Sonntag, 4. April 2010

Erinnerungsfähigkeit

Zwei Bücher vermisse ich – habe ich sie schließlich endgültig verschlungen und verdaut? Das eine ist eine Nachkriegsausgabe des David Copperfield, mit den Illustrationen von Phiz und von mir in den vorderen Einbanddeckel eingeklebt vom Schutzumschlag eine farbige Agnes. Habe ich dieses Exemplar, meinen Nachweis dafür, dass ich mich nach einer Temperatur von Fahrenheit 451 als Autorität für eine fast vollständige deutsche Fassung des David Cop-perfield ausweisen könnte, weil die Spuren immer wiederholter weihnachtlicher Lektüre seit dem Ende der vierziger Jahre des 20. Jhs. unverkennbar waren, nur übersehen, nachdem mir meine Tochter, die in gewissem Maße meine Leidenschaft für D.C. teilt, 2002 wiederum zu einem Weihnachten eine elegantere und besser erhaltene rote Leinenausgabe aus dem Inselverlag Leipzig – Charles Dickens Ausgewählte Romane und Novellen. Erster Band – mit einem Vorwort von Stefan Zweig, ein Exemplar aus dem 19. – 22. Tausend, geschenkt hat? Und doch würde ich damit kaum mit Thomas Babington Macauley mithalten können „that if some cataclysm destroyed all copies of Paradise Lost and Pilgrim’s Progress he could reproduce the texts from memory. In the case of Sir Charles Grandison he was a little more doubtful, but he thought that at a pinch he could probably rewrite that as well”.(So laut Munby, A.N.L., Macauley’s Library. Being the twenty-eighth Lecture on the David Mussray Foundation in the University of Glasgow delivered on 9th March, 1965. Glasgow: Jackson, Son & Company Publishers to the University 1966, S. 8 (Glasgow University Publications. The David Murray Lectures, 28)) Trotz einer gewissen Ferne hat er offensichtlich seine Großnichte 2. Grades beeinflusst. So enthält Appendix A des Buches von Alice Crawford, Paradise pursued: the novels of Rose Macauley auf den Seiten 159-161 „Rose Macauley’s Childhood Reading“, darunter Ann Fraser Tytler, Leila; or, The Island. London: J. Hatchard 1839, welches man heute bei Google Books lesen kann, oder man sucht unter den vielen hundert Angeboten sub Leila und findet neben Musik, Reizwäsche und einer für sehr begrenzte Zwecke verwendungsfähigen Puppe mit diesem Namen zu etwas mehr als 300 € antiquarisch auch einen ? indischen Nachdruck zum Preis von zwischen 13 und 33 €. Genau so wenig kőnnte ich wohl mit Giuliano Bertuccoli konkurrieren, dessen „remarkable erudition in Western Classics, memorizing major works of the European literary heritage from Ovid to Voltaire, Cicero to Goethe” schon fast erschreckend ist (Masini, Federico, in: A Life Journey to the East. Sinological Studies in Memory of Giuliano Bertuccoli (1923-2001), eds. Antronino Forte und Federico Masini. Kyoto: Scuola Italina di Studi sull’Asia Orientale 2002, p. VIII). Oder aber auch meine Mutter, die ganz Westeuropa von ihren Norwegern, Schweden und Dänen über die Deutschen bis zu Ronsard und Musset – weniger die Engländer – poetisch deklamatorisch besetzte.
Auch Die Pickwicker existierten gerade noch in zwei Nachkriegsbänden aus dem Jahre 1948, erschienen in Hamburg im Axel Springer Verlag in der Springer Reihe, auf Grund der im Inselverlag erschienenen Übersetzung von Leo Feld [1869-1924], überarbeitet von Herbert Scheffler und in dem berühmten Druckhaus Girardet & Co. in Hamburg gedruckt. Ich habe diese Bände nie gemocht – oder fehlte nur der kindliche Anreiz? Das Papier war von Anfang an vergilbt, der Umschlag ein dunkles hässliches Braun mit etwas Blau und Weiß. Erstaunlich wenig ist im Internet über die Beteiligten zu erfahren. Die Bände finden sich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek und werden von einigen Antiquaren erschwinglich angeboten, aber das Haptische ist es eigentlich, was bei dieser Ausgabe nicht befriedigend ist.
Ein merkwürdiger Titel ist Erzähler von drüben. Amerikaner – Engländer – Franzosen, her-ausgegeben von Hans B. Wagenseil im Limes-Verlag, Wiesbaden, also in einem dieser spannenden Verlage, deren Programm ich bewusst dann in den fünfziger Jahren wahrnahm. Preis eine Mark. Berlin: Verlag des Druckhauses Tempelhof 1947 in der Buchreihe für Jedermann. 1.-100. Tausend. Von einem Antiquar wird Hans B. Wagenseil auch als Übersetzer von Victoria Sackville-West genannt, aber da hat jemand nicht genau gelesen, da in diesem Falle der Vorname Kurt ist. Er gehörte zu den Prominenten der Gilde der Übersetzer und war auch einer der produktivsten. Rund 150 Bücher hat er seit seinen frühen Zwanzigern ins Deutsche übertragen, Französisches unter anderem von seinen Freunden Jean Cocteau, Andre Gide und Andre Maurois, Englisches von William Somerset Maugham, angeblich von Victoria Sackville-West und Virginia Woolf (aber was? Die älteren Übersetzer sind Herberth und Marlys Herlitschka, denen ich auch den ersten Zugang zu der immer noch geliebten Katherine Mansfield verdanke), aber auch die deutsche Version von George Orwells "1984", 1950 publiziert, stammt von Kurt Wagenseil. Für Rowohlt übersetzte er fast den gesamten Henry Miller, darunter die "Wendekreis"-Romane - ein glorioser Beitrag zur sexuellen Revolution in der Literatur der sechziger Jahre. Kurt Wagenseil starb im Dezember 1988 in seiner Geburtsstadt München. Aber immerhin nicht von ihm stammt die Übersetzung des fraglichen Werkleins Opus pistorum. Obwohl es zeitlich noch hingekommen wäre, waren hier die beiden Damen Andrea Fehringer und Viola Heilmann, aber doch einmal mehr auch der Rowohlt-Verlag am Werk.
Victoria Sackville-West teilte übrigens den Highbrow-Hochmut ihrer Freundin, wenn sie schrieb: „I see Rose Macauley has the sense to like Orlando“ (The Letters of Vita Sackville-West to Virginia Woolf, eds. Louise de Salvo and Mitchell A Leaska. New York: William Morrow and Company, Inc. 1985, S. 294, Brief datiert 7. November 1928). Und so hat mich Hans B. Wagenseil auf vielen Irrwegen durch das Internet geführt und verführt mich zu dem Bekenntnis, dass ich das meiste von Henry Miller kenne, wobei ich die frühen dänischen Übersetzungen der Wendekreis-Romane und von Sexus sogar noch unterschlagen habe. Aber so frühreif war ich mitnichten, sondern ich las später die Erwerbungen meiner Eltern. Von drüben, das war die SBZ, das war die nachfolgende DDR, das war alles jenseits des eisernen Vorhangs, aber nicht jenseits des Atlantiks, des Kanals oder Rheins – oder hatte „drüben“ 1947 immer noch etwas mit Normalität versus deutschem Tun zu tun? Überbrückt wird der Weg nach drüben schon mit der ersten Geschichte von Ambrose Bierce „Es gibt kein Entrinnen“. Der agent provocateur findet sich überall und immer, sein Opfer auch, und nur in den Augen des Siegers ist es keine Schmierentragödie.
Schlimmer ist, dass ich von acht Amerikanern nur drei – doch man kann es sagen – kannte, von sechs Engländern fünf, von vier Franzosen zwei. Eine andere Zeit oder bloße Unwissen-heit meinerseits? Vor einiger Zeit wurden ebenfalls in der FAZ Tagebücher von Jean Giraudoux besprochen, die es sich zu lesen lohne, wenn der Mann auch sonst demodé sei. In meiner Jugend lasen wir ihn und gingen seinetwegen ins Theater. Ich hoffe, das gleiche gilt nicht auch für Jean Cocteau, dessen Filme meine Adoleszenz beeindruckten. Seinetwegen ging ich als Schüler in die Nachtvorstellung des Universum-Kinos auf der Düsseldorfer Berliner Allee. Ich denke, Henry Barbusse kann ich schon einmal gehört haben, bei Marcel Arland rührt sich nichts. Die Engländer sind mehr oder weniger aus einem Stall, und selbst der, den ich nicht kenne hat als Edward Sackville-West einen vertrauten Namen. Mit den Amerikanern stand ich immer ein wenig auf dem Kriegsfuß. Allerdings gefallen mir die Vorbemerkungen von Herrn Wagenseil bei Harry Stillwell Edwards, darunter auch die, dass er ein Amateurschriftsteller gewesen sei. Die Geschichte des Eneas Africanus ist kitschig, aber professionell gebaut. Überdies ist ausgerechnet diese Erzählung unten auf dem von Werner Bürger gestalteten Umschlag prominent zu finden. Auch W. Livingstone Larned wird ähnlich charakterisiert. Hübsch ist die captatio benevolentiae auf der ersten Innenseite: „In der Buchreihe für Jedermann erscheinen Werke, denen der Verlag eine Bedeutung für unsere Zeit beimißt, die große Auflagen rechtfertigt. Die Reihe umfaßt vor allem Klassiker und große Erzähler, Moderne Autoren, Probleme der Gegenwart, Lebensbeschreibungen bedeutender Männer. In der Buchreihe für Jedermann werden wichtige Bücher auch von anderen Verlagen in Gemeinschaft mit dem Verlag des Druckhauses Tempelhof herausgegeben, um somit möglichst viele Leser zu erreichen.“
Vielleicht ist es lediglich das Problem der armen Nachkriegszeit. Ein anderes Bändchen bis Heftchen ist Alfred de Musset, Emmeline. Novelle. Vorwort von Helmut Müller aus der Reihe „Kleinode“ des Siegel-Verlags. Frankfurt A.M. in einem nicht dem Goldenen Schnitt entspre-chenden Format mit dem sich immer wiederholenden Signum des Verlages S/V schwarz auf schmutzig grünem Grund, grün auf schmutzig gelbem. Hilfreicher ist das Impressum: „Die deutsche Übersetzung besorgte Ernst Bluth, geboren am 19.9.[18]93 in Braunschweig [,von dem man weitere Übersetzungen aus dem Französischen unter antiquarischen Angeboten im Internet finden kann], das Vorwort Dr. Helmut Müller, geboren am 21.3.1914 in Berlin. * 1. – 5. Tausend November 1947. Veröffentlicht unter der Zulassung Nr. US-W-2004 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung. Alle Rechte vorbehalten. Siegel-Verlag Otto Müller, Frankfurt a.M. Printed in Germany Druck: Franz Jos. Henrich, Frankfurt am Main – Schwanheim. Umschlaggestaltung: J. Stahlberg“. Und es war vielleicht doch eine anrührende Liebesgeschichte.
Dann taucht ein weiteres Taschenbuch verfasst von George & Helen Papashvily auf mit Illustrationen von Paul Galdone, einem ungarisch-amerikanischen Illustrator, den man hinreichend im Internet findet, Pocket Books, Inc. Rockefeller Center, N.Y. von September 1948 mit einem ungemein spannenden Impressum, das sich nennt „The Printing History of Anything Can Happen: Harper & Brothers edition published January, 1945. 1st Printing October 1944, 2nd Printing December 1944, (3rd to 12th Printing all 1945), 13th January and 14th Printing August 1946, 15th Printing January 1948. Armed Services edition published February 1945, 1st Printing February 1945, 2nd Printing February 1946. Scholastic magazine condensed version published March 1945, Pageant magazine condensed version published October 1945, Best Sellers magazine condensed version published January 1946, Danish edition (Branner, Copenhagen) published, 1946, Italian edition (Frassinelli, Turin) published, 1946, French edition (Edition de Pavois, Paris) published, 1947, Norwegian edition (Steensballe, Oslo) published, 1948. This Pocket Book includes every word contained in the original, higher-priced edition. It is printed from brand-new plates made from completely re¬set, large, clear, easy-to-read type.” Auch der Autor George Papashvily ist hinreichend Internet-notorisch, auch mit der Information, dass seine Rolle in dem Buch mit Jose Ferrer besetzt wurde. Und fast wirkt es wie die Ursuppe des Taschenbuchs mit einem Känguru als Markenzeichen, so dass auf dem Inneren des hinteren Einbanddeckels steht: „‘Gertrude‘ the Kangaroo trade mark appears only on genuine POCKET BOOK editions and is your guarantee of the best of reading.“ Damals reklamierte man: „A gloriously funny book full of joy and laughter“, aber wir lachen ein halbes Jahrhundert später anders. Wer hat dies bei uns zu Hause gelesen? Vielleicht doch alle – oder fast alle, wenn man diese Lektüre damit in Verbindung bringt, dass mein Vater nach dem Kriege einige Monate mit Georgiern als Georgier – danach blieb er sein restliches Leben Gogi – durch Teile von Europa irrte mit einem selbst ausgestellten Ausweis. Von Finn Søeborg haben wir alle mit Vergnügen das Rororo-Bändchen von 1953 Und so was lebt (Sådan er der så meget) gelesen und daraus Schiffe versenken gelernt. Deshalb hatten alle Familienangehörigen auch weniger Spaß an –her går det godt!. København: Rasmus Navers Forlag 1952, das wir in der 2. Auflage vom 10. Oktober 1952, meinem Geburtstag, lasen – da waren dann allerdings auch schon 15.000 Exemplare gedruckt (1. Auflage vom 17. September 1952) gegenüber den damals 37.000 Exemplaren von Sådan er der så meget nach insgesamt elf Auflagen.
Ein anderes Bändchen ist Edgar Jean Bracco, von dem man einen Briefwechsel mit einem Princetonian des Jahres 1929 finden kann, Noe å leve for. Etter et skuespill av Kitty Buhler, Oversatt av H.Chr. Gunnuesen. Oslo: Bladkompaniet 1961 (1958 gab es eine amerikanische Paperback Ausgabe Berkeley Publishing Corp., ein ziemlicher Schmarrn, besonders wenn man den Helden als Victor Mature erkennt. Auch Kitty Buhler erhält ihren gebührenden Platz in Wikipedia, in der Hall of Fame, dem Walhalla des Internets, und keinewegs nur als Frau des Generals Omar N. Bradley.
Im Falle von Kallocain von Karin Boye, schreibt die deutsche Wikipedia, der Roman enthalte keine Zeitangabe, die norwegische Übersetzung trägt allerdings den Untertitel Roman fra år 2000 (Boye, Karin, Kallocain. Roman fra år 2000. Oversatt av Veslemøy Thurmann-Moe. Oslo. Gyldendal Norsk Forlag 1970 (Lanterne 135). Im Impressum heißt es, dass die erste norwegische Übersetzung 1947 in Den gule serie bei Gyldendal erschien), und mancher deutsche Untertitel lautet: Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert. Von Kallocain gibt es eine mir unbekannte schwedische TV-Serie von Hans Abramson aus dem Jahre 1981. Die deutsche Wikipedia sieht in diesem Buch vor allem die Verzweiflung wegen des Nationalsozialismus und Faschismus, die angelsächsische verweist auf ihre Enttäuschung über den real existierenden Kommunismus in der Sowjetunion in den zwanziger Jahren. Und schließlich: Warum ist der Zensor ein Chinese?
Censors efterskrift
I betraktande av det på många sätt omoraliska innehållet i förevarande skrift har Censor-sämbetet beslutat lägga densamma till de farligförklarade manuskripten i Universalstatens Hemliga Arkiv. Att den icke helt och hållet förstörts beror på att just detta omoraliska innehåll av mera pålitliga forskare torde kunna användas som material, då det gäller att klarlägga mentaliteten hos de varelser, som bebo landet intill vårt. Den fånge, som givit upphov till skriften och som alltjämt befinner sig i kemiskt arbete under bevakning - nu med strängare kontroll över vad han använder Statens papper och pennor till - torde i sin hemligt växande illojalitet, sin feghet och sin vidskepelse vara ett gott exempel på den urartning, som är betecknande för hela detta mindervärdiga grannland och som knappast kan förklaras annat än genom en ännu ej utforskad ärftlig och obotlig inre förgiftning, som vår nation gått lyckligt fri från och, om den skulle visa sig smitta över gränsen, obönhörligt skulle upptäckas just genom det medel sagde fånge en gång bidragit till att framställa. Jag uppmanar alltså dem som handha utlåningen av detta manuskript till den allra största försiktighet och dem som läsa den till den noggrannaste kritik samt till den starkaste förtröstan på det långt bättre och lyckligare tillståndet inom Universalstaten.
Hung Paipho Censor.
Und das aus Waste Land stammende Motto passt viel zu gut: „The awful daring and a moment’s surrender/By this and this only we have existed.” Aber ich mochte T.S. Eliot nie, einer der Vorteile des Amateurs. Deswegen möchte ich auch dem Tenor des Bändchens Sie irrten sich, Herr Kritiker. Gesammelt und herausgegeben von Imre Ormay. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1963. 2. Auflage – mit dem exotischen, weil ungarischen Originaltitel Megbukott zenekritikák – nicht zustimmen. Es ist kein Irrtum, sondern übelste angenehme Subjektivität, eine Verwechslung von Verstand mit Geschmack. Ich habe nie mehr als zehn Seiten der Buddenbrooks lesen können, obwohl es seit Jahrzehnten greifbar und nicht zerlesen im Regal steht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen