ... oh! oh!, stärker erwies als die Tat. Mancher genoß auch nur die Rache, die jemand an ihm nahm, stellvertretend für alle Geschlechtsgenossinnen, die in Westminster school oder Salem oder an jugendlich männlichem Mobbing gelitten hatten. Manches davon fand seinen Platz in den entsprechenden grünen Aktenordnern, nachdem man durch gespannte Seidenfäden, rote Ohren und schließlich tränende Augen Informationen zusammengetragen hatte, doch das offizielle Universitätsarchiv erfuhr keine Eintragungen über die Zahl der in dieser Nacht erlebten heißen Gottesnächte der Liebe, ob man und frau sich am morgen als Sextus und Lucretia entfremdet voneinander lösten oder wie Ianus und Cranaë schließlich sogar über sich selbst lachen konnten. Es war eine Nacht der einander erkundenden und verbal bewundernden Nacktheit.
Auch das Wetter hatte mit dem Geschenk einer lauen Sommernacht das seine getan, obwohl es in den Wettermeldungen am Vorabend geheißen hatte, es werde wohl keinen Ort in Deutschland geben, der nicht naß werden werde. Und durch die Nacht klangen immer noch die Worte nach wie ein leises vielversprechendes Echo: interdisziplinär, transdisziplinär, postkolonial, und besonders verführerisch: neurobionano. Und die Innovationsoffensive bildete das Gefieder an einem von Amors Pfeilen. Das Ergebnis waren Eliten in Ekstase, auch wenn mehr als eine Nell Gwyn dafür aktiv werden musste. Glück muß man haben, wenn man daran glaubt, und nur mehr vorsprachliche Laute, wie sie bei sportlicher Betätigung immer häufiger werden, durchdrangen in langen Abständen die Nacht, und nur die Neue Zürcher Zeitung berichtete mit einem gerüttelten Maß von Betroffenheit ohne Namensnennung, dass zwei Vertreter aus der Schweiz sexuell frustriert in dieser Nacht ein Auto vor dem Hotel demoliert hatten, weil sie nicht in der Lage waren, mit einem Blick ihre nackten Körper entlang zu resignieren und zu akzeptieren, dass diese ausgedienten Ziehharmonikas glichen. Vielleicht waren sie auch nur ein wenig hinter dem Mond zurückgeblieben und hatten ohne Vorbereitungen an eine ländliche Sonnabendsfreierei gedacht. Verschwiegen wurde, dass ein nicht natürlich zusammengehörendes Paar wie zwei Schildkröten aus dem Messelsee vereint in einem Hotelzimmer, jedoch glücklicherweise nicht in Hotel Klosterpforte, gefunden wurde. Sie hatten es versäumt, die Heiligen Potentinus, Felicius und Simplicius anzurufen. Die Polizei konnte nie mit Sicherheit feststellen, ob die Beteiligten in einem wunderbaren Orgasmus ihr gemeinsames Ende gefunden hatten oder Opfer giftiger Cyanobakterien geworden waren. Erst nach dem Ende der ach zu kurzlebigen Universität untersuchten allzu spät Wissenschaftler des Senckenberg-Instituts in Frankfurt diese rätselhafte Erscheinung im Auftrag einer televisionären Dokumentation.
Dennoch hatte Karl eine tiefe Depression erfaßt. Es war die Rede der Bürgermeisterin, es waren ihre Worte von der Vertrautheit innerhalb der Gemeinschaft, die Erinnerung an die Rosenstöcke der Nachbarn wach gerufen hatten oder eher noch das Wissen um ein nie verlorenes Zuhause, weil man es nie besessen hatte. Ausgerechnet jetzt erinnerte er sich an die alte Frau Zacharias, damals, als Hüftgelenkoperationen noch den Anfang vom Ende bedeuteten und sie auf die Gemeinschaft innerhalb des Ratinger Tores zurückblickte, diese sanft und glücklich wieder aufleben ließ, in der Sonne der Sommer, der Klarheit kalter Winter, so, wie sie gewesen waren, wenn man auf die Jahre zurückblickte.
Weiter wanderten die mit Erinnerungen gespeisten Gedanken. Immer wieder hatte Karl versucht, die Zeit in Wien in Hamburg zu rekonstruieren, in dieser Weise in seinen Briefen die Sprache Katherines zu sprechen, und er merkte nicht, dass er ein Erlöser, nicht Glaukos sein sollte, der sich ziehen und halten ließ statt Katherine hinaufzutragen, wo sie ihn vergeblich vermutete und erhoffte und seiner bedurfte. Er meinte, wenn er ihr ein Feld üppiger nackter Mädchen unter Sonnenblumen schickte, würde er ihr seine Bereitschaft zeigen, eine Frivolität, die er nicht empfand und die nicht gewünscht war, weil sie ablenkte von ihnen, von ihnen allein, konzentriert aufeinander, hingegeben und einander errettend. Mehr Erfolg hatte er scheinbar mit Sempé, wenn jemand in schmerzhaftem Schmerz kopfüber durch den Wolf gedreht wurde.
Es vergingen die Monate des ersten Semesters, und dann saß Karl wieder in einem Zug. Katherine sollte er wiedersehen, und er hatte Gelächter mit einem Brief erzeugt, indem er seine Ankunft um neun Uhr in der Früh angekündigt hatte. Er fuhr in einem blauen Rollkragenpullover, um einigermaßen die Form durch Jugoslawien und den Norden Griechenlands zu wahren. Zum ersten Mal überschritt er die Grenzen in Richtung Pannonien und Thrakien, las die langen Reihen mit thrakischen Königsnamen und nahm den langen Anlauf nach Athen über die Walachei, Blakia, que est terra Assani, nicht in James Bondscher Manier, er kannte den Christieschen Orientexpress und ließ sich über die unverschweißten sprechenden Schienen nach Süden treiben, zum ersten Mal jenseits Westeuropas und dennoch auf den Spuren der Kelten, die ihre Geheimnisse aus der späteren Rationalität ihrer Heimat hierher gerettet hatten. Asterix lebte damals noch nicht. Oder war er noch jung? Natürlich registrierte Karl die Beschreibungen, die er kannte, Polizeiposten entlang des Bahndamms jenseits der Grenze, sehr viel später den Belgrader Bahnhof in der Nacht filmisch geprägt vom weißen Dampf der Lokomotive, und dennoch sprachen die Räder auf den Schienen eine Sprache, die er verstand, klopften den Namen, den er wollte, immer wieder übersetzten sie seine unausgesprochenen Gedanken.
Das ländliche Kosovo wurde gestreift, Mazedonien war nicht Makedonien, und überdies hatte er sich nie für Philipp oder Alexander begeistern können. Und wo hatte der Zug sich seine Verspätungen eingehandelt? Wohl nicht erst an der Grenze, wo man im Gänsemarsch den Zug verließ, um ihn in gleicher Weise hundert Meter weiter wieder zu besteigen Zur Athener Zeit erreichte der Zug Thessaloniki, und es war vor allem ein Vorposten von Byzanz mit einem kühlen morgendlichen brodelnden Markt. Nur die Kathedrale blieb in seiner Erinnerung haften, sein erstes Erstaunen nach den babylonischen Bauten Westeuropas, wo man noch heute im Münster von York hätte Markttag halten können. Es blieb auch eine sonnige Erdfarbe.
Danach rollte der Zug scheinbar bergab nach Süden als fiele man die Erde hinunter, auf der man gestanden hatte, so wie man fällt, wenn sie sich gelegentlich anders dreht als man selbst, mit vielen Halts, die dazu führten, dass alle auf den Perron stürzten, um sich zu erfrischen, von Melonenhändlern bedrängt wurden, so dass niemand rechtzeitig wieder im Zug war. Irgendwo auf der Höhe von Larissa drohte der Zugführer, nicht weiterzufahren und tat so, als sei das ein ganz exzeptionelles Verhalten seiner Passagiere. Für Karl war es dies. Aber es war sein erstes Mal. Schließlich gelangten sie alle mit elf Stunden Verspätung nach Athen, und von Schweiß stinkend, aber tatsächlich in Form, wurde Karl von David in Empfang genommen. In diesem Sommer waren sie alle in Griechenland, noch in Athen, mit dem Wissen, dass man bald die Stadt verlassen würde, um die kühleren Inseln aufzusuchen, auf den Booten der Olympic-Flotte mit den drei Nullen auf den Türen vor den stinkenden Toiletten, den Sieben-Sterne Metaxa trinkend, mit Kapitänen, die mit ihren Schiffen um den Anlegeplatz kämpften wie türkische Buschauffeure untereinander, jeder ein James Dean als wüßten sie nicht, was sie tun. Man verließ Piräus auf diesen Schiffen mit kurzen Halten in Poros und Aegina, wenn man nicht zu den Reichen gehörte oder zu denen, die in ihrer Zeitung das Sommerfeuilleton füllen wollten mit: „Wie ich in einem Autoschlauch von Piräus nach Hydra trieb“, um zu zeigen, dass sie Fleetstreet den Vorzug gaben vor griechisch, noch königlicher Schäbigkeit.
Katherine traf er am nächsten Vormittag im Trubel des damaligen Modecafés am Omonia-Platz, er lernte Anna und Jan und ganz Athen kennen. Es war einmal mehr der Nabel der Welt, in dem nicht nur die Athener, sondern französische Dichter und norwegische Juden badeten und all die, die Karl mit Altgriechisch und mangelhaftem Französisch nicht registrieren konnte. Katherine hatte Schützengräben aufgeworfen und versteckte sich in ihrem Labyrinth, amüsierte sich über seine Reise, die Geschichte mit dem Pullover, über seine Steifheit, indem er das konventionelle Paket von Grüßen und Fragen ablieferte, und er ging darauf ein, ob er seine Treue wenigstens mit Onanie honoriert habe, war nicht imstande, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen, als wären die hektischen und bang wartenden Nächte in Wien nicht gewesen, und David wunderte sich.
Es gab hinreichend Museen, die kleine Kathedrale, die Akropolis um zwölf Uhr Mittags und Nachmittage mit David im Byzantion, wenn es noch so leer war, dass jeder Kaffeetrinker in der beschriebenen Weise fünf Stühle für den Hintern und die vier Extremitäten in Beschlag legen konnte. Einmal fuhren sie hinauf zum Kloster Kessariani auf halber Höhe des Hymettos. Vor Saloniki hatte Karl die byzantinischen Kirchen nicht wahrgenommen. Jetzt gefiel ihm das unpretentiöse Format, Gott nicht herauszufordern.
Abends trafen sie sich, doch immer im großen Kreis, und alle Pläne drehten sich um Hydra, wer welche Zimmer bei Semni, der morganatischen Frau des Popen, recht hoch am Hang mit nackten räudigen Hühnern im Hof, bekommen sollte, wer mit wem. Karl als Uneingeweihter sollte das Zimmer mit David teilen, Katherine mit Anna. Der Raum war knapp auf Hydra, nachdem die Insel nach ihrer Dienstleistung als Kulisse für Irene Pappas‘ Phaidra vom Geheimtip zur Mode avanciert war. Die Rückkehr zur Fast-Ausschließlichkeit war nicht erkennbar.
Nach drei Tagen begaben sich alle mit Karl im Schlepptau nach Hydra, nachdem er gelernt hatte, nur Korona zu rauchen, weil sie rund waren, einmal das internationale Nationaldessert der Griechen, Karamellpudding gegessen hatte und ein nutzloses Wort gelernt hatte, dass er nie vergaß κολοκηθακηα. Mit Ausnahme von ihm waren alle anderen gelernte Hydrioten, sie kannten die Zimmer, die wichtigste Kneipe, die beiden Strände in unmittelbarer Nähe der Inselhauptstadt, David auch der Primaten Piratenpaläste, deren Erbauer nach ihm durch die Plünderung venezianischer Schiffe so reich geworden waren, dass sie diese erbauen und mit kolonial-portugiesischen Möbeln ausstaffieren konnten. Aber abgesehen von ihnen selbst war allenfalls noch das Ereignis der Phaidra wichtig.
Hydra war eine Qual für Karl. Katherine blieb unnahbar. Stattdessen wurde er von Anna zuerst junonisch beschützt, dann in kumpelhafter Weise provoziert, so sehr, dass sie zusammen tranken, bis sie einander auf die Nerven gingen und er sie anbrüllte, endlich damit aufzuhören, immer dieselben damals neuen Ohrwürmer Melina Merkouris zu singen, mit dem Ergebnis, dass sie auf die Straße vor der Bar stürzte und allen erzählte, ein Deutscher habe ihr verboten zu singen, weil sie Jüdin sei. Das machte den Sommer 1960 auf Hydra nicht leichter für Karl. Weder waren die vorher eingebildete Freundschaft noch der alkoholisierte Zustand, der ihn eines Nachts erschreckt auffahren ließ, weil er glaubte, Feuer gefangen zu haben, ein hinreichender Grund für diesen Tabubruch. Karl mußte Spießrutenlaufen, und Katherine und David setzten sich mit fadenscheinigen Gründen nach Athen ab. „Eine Zeit mußt du auch ohne uns zurechtkommen. Außerdem gibt es ja Christos. Er wird sich um Dich kümmern, bis du in einer Woche nachkommst.“
Vor Sonnenaufgang lief Karl bis zur Südspitze der Insel, um den Sonnenaufgang zu erleben. Danach lag er tagsüber auf den Felsen am Meer und erwehrte sich der Annäherungsversuche olivfarbener berühmter Komponisten oder ließ sich von Christos einlullen und erschrecken, der sich als versierter Palmist erwies und mit diesem Können Karl lauter unerfreuliche Vorhersagen machte, Krankheiten, Todesfälle, Zwistigkeiten, seine ganze Welt werde zusammenbrechen, das Ganze mit sanfter, lächelnder Stimme. Am Tag, als Karl endlich Hydra verlassen konnte, nahm Christos ihn in einem Ruderboot hinaus, und erst nach einer gewaltigen Szene, die dieser nur hatte erleben wollen, kehrte er in den Hafen zurück, damit Karl das Schiff erreichen konnte.
Athen war anders jetzt, nicht erwartungsvoll, doch ungemein spannungsgeladen. Alle Freunde oder sogenannten waren noch in der Sommerfrische, und so gab es wieder nur den kleinen Kreis Katherine, Karl und David, unterbrochen von einem Ausflug mit Katherines Mutter und Onkel nach Sounion, wo die Mutter ein winziges Sommerhaus hatte und wo sie mühsam eine aus Athen mitgebrachte Musakka mit Nudeln und Kartoffeln verzehrten, einander höflich mißtrauisch begegneten. Es war kein voller Erfolg und auch kein entscheidender Einschnitt.
Die Ferien erwiesen sich als zu kurz. Zwischen dem täglichen Wortgeplänkel berichtete Katherine Karl, dass sie mit Jan doch wieder geschlafen habe, und Karl wußte mit diesem wahren oder konstruierten Eingeständnis nichts anzufangen, obwohl es in jedem Falle schmerzte. Sie blieben viele Nachmittage in der einsamen Wohnung in der Eupalinou, an denen Katherine aus ihrer Kindheit erzählte, von Kreta, das sie in diesem Sommer Karl nicht zeigen könne. Es waren vertraute, körperlose halbnackte Nachmittage, um vielleicht doch zueinander zu finden, nur unterbrochen von der Putzfrau, die Karl wegen seines schlanken Körpers Komplimente machte oder durch den Onkel, der frische Pistazien brachte. Beide warteten sie, Katherine mit Ungeduld, Karl ebenso, doch mit Unverständnis, und sie konnten von einander nicht lassen, ohne Erfüllung gefunden zu haben, denn sie begehrten einander. Katherine war ingeniös töricht im Schaffen von Gelegenheiten.
Es war der Abend, an dem David, sie und Karl zu Adam gingen. Er war als besonderes Ereignis der gemeinsamen Zeit in Athen geplant, David im Smoking, sie selbst in einem grünen, schulterfreien Abendkleid, Karl in seinem eigenen grauen Anzug, doch ausstaffiert mit Hemd und Krawatte von David, ein gerade noch erträglicher Abfall gegenüber den beiden anderen. Wie in einer Arena saß man erhöht über der Tanzfläche im Freien, und sie genossen einen von David bis ins letzte Detail organisierten Abend. Niemals früher oder später hatte Karl Katherine in einem solchen Kleid gesehen, das ohne die sonst obligatorische Sicherheitsnadel an seinem Platz gehalten wurde. Katherine wirkte größer, strenger, kostbarer, geschlechtsloser, als wollte sie diesen Eindruck statt des der Hingabe vermitteln.
Sie tanzten abwechselnd mit Katherine, sie unterhielten sich über tote und lebende Dichter in impressionistischen Fetzen, über das byzantinische und türkische Erbteil der Griechen, ihre Zugehörigkeit zu Asien, über den Pragmatismus lange unterdrückter Menschen oder Völker, die Ratlosigkeit der Abkömmlinge gescheiterter imperialer Reiche, die europäische Küche des Adam genießend, sie vergleichend mit dem griechischen Restaurant in der Dorotheengasse, wo das Lammfleisch nach der Vertrautheit mit den Gästen verteilt wurde und neue Gäste sich erst durch das Fegefeuer von Sehnen, Fett und kläglichen Resten durchfressen mußten. Es waren David und Katherine, die sprachen, doch war Karl wach genug zu lauschen, eine sekundäre Welt aufzunehmen. Er konnte nicht eigentlich mitreden, wenn er sich Rechenschaft darüber ablegte, wie wenig er von seiner Umwelt bemerkte, den Toten näher war als den Lebenden, sich fast besessen auf die wenigen konzentrierte, deren Aufmerksamkeit, Liebe und Spott er erregte. Doch seine Possessivität nicht zeigen wollte. Es war ein zivilisierter Abend, zu zivilisiert, auch über Adam hinaus.
Sie fuhren zu Dritt nach Kolonaki, setzten sich auf den Balkon der schwesterlichen Wohnung. David besorgte etwas zu trinken und zog sich dann wenig später zurück. Es war eine dunkle Nacht, dunkel wie Shanghai noch 1989 und Kopenhagen im Mittelalter mit den Galoschen des Glücks an den Füßen, voller unidentifizierter bekannter Geräusche und Gerüche, die nur übertönt wurden von dem ranzigen Babygewimmer sich paarender Katzen, diskret indiskret wie auf einer billigen japanischen Lackdose, auf der ein künftiges Liebespaar das schnellere und fähigere Katzenpaar beobachtet, ein die Virtualität – so ein Wort gab es 1960 gar nicht – beschwörender Voyeurismus.
In der Wohnung hinter ihnen war David verstummt als gäbe es ihn nicht, die Wohnung nicht. Maria war ein nicht existierender Schatten. Weit weg war die Welt, sie waren allein auf einer Insel und konnten doch zueinander nicht finden. Sie lachten über die Katzen und Karl lähmte die Vorstellung der Nachahmung, Wiederholung, der Gedanke, wie etwas Einmaliges seriell sei, seine Liebe zu Katherine austauschbar und irrelevant, während Katherine nur ihn zu erkennen glaubte, doch von seinen spürbaren Vorstellungen immobilisiert wurde. Zwei Stunden saßen sie, ließen Wörter fallen, waren einander nah und behinderten sich gegenseitig, bis Katherine um drei Uhr sagte, jetzt brauche sie ein Taxi. Damit war der Bann gebrochen, doch gab es keine Gelegenheit mehr, die Scherben erneut zusammenzufügen. Kein Lurgan Sahib konnte die Illusion schaffen, sie könnten von neuem beginnen und das geplante Geschehen tatsächlich verwirklichen.
Später wurde Karl wegen dieses Abends und dieser Nacht der Kopf gewaschen, wegen seiner grenzenlosen Begriffsstutzigkeit, die keine war, sondern ein Wissen ohne die Fähigkeit, ein Wollen ohne das Vermögen, sich hinzugeben.
Es waren bereits die späten Tage des August, und sie hatten die Zeit verschwendet als hätten sie überreichlich davon, als wäre nicht Katherine auf dem Wege hinaus, als würde Karl sich öffnen können wie ein Vulkan, als würden sie sich in die Lüfte erheben und alles wäre klar, stark und endgültig. Stattdessen lagen sie jeder für sich mit einer Wand zwischen sich, die sie einzeln jeden Augenblick einrissen, gemeinsam wieder errichteten. In gemeinsamer Verzweiflung trafen sie sich wieder in der Eupalinou und zogen sich in Katherines Zimmer zurück. Und selbstverständlich ergriff Katherine die Initiative, und sie klammerten sich aneinander, versuchten, sich zu vereinen, aber der Anlauf war zu lang gewesen, in diesem Augenblick waren sie nicht füreinander geschaffen – und doch war das Begehren auf beiden Seiten so spürbar, dass aus diesem Zusammensein eine Hoffnung gerettet wurde und erwuchs.
Wieder war es nur David, der ihn zum Nachtzug brachte, der ihn durch die schlaflose Dunkelheit Thessaliens, wo die im Tal gefangene Welt erwartet den Sabbath der Hexen. Auf schwebendem weißen Granit mit immer eigenen Gravitationen, hocken tot wie versteinert die letzten Gemeinden, deren Zahl im glasigen Sand, dem Moor einer wasserlosen Landschaft, zur Unzählbarkeit verdammt ist. Wenn die Hexen kommen, wie die Sonne ins Tal, ist ihr Werk schon getan. Dann an Euböa vorbei bis zum nächsten Morgen wieder nach Saloniki, wieder durch Jugoslawien, durch Österreich bis nach München, wo er wieder einen Nachtzug ins Rheinland nahm. Der Erde Bewegung verharrt im faustischen Thessalien.

Am nächsten Morgen am Frühstücksbuffet zwischen 7 und 10 wurden die Schlaf-, Wach- und Eßgewohnheiten offengelegt, wer den Morgen schwätzend verbrachte, hinter einer Zeitung verborgen, mit dem Rücken zur restlichen Menschheit wie Kim auf der großen Landstraße durch den Punjab oder noch immer erfüllt von einer nächtlichen Begegnung. Es gab die Müsliesser, die ängstlich in einer zweiten Runde den immer gleichen Schmelzkäse in unterschiedlicher Verpackung zu sich nahmen, sich durch die Tücken eines Hotelfrühstücks hindurchkämpften oder auf ihren Tee verzichteten, weil die Selbstbedienungsfunktionen erst hätten erlernt werden müssen, und stattdessen schaudernd mit dem konventionellen Zwei-Tas¬sen-Kaffeekännchen vorlieb nahmen.
Später begaben sich diejenigen der Gäste, deren Terminkalender es zuließ, noch zum volkstümlichen Teil der Gründungsfeierlichkeiten. Auch konventionelle Mittel konnten zum gemeinsamen Ziel beitragen, und so war ein großer Flohmarkt annonciert und organisiert worden, der die Versteigerungen auf Schloß Anholt in den Schatten stellte. Am Rande des Flugfeldes waren überdies auch schon die Container bereitgestellt worden, so dass die Bevölkerung in hierarchischer Ordnung und selbst hierarchisiert sich ihres jeweiligen Überflusses entledigen konnte. Aus einem weiten Einzugsgebiet, von Hessisch-Oldendorf im Norden bis Hamm im Süden, Paderborn im Osten und selbst Nijmwegen im Westen kamen die Menschen in Festtagsstimmung zu diesem einmaligen glokalen Ereignis, bunt gemischt professionelle Händler, die von ägyptischen Grabräubern beliefert wurden bis hin zu Studenten und Schülern, die ihre Sammlung mit Mao-Buttons oder den Figuren aus Überraschungseiern zum Kauf anboten, während die Standgebühren einmal mehr der entstehenden Johannes-Universität zuflossen. Durch gar nicht mal so geschicktes Verhandeln, da die Bereitschaft vorhanden war, gelang es Karl, von einer Wiedenbrücker Brauerei einen ganzen Satz von zweihundert Jahre alten Biertischen und Bänken für den Aufenthaltsraum des künftigen Gästehauses geschenkt zu bekommen, die sauber gescheuert, Jahrzehnte hindurch mit Bier getauft standhaft auf weißbestrumpften Beinen zu stehen schienen. Später hob die Brauerei in einer historisierenden Laune die späte Regel post multa saecula pocula nulla auf und verlieh den Professoren das Privileg, sich selber ein Faß Bier zu brauen, falls sie es denn könnten. Dies hatte Ähnlichkeit mit der kirchlichen Regel, den unterbezahlten Küstern zu erlauben, Bier zu zapfen. Und fürwahr gab es den einen oder anderen, woraus sich ein zusätzliches touristisches Vergnügen im ostwestfälischen Raum ergab, auch wenn mancher – einer der manchen war immer wieder van Groningen – gelegentlich versuchte, die alten westfälischen Brausitten unter Anleitung von A. Hébert zu verfremden und statt mit Gerste und Hopfen sich mit succédanés zu vergnügen.
Von einem Gütersloher Bürger erhielt er einen umfänglichen Satz vergilbter Atelierphotographien mit der ersten Generation der Lehrer des Stiftischen Gymnasiums, u.a. Dr. Theodor Rumpel, Dr. Wilhelm Klingender, Dr. Julius Rothfuchs, Dr. Ernst Lünzer und schließlich der Musiklehrer Jürgen Niederau, der in guter Laune versuchte, den Schülern 64tel Noten vorzuspielen, die später in großen Passpartouts – in ihrer braunstichigen Reihe nur unterbrochen durch ein schlichtes Juwel, das Portrait eines unbekannten Chinaforschers von Wilhelm Viktor Krausz aus dem Jahre 1925, das man im Dorotheum aus dem Depot der Wiener Städtischen Sammlung erworben hatte – im Rektorat den Genius loci evozierten, nachdem eben dieses Gymnasium ein Heim für hochbegabte Gütersloher, Westfalen und Lipper, Rheinländer und Deutsche und schließlich auch Ausländer geworden war, aus denen sich die Besten der Johannes-Universität rekrutierten. Organisatorisch wurde die Oberstufe, zu der nur noch Gütersloher mit einem IQ von mindestens 130 nach einem langwierigen Aufnahmeparcours aufgenommen wurden, der Universität zugeordnet. Der Lehrkörper und die Lehrinhalte wurden durch den Dozentenstamm und Lehrveranstaltungen der Universität ergänzt. Hier wurden nicht einseitige Spezialbegabungen gefördert, sondern soziale Kompetenz und Begabungen in Sprachen, Naturwissenschaften und den musischen Disziplinen. Die Schüler hatten nicht nur ein Lerndeputat, das die durchschnittliche Wochen-arbeitszeit eines deutschen Arbeiters von ca. vierzig Stunden deutlich überstieg, denn hier lernten sie bereits die ganze Bandbreite der später sinnvollen Sprachen – Englisch war eine Selbstverständlichkeit – von Französisch über Arabisch bis Chinesisch und Japanisch, von ihnen wurde auch verlangt, dass sie Gütersloh mit Konzerten unterhielten, dass sie soziale Arbeiten auf sich nahmen von der Schülerhilfe für Ausländer bis zur Arbeit in Siechenheimen. Und schließlich führte man sie an die Johannes-Universität heran, indem man den Schülern, einmal mehr unterstützt von der Bertelsmann-Stiftung, die Einrichtung und Führung des Inter¬net-Portals der Universität übertrug. Aus diesem Kreis gingen später die Revolutionäre in der Endphase der Universität hervor, nachdem man sie für die real existierende Welt überqualifiziert hatte. Die Erinnerung an alle Versprechungen war photographisch genug, die Fähigkeit, Lügen zu erkennen, nicht im gleichen Maße gewachsen, da die medizinische Forschung der Universität sie mit dem Protein CREB gefüttert hatte, in analoger Weise zu den früheren Versuchen Katherines, ihre Mutter mit unter das Essen gemischtes Gras ruhig zu stellen oder amerikanischen Versuchen, ihre Athleten mit Norandrosteron zu mästen, mit Ni-kethamid zu stimulieren oder genetisch aufzubauen. Vor der Entwicklung der Pille des Vergessens waren die geschaffenen Monster bereits in ihren versprochenen Erwartungen enttäuscht. Zunächst jedoch war diese enge Verbindung zwischen Schule und Universität ein scheinbar tauglicher Versuch zur Elitebildung, indem die Erkenntnis, dass Mäuse, die früh von ihren Eltern getrennt werden, später eine andere, primitivere Gehirnbildung aufweisen, pervertiert wurde.
Später kamen nicht Photographien, sondern die gemalten Portraits der einzigen Rektorin und verschiedener Dekane hinzu und verlängerten die Reihe großer Köpfe. Hausmaler war zu diesem Zweck ausschließlich Gotfrid Hendtzchell aus Breslau in Schlesien, der vor den aus dem EU-Beitritt Polens resultierenden sozialen Unruhen in das scheinbar arkadische Gütersloh abgewandert war.
Nach dem Frühstück trafen sich auch die Pozzi und der Landmann, um entspannt diesen deutschen Flohmarkt zu besuchen. Sie freuten sich, einander nach einem entspannten Abend ebenso entspannt und gern wiederzusehen, Sie setzten das abendliche Geplänkel in der gleichen unangestrengten Unverbindlichkeit auf dem Wege einer wachsenden Freundschaft fort und fanden weiter Vergnügen aneinander. Beide beherrschten die deutsche Sprache – auch die Pozzi in hinreichender Weise, obwohl sie im Gegensatz zu Landmann mit seinem slawisch-dakisch-deutschen Umfeld ein Sprach- und kein Sprechtalent war –, um die Schätze, soweit auf Papier, entziffern zu können. Deutsche Übersetzungen der Kristeeva aus den siebziger Jahren führten zur Erwähnung der locrischen Frauen, der Pozzi amüsierte Revanche für das Landmann’sche Geschlechterbild des Vorabends, über die Bedeutung der Rolle des Mannes, wenn eben diese Frauen vornehm blieben, auch wenn sie ihre Sklaven heirateten, noch ältere der Mann Borgese zum Aufstieg der Frau im Zeitalter der nachindividualistischen Massengesellschaft. Beide waren keineswegs zu alt, das Risiko der Versuchung zu spüren, doch genossen sie die Wiederholbarkeit des Spiels und gaben diese Chance nicht auf. Beide entdeckten in sich die fruchtbaren levantinischen Elemente, die Venedig einst verteidigt hatte. Und sie trafen einander in so vielem, wenn sie darüber melancholisch werdend das fehlende kakanische Element in Gütersloh vermißten. Die Pozzi erhielt mehr als ihren energischen Familiennamen und gab trotz der damit verbundenen Entblößung ganz ungezwungen ihren Vornamen Lucina preis, der Landmann war ein Joshua, und beide erhielten sich ihre Ungezwungenheit, weil sie nicht nur nichts von Gütersloh wollten, sondern auch von der Meute nicht mehr als Gefahr gewittert wurden. Daher waren sie vielleicht auch als einzige noch in der Lage, das Y-Chromosom zu retten. Zu ihnen stieß jetzt, am Abend des Empfangs noch unbemerkt, Elizabeth Butler-Sloss, die große alte Dame des Persönlichkeitsschutzes, späte Verfechterin des Abolitionismus und Anhängerin der Thesen von Eric Williams. Bei allen dreien reichte es zu einem italienischen Spiel, „la sfida al labirinto“ zweideutig zu belassen und sich am Jahrmarkt der Eitelkeiten zu ergötzen. Lange hatte sich Lucina Pozzi nicht mehr so befreit gefühlt, so dass im Ambiente eines aufbrechenden Gütersloh die padovanischen Villen am Fluß eine übernatürliche Weiße bekamen. Für Joshua Landmann fielen in dieser Gesellschaft schließlich doch Czernovicz und Lemberg mit Gütersloh zusammen, und selbst die sonst so rationale Elizabeth Butler-Sloss erkannte diese Bilder, die sich über die anwesende Wirklichkeit legten, während sie in den friedlichen Geschlechterkampf der Pozzi und des Landmann eingriff und die Sklavenpreise bei Ralph Waldo Emerson zitierte, 500 $ für einen Feldarbeiter, das Dreifache für einen Handwerker, aber 2.500 $ für eine hübsche und aufgeweckte Mulattin. Selber schritt sie wie eine alte, mächtig gebliebene Königin aus York über den Markt, die ihre Wahrhaftigkeit aus ihrer Abkehr von allem Analytischen gewann und unter einem breitkrempigen Hut die Menschen erkannte. „Out of talk, appearance, and manners I‘ll make an excellent suit of armour.“
Hieraus und aus zufälligen Geschenken, als Joshua Landmann einen einzelnen verlorenen Holzschnitt mit der Darstellung eines törichten Narren von Gabriel Salmon aus Nancy entdeckte, ihn günstig erwarb und sofort Lucina Pozzi übergab, sie als einzige auf einem alten Stich sofort das Grab des Nikolaus von Kues aus San Pietro in Vinculi erkannte und diesen an Joshua Landmann weiterreichte, entstand unbemerkt und unberührt vom welthistorischen Ereignis der Universitätsgründung eine späte und dauerhafte Freundschaft, die alle Zutaten für ein fruchtbares und entspanntes Verhältnis enthielt und zum Altersglück beitrug. Selbst der Tod Joshua Landmanns sieben Jahre später führte zu einer Trauer aus beseeligenden Erinnerungen dieser wenigen Jahre, seltener Treffen und regelmäßiger Mitteilungen. Hätte Lucina Pozzi nicht mit 95 Jahren wie andere Beteiligte auch absichtsvoll ihre möglichen Hinterlassenschaften verbrannt, hätte ein Gütersloher, Berliner oder venezianischer vergleichender Literaturwissenschaftler eine trouvaille machen und die Weltliteratur um einen weiteren Briefwechsel zweier zusammenklingender Seelen bereichern können.

Die Gründungsfeierlichkeiten waren keineswegs die einzige Gelegenheit, den eigenen Vorstellungen davon, wie die Johannes-Universität vor allen Dingen personell aussehen solle, Konturen zu verleihen. Es gab kaum ein Treffen eines wissenchaftlichen Verbandes oder einer anderen Interessenvertretung, auf dem nicht die aktiveren Kräfte gestalterisch tätig wurden. Doch galt dies eigentlich für jede Gelegenheit, bei der man einander traf, sei es beim Bundespräsidenten anläßlich der Vorbereitung seiner nächsten Reise, bei der Sprengung des Konrad-Adenauer-Hauses, bei der Verschiebung alter renovierter Ballsäle, von Brücken über den Rhein oder auf einem der vielen Botschaftsempfänge. Karl erlebte einen dieser, als er zuerst auf seine jetzige Kollegin Theodora Senckenberg traf. Er war Assistent gewesen, sie Studentin. Er hatte mit verhältnismäßig großem Vergnügen ihren Studienweg begleitet und hatte schließlich, allerdings, ohne dies hinterher im Jahresbericht des Instituts zu erwähnen, durch sogenannte auswärtige Begutachtung dazu beigetragen, dass sie eine Professur erhielt, immer mit dem Bild von Netzwerken vor Augen, höflicher, immer in der Hoffnung, nachher gemeinsam am sogenannten vernünftigen Strang zu ziehen. Dass dies nicht gelang, lag keineswegs immer an den anderen, es lag nicht einmal immer an Karl, der sich hütete, jemanden in die Pflicht zu nehmen. Es lag gewiß in aller erster Linie daran, dass alle von ihren lokalen Aufgaben, Erfolgen und Querelen immer wieder allzu sehr erfüllt wurden, ein bewußtes Ziel der Politik, die Zeit zum Nachdenken und dann erst Handeln auf ein Minimum zu beschränken, Versprechungen partiell zu erfüllen, um so Hoffnungen zu wecken. Es lag aber auch immer wieder daran, dass Karl immer wieder vergaß, dass Netzwerke längst existierten, dass sich durch die deutsche Politik, die deutsche Wirtschaft, die deutsche Bildung dynastische Stränge zogen, nicht so offensichtlich wie die dynastischen Netzwerke Griechenlands, sondern als Seilschaften der bürgerlichen Gesellschaft und nicht anders als die Stammbäume der Mehrheit amerikanischer Präsidentschaftskandidaten, verschleiert nur durch die Klugheit der Demokraten, nicht mehr den Usancen des Hauses Reuss zu folgen und durch das neue deutsche Namensrecht unterstützt.
Theodora war so kindlich wie eh und je, nur schienen ihm ihre Zähne größer geworden zu sein, und doch erkannte er dahinter immer noch einige der Gründe für eine vergangene kurzlebige Zuneigung, die wie jede seiner sentimentalen Bindungen in Sympathiebekundungen mündete, damit er nicht sich selbst einen weiteren Fehlgriff eingestehen mußte. Trotz ihrer Naivität war sie voller gestalterischer Pläne und zog Karl sehr bald an die Seite, um ihr Interesse an der Entstehung eines sie befriedigenden Forschungszusammenhangs zu bekunden, gefüllt auch bereits mit personellen Vorstellungen. Da sie Karls Dossiers nicht kannte, sprach sie von der so erfreulichen Qualität junger Kolleginnen und möchtegern solcher, und Karl lächelte und nickte und hakte die fallengelassenen Namen bei sich selbst mit einem „auf keinen Fall“ ab. Der nächste, der sich ihm näherte war der Kollege Maier-Zwischenahn, Präsident einer der großen deutschen Kulturinstitutionen. Wie der Triangelspieler war er durch einen unglücklichen Zufall – einen Jux wollte er sich machen – auf diesen Präsidentenstuhl gelangt und durfte jetzt u.a. besuchenden Schulklassen den Kopf tätscheln und zu kulturellen Anlässen in seinem Bundes¬land die Festvorträge halten, in denen er das erzählte, was die Wissenden wußten und damit den Unkundigen Freude bereitete. Seine Institution war in der Öffentlichkeit allzu gut verankert, so dass hinreichend Photos von ihm in allen Dumas’schen Attituden existierten. Und doch fühlte er sich leer, seiner jetzigen Aufgabe trotz Dienstwagens nicht wirklich gewachsen und suchte daher eine universitäre Anbindung, die er schmücken würde mit seiner so zeitgemäßen Ausstrahlung auf die Öffentlichkeit. Er war der große Popularisierer seines Faches. Er trat in Talkshows auf. Er gab Warnmeldungen heraus und verarbeitete Halbwissen zu Pop, Autos und nicht so nackten Körpern. So stimulierte er die Oberflächenreize. Dieses Tun nannte er, Forschung in die Öffentlichkeit hinein zu vermitteln. Und er hatte die Kunst, andere für sich forschen zu lassen, zur Vollkommenheit entwickelt. Wären nur nicht die bösen neidischen Zungen! Und gäbe es nicht die vielversprechenden gescheiterten Existenzen, die gemeinsam hatten, dass sie für kürzere oder längere Zeit seinen Lebensweg begleitet hatten. Was überdies kolportiert wurde, war, dass von ihm selbst eigentlich nur eine recht gute Doktorarbeit stammte, auf der jedoch nicht sein Name erschien. Er gehörte zu den Persönlichkeiten des Faches, die außerhalb ihrer Disziplin einen unverhältnismäßig besseren Ruf hatten als bei den Fachkollegen – fast eine tragische Gestalt, immer noch, selbst mit früh ergrauten Haaren trotz Rückenproblemen voller scheinbar jugendlicher Spannkraft. Seine Sehnsucht war, auch im Fach selbst Anerkennung zu gewinnen.
Immer wieder traten verschiedene Interessengruppen, Lobbyisten und Agenten in den universitären Dunstkreis, um entweder die akademische Autorität für ihre Legitimierung zu nutzen, zur Anerkennung als Religionsgemeinschaft wie die gegen Kursgebühr im Kampfsport unterrichtenden Shaolin-Mönche, oder die Bahai, die in Anlehnung an andere deutsche Universitäten eine eigene Professur anstrebten, die Yeziden in gleicher Weise, um sich der Missionierung durch christliche Sekten zu erwehren. Ein Stein war ins Rollen geraten, und viele rollten hinterher.
Eines der fruchtbarsten Treffen überhaupt war eine gemeinsame Kreuzfahrt des gesamten Gründungssenats mit interessierten und interessierenden Gästen auf der Queen Mary 2 in die Karibik. Karl hatte sich daran erinnert, dass bei Gelegenheit einer der wiederholten Unterschriftsfeierlichkeiten zur Bekräftigung der Partnerschaft zwischen der Freien Universität Berlin und der Pekinger Universität dieser rituelle Akt nach Lhasa verlegt worden war, weil die deutsche Delegation diesen Ort im großen chinesischen Reich noch nicht kannte – ein Kollege hatte diesen notwendigen Ausflug fast mit dem Leben bezahlt und lebte jetzt unter ärztlicher Aufsicht glücklich und zufrieden auf dem Altenteil. Und so trat er mit schließlichem Erfolg an die Bertelsmannstiftung heran, mit der Bitte, eine entscheidende Sitzung unter solchen konzentrationsfördernden Bedingungen zu ermöglichen.
Wärend dieser formativen Phase, als die Idee mit Fleisch gefüllt werden sollte – also während einer Zeit, in der man noch mit dem Backen des täglichen Brots beschäftigt war, aus der die Pflegestätte der Erkennntnis hervorgehen sollte –, fiel auch die Erkenntnis Karls, dass er allmählich von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen wurde. Dies geschah in unanfechtbarer demokratischer Weise, zuerst durch die Wiederbelebung der alten Zwiebelfisch-Tage, dann durch die Nominierung für die unterschiedlichsten Kommissionen und die verschiedenen Ämter der Universität. Dann erfuhr Karl auf charmanteste Weise vom Kollegen Gordon, wie sehr man den spielerischen Umgang Karls mit Wissenschaft und Wissenschaftspolitik zu schätzen wisse. Er sei Vertreter eines unverzichtbaren Elements wissenschaftlichen Lebens und wie man sich freue, wenn er den von dritter Seite gemachten Vorschlägen zustimmen könne. Karl erfuhr bald, dass es keine Plattform mehr gab, von der aus er eigene Vorstellungen hätte durchsetzen können. Was ihm geblieben war, war die Verfügungsgewalt über die Hannelore-Münchberg-Stiftung, aber es war nicht der Zeitpunkt, ein selbst gewolltes Gebilde mit anderen Warzen als den von ihm erdachten zum Einsturz zu bringen. Was jetzt noch möglich gewesen wäre.

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