Donnerstag, 5. August 2010

Karamanlidika

Ich habe nicht nur diese Seite, sondern auch mich selbst jetzt über längere Zeit in Stich gelassen, was unter anderem an den weiteren Hochzeitsfeierlichkeiten Leylas lag, die auf Suada im Bosporus begangen wurden und von ihrem jüngsten Onkel organisiert worden waren. Manchmal werden die Dinge verdreht. Das an sich gute gebratene Fleisch des Hauptganges, welches aber dennoch eines Messers zum Zerteilen bedurfte, war auf eine Auberginencrême gebettet, die bei jedem versuchten Schnitt hervorquoll wie Zahnpasta oder Tomatenmark aus mehreren Tubenöffnungen. Als alter Mann, der ich bin, verkrümelte ich mich mit den Eltern des Bräutigams um Mitternacht, mit der Chance vor eben diesen in meinem „Gespräch“ mit dem Taxichauffeur mit meinen bescheidenen Türkischkenntnissen glänzen zu können, da dieser mir von seinem abgebrochenen Pharmaziestudium und den Französischkenntnissen eines seiner Brüder erzählte, der geglaubt hatte, er könne mit Englisch durch Frankreich kommen.
Rana folgte eine Stunde später mit ihrer ältesten Schwester, und dann ging der Spaß offensichtlich erst richtig los. Paula wurde kurz vor dem Dolmabahce-Palast gesichtet, obwohl sie in einem Stuhl ganz unschuldig schlief, es gab gewisse Chiasmen bei einigen Partnerschaften, und insgesamt wurde ziemlich gut getrunken, was bedeutete, dass angefangen mit mir am nächsten Tag zum Brunch niemand wirklich zu gebrauchen war.
Zwei Tage später fuhren Rana, Tugrul und ich mit dem Metro-Bus über Canakkale nach Geyikli und von dort mit der Fähre nach Bozcaada, nach Tenedos, von wo Apollon die Seeschlangen Porces und Chariboea sandte, die zunächst die Söhne, dann den ungläubigen Laokoon zerquetschten, den Anfang unserer ästhetischen Kultur. Heute sind es der Wein und die Tomatenmarmelade, die zusammen mit Angehörigen der gehobenen türkischen Mittelklasse und dem unglaublich schönen Badewasser noch den Charakter der Insel prägen, doch sind die Immobilienpreise bereits höher als am Bosporus, weil die Gerüchte besagen, dass Bozcaada und Gökceada demnächst als einzige offshore Orte in der Türkei eine Kasinolizenz erhalten werden.
Aber: Man kann auch in das Bozcaada Müzesi gehen in der Lale sokagi 7 im griechischen Viertel, das von M. Hakan Gürüney aus dem Istanbuler Stadtteil Fener gegründet und von ihm, seinem Bruder und Vater geführt wird. Nur der letztere war dort, als wir vorbeigingen und wegen Rana zwei Stunden blieben. Ich sah hier meine einzig mögliche Erinnerung an Tenedos wieder, die Beschießung der Burg durch die Venezianer aus dem von Franz Taeschner veröffentlichten Alt-Stambuler Hof- und Volksleben. Ein türkisches Minaturenalbum aus dem 17. Jahrhundert. Tafelband. Hannover: Orient-Buchhandlung Heinz Lafaire 1925, Tafel 14, das zu den Büchern gehörte, die ich als kleiner Junge auf dem Teppich internalisiert hatte. Von Hakan Gürüney gab es einige Veröffentlichungen, darunter Bozcaada Harita ve Gravürleri/Maps & Engravings of the Island Tenedos, sehr wohl ein wenig mehr als nur ein Coffeetable-book. Aber was habe ich schon mit Tenedos im Sinn, obwohl ich dort vor zehn Tagen das halbe Vergnügen meiner ersten Ohnmacht vor Hitze erlebte. Das Vergnügen war die Erfahrung einer Ohnmacht, das geringere, beim Erwachen den Sand hinter der Jandarma auf dem Kai im Rücken und von oben zwanzig unterschiedlich besorgte Augenpaare zu spüren. Doch da hatte ich mich schon entschlossen, mich nicht allzusehr auf die Insel einzulassen. Allerdings gab es in diesem Zusammenhang ein weiteres eigentlich für die heutige Gegenwart schon überraschendes Erlebnis mit türkischer, mediterraner Gastfreundschaft. Es kam die Ambulanz und brachte mich zum inseligen Notdienst, wo ich einschließlich Infusionen zwei Stunden ruhte und für meine Torheit, wie ein törichter Kartoffelsack zu Boden geglitten zu sein, nicht zur Kasse gebeten wurde – nach Berliner Maßstäben aus der jüngsten Vergangenheit eine Ersparnis von ca. 400 €.
Die eigentliche Inselanekdote jedoch ohne meine Beteiligung handelt vor allem von dem Fisch, den eine alte Frau 1874 auf einem defekten Ofen briet, was dazu führte, dass das ganze griechische Viertel trotz des heldenhaften Einsatzes britischer Truppen von einem im Hafen liegenden Kriegsschiff glücklicherweise ohne den Verlust von Menschenleben niederbrannte und als Klein-Chicago quadratisch von einem amerikanischen Architekten wieder aufgebaut wurde. Den Namen konnte mir der ältere Herr Gürüney nicht verraten, aber er korrigierte mich überaus energisch, als ich mit meinem begrenzten deutschen Bewusstsein für die Vielfalt und Differenziertheit ethnischer Termini von Türkler und Yunanlar stammelte. Das sind keine Ionier – was die Angelegenheit noch verwirrender macht, sondern sie sind Rum, byzantinische Griechen, also etwas ganz anderes – was auch immer, doch wurde Venizelos 1915 auf der Insel gefeiert. Im türkischen Viertel, sehr viel weniger quadratisch, gab es zwei Moscheen und einen Brunnen von ca. 1700, es gab aber auch die einzige Buchhandlung, wo man neben englischen, französischen und deutschen Paperbacks zu 2, 3 oder 5 TYL, geteilt durch zwei ergibt den €-Preis, den Ehrgeiz der Besitzerin (?), vom Typus her engagierte pensionierte Lehrerin, spürte, die Bevölkerung Bozcaadas dem lesenden Prozentsatz der türkischen Gesamtbevölkerung zuzuführen. Was ich mit meinem mangelhaften Türkisch – oder mit meinem Verstand nicht verstand, war, dass die in den Büchern angegebenen Preise ebenfalls geteilt wurden und ich auf diese Weise ein Büchlein für 7 TYL erwarb : Anagnostakis, Ilias und Evangelia Balta, La Découverte de la Cappadoce au dix-neuvième siècle. Traduit du grec par Bruno Dulibine. Istanbul: Eren (première édition) 1994 [ursprünglich griechisch Athen: Poreia 1990], immerhin in Istanbul veröffentlichbar, wenn auch in dem als Weltsprache rückläufigen Französisch, das die osmanische Elite im 19. Jahrhundert fraglos besser beherrschte als die meisten von uns heute. Ich kaufte es spontan aus Zuneigung zu unserem auf unsere alten Tage neu gewonnenen Freund, Pantelis, dessen Familie aus Nigde stammte und Opfer eines unseligen Bevölkerungsaustausches geworden war.
Glücklicherweise haben die Photos von Göreme/Kappadokien einen Erkennungsfaktor wie das Brandenburger Tor, die Freiheitsstatue, die Tower Bridge und der Kreml, auf jeden Fall einen höheren als der alte Holmenkollen, aber leider war ich nie physisch dort.
Das ungemein sympathische Bändchen handelt fast nur von der Selbstentdeckung mit volkskundlichen Mitteln des 19. Jahrhhunderts, so typisch vom Balkan bis Norwegen und einige Jahrzehnte später bis China. Und doch sind Bücher oft mit einem Fluch verbunden, als verschriebe man sich dem Teufel und könne nur mit List und Tücke entkommen. Ich denke, jetzt muss ich auch die in Fußnote 1 zu Seite 49 genannten Kataloge zur Kenntnis nehmen: „La bibliographie karamanlie compte jusqu’à présent 643 titres. S. Salaville – E. Dalleggio ont répertorié 333 titres jusqu’à l’année 1900 dans leur ouvrage de 3 volumes, Karamanlidika. Bibliographie analytique des ouvrages en langue turque imprimés en caractères grecs. Athènes, t. 1 (1958), t. II (1966), t. III (1974). Les autres 301 titres sont répertoriés par Evangelia Balta. 163 d’entre eux constituent des additions à la bibliographie de S. Salaville – E. Dalleggio (Evangelia Balta, Karamanlidika. Additions, 1584-1900, Athènes, 1987) et les autres 138 titres presentent la bibliographie karamanlie du 20e siècle (Evangelia Balta, Karamanlidika, XXe siècle, Athènes, 1987). 19 titres inconnus ont été repérés depuis et ils sont publiés par E. Balta dans Deltio KMS 8 (1990-1991), pp. 143-169.” Nicht nur die Menge der griechisch gedruckten türkischsprachigen Literatur, sondern auch ihre Vielfalt vom hier nicht erwähnten Robinson Crusoe über die Übersetzung 1909 von A.-D. Mordtmanns Die Belagerung und Eroberung Constantinopels durch die Türken im Jahre 1453, nach den originalen Quellen bearbeitet aus dem Jahre 1858 und das 1836 in Smyrna/Izmir herausgegebene Abrégé des diverses sciences, über Pilgerfahrten nach Jerusalem bis hin zu türkischen volkstümlichen Texten wie den Köroglu (Chikiagesi Kioroglou. Tasfirlerì vè tourkyoulerì ilé. Istambolda 1872 und sogar mehrsprachigen Ausgaben des Asik Garip (Chikiagegi Asik Garip. Tourkyouleràe ilè perapèr Mouáchchären ermenízeten lisáni roumigè poû defà tachsìs ilàn pasälmáestär. Istambolda 1872). Und da des Vergnügens kein Ende war, kann man auch von quasi-makkaronischer Dichtung sprechen (S. 67: mixovarvara), wenn in den türkischen Text von Festliedern die religiösen Standardformulierungen griechisch erscheinen. Etwas Ähnliches ist der türkische Refrain in Liedern der walachischen und albanischen Bevölkerung auf dem Balkan.
An den beiden letzten Tagen in Istanbul las ich – oder nur in? – Saad, Lamec, Sechzehn Jahre als Quarantänearzt in der Türkei. Berlin: Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) 1913 – nach einer Angabe im Internet ein christlicher Palästinenser, der für Cloppenburg optiert hatte. Er erwähnt auf S. 72 im Jahre 1882 aus dem Irak, dass die Juden das Arabische mit Hebräischen Buchstaben schreiben. Anekdotisch netter aber ist, wenn er auf S. 32 berichtet, dass er sich am 30.10.1881 u.a. zusammen mit Ajvazovskij auf dem schlechtest denkbaren Schiff, der russischen „Nachimov“ einschiffte, als der letztere auf dem Wege nach Athen war, um sein Gemälde von Lepanto zu vollenden. Dagegen sind seine Angaben zur armenischen Theatergruppe in Diyabakir am 6.12.1881, die angeblich zum ersten Mal Theater in Diyabakir aufführte, zu vague. Nur mit dem „Gesang aus ‚Madame Angot‘“ lässt sich ein wenig anfangen. Und lesen konnte ich Saad, weil ich zwei Tage lang fast ausschließlich vor einem Ventilator hockte, um meine Körpertemperatur eingermaßen niedrig zu halten, unterbrochen nur durch einen Besuch in dem diskret touristisch aufgemachten Restaurant Asitane nahe der Kariye Camii. Dort aß ich als Hauptgericht 27. Tuffahiye – Elma Dolması (XV. y.y.) (Vejeteryan) Bulgur, kapya biber, kereviz sapı ve soğan ile doldurulup fırınlanmış elma dolması. Zencefilli elma asidesinde pişmiş arpacık soğanla servis edilir und war als einziger von uns uneingeschränkt zufrieden, allein schon deshalb, weil ich so hoffe, die Speisekarte von Jens zu erweitern.

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