Samstag, 3. April 2010

heute nur usw.

Offensichtlich muss ich immer noch lernen, denn sonst wäre meine Fußnote mit dem Hinweis, wo ich das Karin Boye-Zitat geklaut habe, nicht einfach verschwunden. Es findet sich http://www.karinboye.se/verk/handskrifter/uppsats-slutet.gif.
Damms Antikvariat in Oslo, so schön, als es noch in Bokhuset in der Eckersbergsgaten war, weckt auch andere Erinnerungen. Ein fast vollständiges Exemplar einer japanischen Ausgabe von 1776 (?) des Sancai tuhui, das Adolf Fonahn gehört hatte. Ich konnte es mir nicht leisten für viele Hefte je zwanzig Kronen zu bezahlen, aber ein halbes Jahr später bekam ich von einem norwegischen Künstler einen Brief, ich könne die restlichen Hefte, die er nicht zu Collagen verarbeitet hatte, käuflich erwerben. Warum nur habe ich mir diesen Sünder nicht gemerkt? Habe ich den Brief noch irgendwo? Und vor kurzem stand ich vor dem Schaufenster – heute morgen wieder – der Buchhandlung Labyrinth auf der Nassau Street in Princeton. Ein Fenster war den „Altered Books“ gewidmet, eingefärbt, auf viele Weisen beschnitten, durch Flügel und andere Paraphernalia ergänzt. Kaum kann man einen so schönen Titel wie den von Carl Bleibtreu anführen, Die Verrohung der Literatur. Ein Beitrag zur Haupt- und Sudermännerei. Berlin: Schall & Rentel 1903, ein Buch, das die Antiquare Löcker und Wögenstein aus der Annagasse in Wien vor Jahren mit der Zustandsbeschreibung „Rücken und Ecken beschädigt, Mäusefraß an den Kanten“ für DM 44,- bzw. 300 ÖS anboten. Ein anderer Verlust ist der Walter Mehrings, Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur. Hamburg: Rowohlt 1952, das ich in der englischsprachigen Ausgabe gelesen habe.
Man könnte glauben, ich hätte den Titel aus einem Katalog der Stuck-Villa, S. 9, geklaut, wo Hubert Göbels „Zer-lesen“ und „Be-bildern“ als Charakteristikum von Kinderbüchern ansieht, die tatsächlich in Kinderhänden gewesen sind. Ich habe es nicht getan, weiß aber nur zu gut, dass alles schon und zumindest ähnlich gesagt ist, allerdings meine ich mit „zerlesen“ die gründliche, auch physische Aneignung eines Textes und habe eine leichte Aversion gegen¬über den großen Leuten entwickelt, „die sich[, so einmal mehr gemäß der Stuck-Villa der Kinderbücher] als Sammler annahmen“. Und dann enden wir bei den Kinderbüchern für Erwachsene, nicht bei den Büchern für alle von sieben bis siebzig, oder bei denen, die mich als Autor allein befriedigen. Oder aber die Bücher selbst sind so schön, dass sie schließlich schulisch verdorben werden. So musste meine Tochter gar nicht einmal ungern, aber doch gegen ihren gesunden Willen Judith Kerr, When Hitler Stole Pink Rabbit. London: Collins 1971 lesen. Schon der Children’s Book Newsletter. Hrsg. Eric Baker und veröffentlicht von Children’s Booknews Ltd. 140 Kensington Church Street, London W. 8 schrieb in seiner Nr. 5 des Jahres 1972: „A deeply moving account, largely autobiographical, of the impact of the coming of the Hitler regime on a prosperous Jewish family living in Berlin as told by nine-year old Anna. Their flight from Berlin to Zurich and from thence to Paris and how they adapted to refugee life in a foreign country are told with great tenderness and natural humour. A wonderful example of a united family’s strength in the face of adversity. Will be enjoyed by 11-14 years-old.” Meine Mutter, idiosynkratisch und in vieler Hinsicht erstaunlich frei, hatte, weil sie Maria Orska noch gesehen hatte, die Theaterkritiken Alfred Kerrs internalisiert und schenkte mir zu Weihnachten 1956 Alfred Kerr. Die Welt im Drama. Hrsg. Gerhard F. Hering. Köln – Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1.-3. Tausend 1954. Und wenn ich jetzt die norwegische Widmung lese, dann finde ich ein weiteres Wort von ihr: „verlies dich nicht!“
Von den sogenannten, allerdings nicht sehr zahlreichen russischen Kinderbüchern im Katalog der Stuck-Villa (Nr. 426) erscheint im pretentiösen Katalog des Wiener Museums für Ange-wandte Kunst von 2004/05 ЖИЛИ БЫЛИ Schili-byli. Russische Kinderbücher 1920 – 1940 Russian Children’s Books. Hrsg. Peter Noever. Wien: Schlebrügge 2004 nur ein einziges – oder auch umgekehrt, nämlich Супрематический сказ про два квадрата. В шести пос-тройках von El Lissitzky. Berlin: Skify [Skythen] 1922 (Konstruiert 1920 in Witebsk), intellektuell wunderbar, aber... (Und jetzt gibt es den Brief, den El Lissitzky im September 1928 aus Hannover an die Geschäftsstelle der Novembergruppe in Berlin schrieb, der für 23.000 Euro auf einer Auktion bei Hauswedell & Nolte in Hamburg an einen privaten deutschen Sammler verkauft wurde, c.f. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Juli 2008, p. 42). Fürwahr auch den Kindern entfremdet dürfte ein Nachdruck als Insel Taschenbuch (1977) von F.G. Normann, Die Thurmuhr. Eine Rechen-Fibel für kleine Kinder in Bildern und Reimen sein, mit einem Nachwort von Heiner Vogel. Druck nach der Erstausgabe von 1841.
Es gibt noch etwas anderes. Neben der Erwachsenenliteratur, die keine ist, sondern für alle Altersstufen geeignet und dann gerne „bearbeitet“ bzw. „verhunzt“ wird, so dass der Titel hinterher lautet (Goethe, W. v., Reineke Fuchs. Für die Jugend bearbeitet., um dann z.B. in die berühmte „Gerlachs Jugendbücherei“ aufgenommen zu werden, oder die endlose Reihe von bearbeiteten, frei bearbeiteten oder halt für die Jugend bearbeiteten Verschnitten von Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte, in meinem Falle frei nach dem Englischen be-arbeitet von Emmy von Feilitzsch und o.J. herausgegeben vom Buch- und Kunstverlag Carl Hirsch, A.-G. Konstanz mit den Besitzvermerken meines jüngsten Onkels Dieter und meiner Schwester Bergljot und stammend zum Preise von Mark 1.20 aus der „Kirchliche Schriften-mission“, Aue/Erzgeb. Kirchstr. 7), – eine andere Ausgabe ist Onkel Toms Hütte. Frei bearbeitet m. 4 farb. Bildern von Ernst Penzoldt. Stuttgart: Thienemanns o.J.; oder: Onkel Tom’s Hütte oder Negerleben in den Sklavenstaaten von Nordamerika, Bearb. M. von Felseneck. Berlin: Weichert um 1900. Und mehr erfahren könnte man aus dem ebenfalls von Harriet Beecher Stowe zusammengestellten A Key to Uncle Tom’s Cabin: Presenting the Original Facts and Documents Upon Which the Story is Founded. 4to. Boston 1853 – gibt es die berühmten Schriftsteller und Dichter, die gele¬gentlich zu den Kindern hinabsteigen. So hat Richard Dehmel,den man bestimmt häufiger, aber eben auch im nicht zerfledderten Soergel auf den Seiten 612 bis 627 findet, Der Buntscheck. Ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge deutscher Kinder. Köln: Schaffstein 1904 herausgegeben, John Galsworthy Der kleine Jon. Berlin – Wien: Um 1930, Ludwig Ganghofer, schrecklich vielleicht, aber doch mit Ernsthaftigkeit für die Freiheit der Kunst, z.B. im Falle Amfiteatrovs, Das Märchen vom Karfunkelstein. Eine wunderliche Geschichte für kleine und große Kinder. Illustriert von Arpad Schmidhammer. Stuttgart – Berlin – Leipzig: Union o. J. verfasst, Gerhart Hauptmann einen Parsival. Mit Bildern von Ferdinand Stoeger. Berlin: Ullstein 1914, Lou Andreas-Salomé, Die Stunde ohne Gott und andere Kindergeschichten. Jena: Diederichs 1922. Erste Ausgabe, oder Erika Mann Stoffel fliegt übers Meer. Bilder und Ausstattung von Richard Hallgarten. Stuttgart: Levy & Müller 3. Aufl. 1932. Ein weiterer Fall ist Michel Tournier, Pierrot oder die Geheimnisse der Nacht. Aus dem Französischen von Helmut Waller. Bindlach: Loewes Verlag 1990, das von Winfred Kaminski, „Der Liebhaber des Mondes“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 4. August 1990 rezensiert wurde, von demselben Der König aus dem Morgenland. Von demselben Übersetzer. München: Carl Hanser 1993. Carl Hanser liebt – oder liebte – die literarischen Kinderbücher: Sofies Welt von Jostein Gaarder (1994), Italo Calvino, Die Wette, wer zuerst wütend wird (1994), Amos Oz, Sumchi (1993), Rafik Schami, Das ist kein Papagei (1994), Issac Bashevis Singer, Der Kaiser von China, der alles auf den Kopf stellte (1993). Auch die Liste solcher Bücher ist lang beim „Deutscher Taschenbuch Verlag“, München (dtv), z.B. im Sommerprogramm 1976 Werner Bergengruen (7206), Otto Julius Bierbaum (7120), Daniel Defoe (7064), Maurice Druon (7053), Peter Hacks (7074), Herbert Heckmann (7086), Rudyard Kipling (7202), Janusy Korczak (7128, 7192), Selma Lagerlöf (7103), André Maurois (7197), L. Pantelejew (7201), Marie Pujmanová (7087), Robert Wolfgang Schnell (7049), Wolfdietrich Schnurre (7070), Robert Louis Stevenson (7081, 7160), John R.R. Tolkien (7151), Mark Twain (7167) und Thomas Valentin (7098). Als Insel Taschenbuch war im Katalog 1. Halbjahr 1977 James Joyce/Jan de Tusch-Lee, Die Katze und der Teufel angezeigt.
Gelegentlich wird in einer Besprechung auch ein Kinderbuch geadelt, indem es als „Stück großer Literatur“ bezeichnet wird „und deshalb für kein Sonderpublikum zurechtgemacht“ ist. So schreibt z.B. Gerd Ueding, in Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. Februar 1980: „Im Keller eines zerbombten Hauses. Eine Chronik vom unmenschlichen Leben nach dem Krieg, einer Rezension von Neumann, Robert, Die Kinder von Wien. Mit einer Einführung von Christine Nöstlinger. Weinheim: Beltz und Gelberg 1979. Oder Leo Leonni wird mit dem Satz zitiert: „Ein gutes Kinderbuch ist auch ein gutes Erwachsenenbuch“, womit er, dem zuzustimmen wäre, Pinocchio meint. Dieses Zitat entstammt Nina Schulenburg, „Kinderbuchmesse in Bologna: Abenteuergeschichten sind wieder gefragt. Babys bevorzugen den Pilz Yok Yok“, in: Die Welt 8. April 1981. Manchmal adelt sich ein Kinderbuchautor selbst und wenn nur mit Texten, die von den Töchtern herausgegeben worden sind. Es ist doch wohl nicht nur das Lob von Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Januar 2010 des Buches Otfried Preußler: „Ich bin ein Geschichtenerzähler“, Hrsg. Susanne Preußler-Bitsch und Regine Stigloher. Stuttgart: Thienemann 2010? Ich habe immer dazu geneigt, deutsche Kinderbücher nicht gut zu finden. Vielleicht war ich schon zu erwachsen, und es schob sich immer das Epigonentum Michael Endes dazwischen. Die kleine Hexe habe ich als Erwachsener ohne tieferes Empfinden gelesen. Wahrscheinlich hätte ich Krabat lesen sollen.
Und dann gibt es noch die berühmten und möchte gern berühmten Frauen und Männer, die ihre Kindheitserinnerungen geschrieben haben, Manfred von Ardenne, Eine glückliche Jugend im Zeichen der Technik. Berlin: Der Kinderbuchverlag o.J., oder: Paul Barsch erzählt aus seiner Kindheit und Jugend. Mit einem Vorwort von Paul Keller. Breslau: Bergstastverlag W.G. Korn, zu dessen 145. Geburtstag Oberschlesien 55.2005:6, S. 5 einen ganz sympathischen Nachruf veröffentlichte. Oder wie steht es mit von Bismarck, Otto, Ernstes und Heiteres aus dem Leben des grossen Kanzlers. Text von R. Hofmann. 40 Farblithographien von Carl Röhling. Berlin: Hofmann 1897. Auch von Jean Paul gibt es Meine Kindheit. München: Rösl 1921 und von Rudolf Borchardt Kindheit und Jugend. Von ihm selbst erzählt. Nachwort von E. Zinn. Hamburg 1966: Als Jahresgabe 1965 für die Mitglieder der Maximilian-Gesellschaft in kleiner Auflage gedruckt, von Broido, V., Russische Kindheit. Wien 1933.
Bücher, die der Lektüre seit Kinderhänden einigermaßen ungeschoren entgangen sind, finden keine Abnehmer bei Antiquaren, die – nicht unwahrscheinlich – damit rechnen, unter dem Ballast nur wenig später vielleicht nicht einmal kostenlos weggekarrten bedruckten Papiers dann zur Belohnung wenigstens einige Trouvaillen zu machen, die den Aufwand lohnen. Meine Frau meint, es seien zu viele Bücher, die ich nie gelesen hätte, fraglos eine Defi-nitionsfrage, denn wo auf der Skala zwischen verschlingen und überfliegen ist lesen anzu-siedeln? Ich erinnere mich an das Chinabuch des Journalisten und Aachener Professors Klaus Mehnert, der – jetzt nur aus nicht überprüfter, längst in anderer Weise zerlesener Erinnerung – auf seiner Reise siebzehn Provinzen sah, von denen er elf bei Nacht überflog. Und so glaube auch ich, dass ich nie ein Buch erwarb, von dem ich nicht wusste warum. Sprache ist allgemein ein geduldig nachsichtig Tier. Am 12. Juli 2008 – und bestimmt häufiger, gab es in der FAZ eine Kleinannonce: „Sigmar Polke „S.H. oder die Liebe zum Stoff“, 2000, Unikat in einer Auflage von 66 Stück“, übrigens drei Spalten entfernt von einer weiteren Kleinanzeige „Aus Nachlass: Orig. Ölgemälde C. Monet m. Provenienz v. 1917, Garten v. Giverny, Maße 98x81, 10 Mio € od. Angebot.“
Daher wohl auch die mühsam nur zu überwindende Hürde: Bücher entsorgt man nicht. Was für ein Wort! Nie wieder Sorgen mit Büchern zu haben. Und so ging ich an den Bücher-brettern im langen Gang zwischen Berliner Zimmer und Schlaftrakt entlang, mit den vier Türen hintereinander, Küche, Bad, Hintertreppe, Mädchenkammer oder Bügelzimmer den Regalen gegenüber und suchte die Bücher heraus, von denen entweder die letzten zwanzig Seiten seit langem fehlten, der Block gebrochen oder zumindest der Rückeneinband abgeris-sen war. Noch weniger schön sind die Stempel in einigen Büchern deutscher Autoren zweiter Ordnung – auch nicht schöner –, die ich zunächst von außen nicht erkannte, so im Falle von Rudolf Hagelstange, Die Puppen in der Puppe. Eine Rußlandreise. München: Droemer Knaur 1970 (Knaur83). Die Stempel seien zitiert. Der erste lange Text besagt: „Gymnasium Steglitz. Freie Lernmittel Nr. 6791/11. Für schuldhaften Verlust oder mutwillige und fahrlässige Beschädigung sind die Unterhaltspflichtigen haftbar und ersatzpflichtig.“ Der kürzere darüber gesetzte Stempel sagt nur mehr: „Ausgesondert und dem Schüler überlassen.“
Es gibt darunter auch Bücher, die nicht zerlesen sind, vielmehr je nach Gesichtspunkt zu Unrecht nie gelesen wurden und der Einsamkeit anheim fielen. Das sind nicht sehr viele, eher solche, die als Geschenk oder als Propaganda ins Haus gekommen sind. Und wenn man zum ersten Mal hineinschaut, ist man unter einem Gesichtspunkt peinlich berührt wie bei dem Buch von Demos Shakarian [1913-1993] mit John & Elizabeth Sherril, Die glücklichsten Menschen auf Erden. Die faszinierende Geschichte eines Mannes, der von sich sagt, er sei berufen zum „Helfer“. Erzhausen: Leuchter Verlag 1976. Shakarian wird als Gründer und Präsident der „Geschäftsleute des vollen Evangeliums“ (Full Gospel Business Men’s Fellowship International) auf dem hinteren Einbanddeckel bezeichnet. Doch wenn man dann darin blättert, denkt man, man könnte es auch lesen, um die armenische Folklore in Kara Kala und das Leben der armenischen Diaspora in den U.S.A. kennenzulernen.

1 Kommentar:

  1. Die englische Kinderbuchhandlung in der Strasse, deren Namen ich vergessen habe zwischen Renée-Sintenis-Platz und Hauptstrasse, feiert diesen Monat den 100. Geburtstag Leo Lionnis (auch wenn er laut Wikipedia erst im Mai geboren wurde)...ich habe die Bücher als Kind geliebt und bin sehr versucht, ein wenig stöbern zu gehen...

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